«Meine Natur» mit Mathias Plüss

In jeder Ausgabe von «die umwelt» äussert sich in dieser Kolumne eine Persönlichkeit zum Thema «Meine Natur». Ausgabe 1/2019.

Mathias Plüss
Mathias Plüss (45) ist freier Wissenschaftsjournalist und wohnt in der Region Zofingen (AG). Er hat Physik, Mathematik und Musikwissenschaften studiert und die Ringier-Journalistenschule absolviert. Der Natur widmet er sich manchmal beruflich, häufig aber auch rein privat. Am liebsten ist er in Gegenden unterwegs, wo nicht viele Touristen hingelangen – etwa in entlegenen Gebieten des Juras oder im Entlebuch. Seine vielleicht allerschönsten Naturerlebnisse hatte er bisher im östlichsten Zipfel der Slowakei: eine Region, die noch so aussieht wie die Schweiz vor fünfzig Jahren.
© zVg

Meine prägendste Naturerfahrung machte ich nicht draussen, sondern am Schreibtisch. Vor drei Jahren schrieb ich eine kleine Polemik über den Unsinn des Rasenmähens in Zeiten des Artenschwunds. Obwohl der Artikel nie online gestanden hatte, bekam ich darauf so viele Reaktionen wie nie zuvor: mehr als hundert persönliche Briefe und Mails, ausschliesslich positive. Für einen kurzen Moment glaubte ich, etwas bewirkt zu haben. Bis ich begriff, dass ich doch wieder nur zu den Bekehrten gepredigt hatte. Kein einziger Fall kam mir zu Ohren von jemandem, der das Rasenmähen tatsächlich aufgegeben hätte. Die Vorgärten sehen aus wie ehedem.

Die Trauer über den Niedergang der Vielfalt kompensiere ich mit Naturerlebnissen, die zum Glück noch immer möglich sind. Ich bin viel unterwegs – am liebsten zu Fuss. Ging es früher immer nur darum, die Zeit auf dem Wegweiser zu unterbieten, bin ich mit den Jahren zum überzeugten Langsamwanderer geworden. Blumen, Vögel, Pilze, Käfer, Steine, Wolken: Unentwegt gibt es etwas zu sehen, zu fotografieren, zu bestimmen. Eine Smaragdeidechse, die auf dem Weg stehen bleibt und uns anschaut, als wäre sie ein kleiner Komodowaran. Ein seltener Kiefernsteinpilz, der angeblich besser schmeckt als jeder andere Röhrling. Haareis, das aus einem toten Ast quillt wie die Locken des alten Einstein. Daran werde ich mich bis an mein Lebensende erinnern.

Es muss aber gar nicht immer so spektakulär sein. Auf jedem Waldspaziergang kann Interessantes sehen, wer die Augen offen hat. Neulich habe ich mir die Mühe gemacht, die beiden gelben Blümchen zu bestimmen, die in den Ritzen des Betons unseres Vorplatzes gedeihen: Es handelt sich um das Wiesen-Ferkelkraut und den Kleinköpfigen Pippau. Muss man das wissen? Nein. Aber es verschafft eine eigentümliche Befriedigung, neue Arten kennenzulernen. Vielleicht ist dies das Spezielle an der Auseinandersetzung mit der Natur: Sie bedeutet ein gleichermassen sinnliches wie intellektuelles Erlebnis. Und sie bestätigt eine Erfahrung, die jeder Suchende macht: Je mehr man weiss, desto mehr sieht man.

Für einen schnellen Schuss Glück reicht sogar noch weniger. Ein Weberknecht in der Zimmerecke. Schwalben, die sich auf dem Telefondraht vor dem Fenster aufreihen. Ein paar Minuten unter einem knorrigen, kühlenden Baum. Und damit bin ich nicht allein: Studien haben gezeigt, dass Bäume glücklich machen, Stress lindern, ja sogar die Kriminalitätsrate senken. Wenn schon alle Appelle nichts nützen, so sind es solche Fakten, die mich hoffen lassen, dass die Menschen bei der Zerstörung der Natur vielleicht doch nicht bis zum Äussersten gehen werden.

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Letzte Änderung 28.06.2021

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