17.05.2017 - Bund und Kantone haben in den letzten Jahren Tier- und Pflanzenarten identifiziert, die vorrangig erhalten und gefördert werden sollen. Der Schutz ihres Lebensraums gilt dabei als wichtigste Massnahme. Für manche Arten reicht dies aber nicht aus, denn sie haben ganz spezifische Ansprüche an ihre Umwelt, denen die moderne Kulturlandschaft nicht mehr gerecht werden kann. Ein Dossier zum Tag der Biodiversität.
Text: Gregor Klaus

© Eberhard Pfeuffer
Es gibt Tier- und Pflanzenarten mit scheinbar unfassbaren Ansprüchen. Zu ihnen gehört etwa der Gelbringfalter: Er ist auf Waldstandorte angewiesen, an denen fast keine Bäume wachsen. In den Wiesen zwischen den Stämmen braucht er ausgewählte Grasarten, die den Raupen als Futterpflanzen dienen. Die Vegetation am Boden benötigt Pflege. Wird aber vor September gemäht, so verenden die Raupen, und die Population erlischt. Andererseits muss die Wiese mindestens alle zwei Jahre gemäht werden, weil der Wald sonst die offenen Flächen zurückerobert. Als wäre das nicht genug, fliegt der Schmetterling nicht gerne über offene Gebiete. Deshalb muss der lichte Wald labyrinthartig mit Gebüschen durchzogen sein, die regel- mässig zurückgestutzt werden sollten.
Erstaunlicherweise gibt es diesen Lebensraum tatsächlich. Im Nordwestschweizer Jura nutzten die Kleinbauern traditionellerweise viele wechselfeuchte Tonböden als Wiesen zur Gewinnung von Streu für die Ställe oder als Weiden. Die Einzelbäume lieferten ihnen Bau- und Brennholz. Im Zuge der Strohimporte und der intensiveren Landbewirtschaftung verschwanden diese artenreichen Lebensräume jedoch nach und nach. Übrig geblieben sind lediglich kleine und verstreute Restflächen. Doch der Gelbringfalter kommt nur noch in den wenigsten vor. Im Kanton Aargau war lange Zeit lediglich ein einziger Standort bekannt. Dem hübschen Augenfalter mit den gehobenen Ansprüchen reicht der Schutz des Lebensraums alleine offenbar nicht aus.
Lebensräume erhalten und schaffen
Aargau hat den Gelbringfalter deshalb zu einer prioritären Art erklärt und für ihn einen Aktionsplan mit Massnahmen zur Erhaltung und Förderung entworfen. Eine systematische Suche nach weiteren Vorkommen des Schmetterlings brachte 5 weitere Standorte zutage, an denen noch wenige Individuen leben. «Das ist immer noch zu wenig, um das Überleben der Art bei uns langfristig zu sichern», erklärt Isabelle Flöss von der Sektion Natur und Landschaft des Kantons Aargau.
An einem Jurahang nördlich von Aarau zeigt die Biologin, wie die Umsetzung des Aktionsplans im Feld funktioniert. Als eines der 6 Kerngebiete des Gelbringfalters wurde der Standort Chäferegg so aufgewertet, dass er den Bedürfnissen des Schmetterlings entspricht. Wir bewegen uns durch ein Mosaik aus Einzelbäumen, Gebüschen, Hecken und bunt blühenden Wiesen. «Im Saumbereich der Gebüsche ist das Mikroklima für die Raupen optimal», erklärt Isabelle Flöss. Versteckt in den angrenzenden Büschen hängen die Puppen, die im Juni schlüpfen. «Mehr als 15 fliegende Individuen wird man aber auch im Sommer nicht sehen.» Ausgehend vom Gebiet Chäferegg wurden angrenzende Waldränder so aufgelichtet, dass sie dem Falter als Vernetzungsachsen dienen können, um benachbarte, ebenfalls geeignete Lebensräume wieder zu besiedeln.
Die Umsetzung des Aktionsplans für den Gelbringfalter ist das Resultat einer erfolgreichen Zusammenarbeit verschiedener Programme und Projekte, unterstreicht Simon Egger, Chef der Sektion Natur und Landschaft des Kantons Aargau. So hat der Jurapark Aargau die Förderung des Gelbringfalters zu einem wichtigen Ziel erklärt und die Erstaufwertung der Lebensräume finanziert. Die kantonale Abteilung Wald pflegt die Lebensräume im Rahmen des Naturschutzprogramms Wald. Die Koordination des Aktionsplans sowie die Erfolgskontrolle übernimmt die Sektion Natur und Landschaft im Rahmen des Programms «Natur 2020». Der Bund als Auftraggeber für den Vollzug der Natur- und Heimatschutzgesetzgebung beteiligt sich auf der Grundlage des Nationalen Finanzausgleichs (NFA) an diesen Programmen. «Die von der öffentlichen Hand finanzierten Anstrengungen sind also optimal aufeinander abgestimmt», betont Simon Egger.
Aktionspläne gegen das Artensterben
Der Gelbringfalter ist nicht die einzige Art, die im Kanton Aargau spezielle Zuwendung erhält: «Zurzeit setzen wir für 22 Arten Aktionspläne um», sagt Isabelle Flöss. «In den nächsten Jahren sollen 23 weitere dazukommen». Doch wer entscheidet, welche Arten privilegiert behandelt werden? Immerhin gelten nach Angaben der nationalen Roten Listen über ein Drittel der einheimischen Tier-, Pflanzen-, Moos- und Flechtenarten als bedroht, weil sie in den letzten Jahren und Jahrzehnten starke Populations- und Bestandsverluste erlitten haben.
Im Kanton Aargau hat Isabelle Flöss angesichts der überwältigenden Herausforderung im Jahr 2007 damit begonnen, systematisch Pflanzen- und Tierarten zu identifizieren, die spezielle Zuwendung benötigen. Sie hat dabei ein bestehendes Bewertungsverfahren aus dem Kanton Zürich übernommen und auf die Bedürfnisse des Kantons Aargau abgestimmt.
Um eine subjektive Auswahl von attraktiven Arten zu verhindern, wurden Fachleute beauftragt, zunächst anhand eines Kriterienkatalogs für jede einzelne bekannte Art abzuschätzen, welche Verantwortung der Kanton Aargau in der Schweiz für ihre Erhaltung trägt. In einem zweiten Schritt haben die Experten ermittelt, in welchem Zustand sich die Populationen dieser sogenannten Verantwortungsarten befinden und wie dringend Massnahmen zu ihrer Erhaltung sind. Für die so erstellte Liste mit «Prioritären Arten» beurteilte man anschliessend die Erfolgsaussichten und Kosten von Massnahmen. Ist das Verhältnis von Aufwand und Ertrag akzeptabel, so erfolgt die Einstufung als Handlungsart. Benötigt eine dieser Arten bestimmte Massnahmen, die nicht über den Lebensraumschutz abgedeckt sind, wird ein Aktionsplan ausgearbeitet.
Von den 7 bearbeiteten Tiergruppen sowie den Farn- und Blütenpflanzen erfüllen fast 50 Arten im Kanton diese Kriterien. «Bisher fühlte sich niemand dafür verantwortlich», erklärt Isabelle Flöss. Neben dem Gelbringfalter gibt es auch für den zur Familie der Orchideen zählenden Frauenschuh einen Aktionsplan. Die wenigen verbliebenen Wuchsorte dieser stark gefährdeten Pflanze befinden sich fast alle ausserhalb von Schutzgebieten. Oft handelt es sich um Standorte, die ansonsten naturkundlich wenig interessant sind. Für die Erhaltung der letzten Vorkommen ergreift die Naturschutzbehörde – gemeinsam mit der Abteilung Wald und den lokalen Forstfachleuten – deshalb spezifische, auf die Art zugeschnittene Massnahmen.
National Prioritäre Arten
Ausgehend vom Ziel, bedrohte Tiere und Pflanzen mit dem grössten Handlungsbedarf zu identifizieren, hat das BAFU 2011 erstmals eine Liste der «National Prioritären Arten» (NPA) publiziert. Die Einstufung erfolgte anhand des Gefährdungsgrads und der internationalen Verantwortung. «Dies erlaubt einen effizienten Einsatz der für den Artenschutz verfügbaren Ressourcen und eine bessere Koordination der Arbeiten auf kantonaler Ebene und in den verschiedenen Sektoralpolitiken», erklärt Sarah Pearson, Chefin der BAFU-Sektion Arten und Lebensräume. «Die Liste ergänzt die nationalen Roten Listen und erweitert das Instrumentarium im Bereich der Artenförderung.»
Noch diesen Sommer wird die aktualisierte NPA-Liste erscheinen. Sie wird zudem um die Liste der National Prioritären Lebensräume ergänzt. «Die zusätzlichen Angaben über den Massnahmenbedarf erlauben es, gezielt bei Arten und Lebensräumen anzusetzen, bei denen der grösste Handlungsbedarf besteht», sagt Sarah Pearson. «Das BAFU erhofft sich von diesen Unterlagen einen wegweisenden Beitrag zur Erhaltung gefährdeter Arten und Lebensräumen sowie der Ökosystemleistungen, von denen wir täglich profitieren.» Die digitale Version der Liste, welche schon bald auf der BAFU Website bezogen werden kann, enthält zusätzliche umsetzungsrelevante Informationen wie beispielsweise Angaben zur Verbreitung der Arten in den Kantonen.

© Klaus Theiler
Für 22 Prozent der NPA besteht ein klarer Massnahmenbedarf im Sinne von Förderungsprogrammen für bestimmte Arten oder Biotope, welche diesen als Lebensraum dienen. Aus dem Artenpool hat das BAFU spezifische Listen für alle Kantone zusammengestellt, die deren Verantwortung verdeutlichen. Im Rahmen des NFA können die Kantone mit dem BAFU abgeltungsberechtigte Leistungen zum Schutz solcher Arten vereinbaren
Bei einem Vergleich der kantonalen Liste mit derjenigen des BAFU konnte Isabelle Flöss zufrieden eine grosse Übereinstimmung feststellen. Für die Aktionspläne der noch nicht behandelten Artengruppen – wie Moose, Flechten und Armleuchteralgen – bildet die BAFU-Liste in Zukunft die Grundlage.
Keine Art wird fallen gelassen
Es bleibt die Frage, in welchen Gegenden Arten wie der Gelbringfalter oder der Frauenschuh in der Naturlandschaft überlebt haben, wo sie doch heute existenziell auf das bewusste Eingreifen des Menschen angewiesen sind. «Mitteleuropa ist keineswegs flächendeckend mit dichtem Wald bedeckt gewesen», sagt Sarah Pearson. «Umstürzende Urwaldbäume und Stürme haben Lichtungen geschlagen, und auch die grossen Pflanzenfresser wie Auerochse, Wisent und Wildpferd dürften die Vegetation entscheidend beeinflusst haben. Vielerorts existierte eine parkähnliche Weidelandschaft.»
Der aus heutiger Sicht ungewöhnliche Lebensraum des Gelbringfalters, den die traditionelle Kulturlandschaft weiterhin gewährleistet hat, erscheint somit gar nicht mehr so speziell. Ob die Art damit einfach in der falschen Zeit lebt und keine Daseinsberechtigung mehr hat? «Der Mensch hat die natürliche Dynamik in der Landschaft sehr stark abgeschwächt, was vielen Arten Probleme bereitet», stellt Sarah Pearson fest. «Welche Bedeutung eine Art für ein funktionierendes Ökosystem hat, wissen wir in den meisten Fällen nicht. Es liegt deshalb in unserer Verantwortung, alles zu unternehmen, um akut bedrohte Arten wie den Gelbringfalter vor dem Aussterben zu schützen.»
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Letzte Änderung 17.05.2017