Was wir künftigen Generationen schulden

Mit unserem Lebensstil betreiben wir Raubbau an der Erde und hinterlassen unseren Nachkommen ernsthafte Probleme: von Umweltschäden über Atommüll bis zum sich erwärmenden Klima. Was bedeutet Generationengerechtigkeit aus Sicht der Ethik?

Text: Kaspar Meuli

In welchem Zustand haben wir die Erde unseren Nachkommen zu überlassen?

Die UNO-Konferenz über Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro war der erste Grossanlass, an dem Umweltfragen in einem globalen Rahmen diskutiert wurden. Inhaltliche Basis war ein unter dem Vorsitz der damaligen norwegischen Premierministerin Gro Harlem Brundtland erarbeiteter Bericht, in dem erstmals das Konzept der «nachhaltigen Entwicklung» formuliert und definiert wurde. Dieses international breit abgestützte Konzept der Nachhaltigkeit hat auch die Schweizer Politik beeinflusst. 

Der Bundesrat definiert es in seiner Ende Juni 2021 verabschiedeten Strategie Nachhaltige Entwicklung 2030 folgendermassen: «Eine nachhaltige Entwicklung ermöglicht die Befriedigung der Grundbedürfnisse aller Menschen und stellt eine gute Lebensqualität sicher, überall auf der Welt sowohl heute wie auch in Zukunft. Sie berücksichtigt die drei Dimensionen — ökologische Verantwortung, gesellschaftliche Solidarität und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit — gleichwertig, ausgewogen und in integrierter Weise und trägt den Belastbarkeitsgrenzen der globalen Ökosysteme Rechnung.»

Bei diesem Konzept der Nachhaltigkeit ergänzen sich zwei zentrale Aspekte: die Erkenntnis, dass der Belastbarkeit der globalen Ökosysteme Grenzen gesetzt sind, sowie die Überzeugung, dass bei der Entwicklung die Befriedigung der Grundbedürfnisse an erster Stelle stehen muss. Dieser Definition liegt eine ethische Orientierung zugrunde. Anstelle einer weitgehenden Verfügungsgewalt über die Zukunft soll eine Zukunftsverantwortung treten, die auf die Gerechtigkeit zwischen den Generationen und den Weltregionen aufbaut.

Ungeborene haben Rechte

Bei einer genaueren, kritischen Betrachtung dieser Idee stellen sich grundlegende Fragen. Zum Beispiel: Haben wir überhaupt eine moralische Verpflichtung gegenüber künftigen Generationen? Oder: Haben künftige Personen Rechte? Etwa ein Recht darauf, dass ihnen zum Zeitpunkt ihrer Existenz bestimmte natürliche Ressourcen zur Verfügung stehen? 

Für die deutsche Philosophieprofessorin Kirsten Meyer steht das ausser Frage. In ihrem Buch «Was schulden wir künftigen Generationen?» schreibt sie: «Für jede Person, die künftig existiert, gilt, dass sie einen Anspruch darauf hat, dass wir ihr den Planeten in einem Zustand hinterlassen, der nicht schlechter ist als der Zustand, in dem sich der Planet ohne unser Zutun befunden hätte.»

Doch von welchem Zeithorizont sprechen wir überhaupt? Was heisst zukünftig? Sind damit alle jetzt noch gar nicht existierenden Generationen bis in eine unbegrenzte Zukunft gemeint? Bei der Lagerung von Atommüll etwa geht man von diesem praktisch unbegrenzten Zeithorizont aus. Unsere «strahlende» Hinterlassenschaft muss laut Gesetz über einen Zeitraum von einer Million Jahre sicher verwahrt werden. 

Antworten auf diese zentralen Fragen liefern aus philosophischer Sicht die ethischen Theorien des Utilitarismus und der Deontologie (siehe Interview S. 8–11). Der Utilitarismus vertritt den Standpunkt, unsere moralische Pflicht bestehe darin, den voraussichtlichen Gesamtnutzen für alle Betroffenen zu maximieren. Damit sind alle Menschen gemeint, die heute und in Zukunft leben und auf die unsere Handlungen voraussichtlich positive oder negative Auswirkungen haben werden. So gesehen tragen wir eine zeitlich unbegrenzte Verantwortung gegenüber künftigen Generationen.

Die Deontologie hingegen postuliert, wir seien nicht verpflichtet, den Gesamtnutzen zu maximieren. Unsere Pflicht bestehe darin, individuelle Rechte zu respektieren, verstanden als gerechtfertigte moralische Ansprüche. Daraus ergeben sich zwei unterschiedliche Standpunkte: Zum einen lässt sich begründen, wir stünden nur gegenüber lebenden Menschen in der Pflicht. Zum anderen lässt sich argumentieren, unsere Pflicht betreffe auch Menschen, die noch gar nicht geboren sind – vorausgesetzt, deren Rechte könnten durch unsere jetzigen Handlungen negativ betroffen sein. Eine mögliche Begründung für diese Ansicht: Solange es Menschen gibt, werden sie Rechte haben.

Und diese Rechte können wir durch unsere jetzigen Handlungen verletzen. Daraus leitet sich die Pflicht ab, diese moralischen Ansprüche zu respektieren. «Von den Verfechtern des deontologischen Standpunkts vertritt die Mehrheit diese zweite Position», erklärt Andreas Bachmann, Berater für ethische Fragen beim BAFU.

Recht auf ein Leben in Luxus?

Wenn wir also tatsächlich eine Verantwortung gegenüber künftigen Generationen haben, stellt sich die Frage, was wir ihnen schulden. In der Ethik gibt es dazu, vereinfacht gesagt, drei Ansätze. Die Minimum-Position: Wir müssen die Welt so hinterlassen, dass künftige Menschen überleben und ihre Grundbedürfnisse befriedigen können. Die mittlere Position: Künftige Generationen sollen «gut genug» leben können. Dazu gilt es, eine Schwelle zu definieren, die festlegt, was für jede und jeden «gut genug» ist. Dieses Leben muss über die Befriedigung der Grundbedürfnisse hinausgehen, aber wesentlich tiefer liegen als eines in Luxus. Und schliesslich die Maximum-Position: Künftige Generationen haben das Recht, genauso gut zu leben wie die Menschen in westlichen Industriegesellschaften oder sogar noch besser. In diese Richtung weist zum Beispiel der «Green Deal» der Europäischen Union (EU), der von der Kommission als «Fahrplan für eine nachhaltige EU-Wirtschaft» propagiert wird. 

«Es ist offensichtlich, dass diese unterschiedlichen Ansätze auch Auswirkungen auf die Frage haben, was wir heute tun müssen, um diesen Pflichten gegenüber künftigen Generationen gerecht zu werden», betont BAFU-Ethiker Andreas Bachmann. «Das betrifft insbesondere die Frage, wie sich Nachhaltigkeitsziele erreichen lassen.» Dazu stehen uns drei Mittel zur Verfügung: eine Effizienzsteigerung durch technische Innovationen, die Realisierung einer Kreislaufwirtschaft und ein suffizienter Lebensstil, das heisst: ein Leben mit einem möglichst geringen Verbrauch an Rohstoffen und Energie. 

Falls die Nachhaltigkeitsziele nicht durch die beiden ersten Optionen erreicht werden können, fragt sich, wie sich ein suffizientes Leben aus ethischer Sicht propagieren lässt. Andreas Bachmann spricht von einer «positiven Konzeption». Nicht der Verzicht solle bei so einem Lebensentwurf im Vordergrund stehen, sondern ein Mehr an Lebenszufriedenheit – nach dem Motto: «Weniger ist mehr.» Wer zum Beispiel weniger konsumorientiert und weniger mobil lebt, hat mehr Zeit für intensive persönliche Beziehungen und lebt genussvoller. 

Philosophische Schwierigkeit

Nun gibt es allerdings bei der Forderung nach einem suffizienten Lebensstil eine, wie sich Andreas Bachmann ausdrückt, «philosophische Schwierigkeit». Zwar mag Suffizienz eine mögliche Konzeption eines guten Lebens sein, aber es gibt eben auch andere Vorstellungen. Warum also sollte ein suffizienter Lebensstil besser sein? «Es ist unmöglich, objektiv zu entscheiden, was ein Leben zu einem guten Leben macht», sagt Andreas Bachmann. «Das ist ein Grund, warum es in einem liberalen Staat dem oder der Einzelnen freigestellt ist, wie er oder sie leben möchte.» In unserer Gesellschaft ist das Selbstbestimmungsrecht von zentraler Bedeutung. Doch es hat Grenzen: Leben, wie wir wollen, dürfen wir nur, sofern wir dadurch niemanden schädigen. 

Unter welchen Umständen aber wäre es gerechtfertigt, dass der Staat den Bürgerinnen und Bürgern einen suffizienten Lebensstil aufzwingt? Andreas Bachmann argumentiert, dass dies nur dann gerechtfertigt sei, wenn die Ziele unbedingt erreicht werden müssten, weil sonst katastrophale Schäden entstehen könnten, die von existenziell bedrohlichem Ausmass wären. Und falls es keine milderen Alternativen zu Verboten und Geboten gebe, um diese Schäden abzuwenden.

Inter- und intragenerationelle Gerechtigkeit

Fragen der Generationengerechtigkeit betreffen sowohl das Verhältnis heutiger und künftiger Generationen (intergenerationelle Gerechtigkeit) wie auch das Verhältnis der unterschiedlichen gegenwärtig lebenden Generationen (intragenerationelle Gerechtigkeit). Was zum Beispiel müssen wir unternehmen, wenn unsere finanziellen Ressourcen nicht ausreichen, um zugleich die Armut zu bekämpfen und das Klima zu schützen? Was ist zu tun, wenn Energie als Folge des Klimaschutzes so teuer wird, dass sich nicht mehr alle Bevölkerungsgruppen Mobilität leisten können? Eine Lösung der Konflikte zwischen den Forderungen von inter- und intragenerationeller Gerechtigkeit können flankierende Umverteilungsmassnahmen sein. So liesse sich etwa sicherstellen, dass es bei der Energiewende keine Verlierer und Verliererinnen gibt. Und: Der Technologietransfer von Industrie- in Entwicklungsländer kann sowohl dem Klimaschutz als auch der Armutsbekämpfung dienen.

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Letzte Änderung 01.12.2021

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