«Meine Natur» mit Simone Schmid

In jeder Ausgabe von «die umwelt» äussert sich in dieser Kolumne eine Persönlichkeit zum Thema «Meine Natur». Ausgabe 3/2021.


© zVg

Mein zweijähriger Sohn liebt es, beliebige Gegenstände in die Waschmaschine zu stecken, und kürzlich hat er einen meiner liebsten Einrichtungsgegenstände erwischt: ein kleines Stück Arvenholz, das auf meinem Nachttisch liegt und mich ans Engadin erinnert. Das Resultat war betörend: Das feuchte Holz duftete intensiver denn je, und ich schnüffelte den halben Morgen daran. Bei jedem Atemzug kriegte ich Hühnerhaut, ein Kribbeln im Bauch, und ein paar Sekunden lang war ich einfach nur glücklich. Pinosylvin heisst der Duftstoff der Arve. Er lässt das Herz langsamer schlagen und hilft uns Menschen beim Entspannen und Schlafen.

Ich weiss nicht, wie all die anderen Duftstoffe heissen, die ich so liebe. Gewitterregen auf heissen Steinen. Trocknendes Heu. Blühender Flieder in der Nacht. Meersalz im Wind. Pilze im feuchten Laub. Eine Ahnung von Schnee in der Luft. Das Fell einer Katze. Nasses Holz. Ich kenne ihre chemische Beschreibung nicht. Aber was mich an den Düften so fasziniert, ist, dass sie alle den gleichen Effekt haben: Sie lösen eine seltsame Kombination aus Ekstase und tiefer Ruhe bei mir aus, ein Gefühl von Dankbarkeit, Freude und Geborgenheit. 

Es gibt für mich nur eine Antwort, warum ich derart stark auf Gerüche der Natur reagiere: Ich bin ein Teil von ihr. Ein seltsames Tierchen, das sich in seinem behüteten Alltag nach nichts mehr sehnt, als unter einem Baum zu sitzen, ins Feuer zu starren und den Wind im Gesicht zu spüren. Und gleichzeitig gibt es nichts, wovor ich mich mehr fürchte, als bei jedem Wind und Wetter unter einem Baum sitzen und ins Feuer starren zu müssen. Mein Essen selbst zu jagen. Ein Tier zu sein. Ich weiss, ich würde es wohl schlichtweg nicht überleben. 

Es ist zu einer kleinen Obsession von mir geworden, dass ich in allen möglichen und unmöglichen Lebenslagen an die ersten Menschen denken muss. Wenn die Gewitter über dem Monte Generoso krachen. Wenn ich mit gefrorenen Zehen von einer Biketour zurückkomme. Wenn ich verregnet werde und wenn ich einen Schokoladenkuchen backe: Immer wieder muss ich an sie denken, wie sie damals in ihrer Höhle sassen, Felle abschabten und sich den Arsch abfroren. Ich bin dann unendlich dankbar für mein weiches, warmes Bett. Für meine Badewanne. Für all die vielen Erfindungen, Abenteuer und Entdeckungen, die es möglich machten, dass ich heute einen Schokoladenkuchen essen kann.

Ich verzehre mich nach der Natur und kann doch nicht wirklich zu ihr zurück. Darum schnüffle ich an Holzstücken, die mein Sohn gewaschen hat, und finde: Der Homo sapiens ist ein verdammt widersprüchliches Tier. 

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Letzte Änderung 01.12.2021

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