Der Appetit auf Raum zum Wohnen und Wirtschaften scheint unstillbar. Die besiedelte Fläche hat in der Schweiz in den vergangenen Jahrzehnten viel stärker zugenommen als das Bevölkerungswachstum. Mit weitreichenden Folgen, denn ein überbauter Boden kann seine diversen ökologischen Leistungen nicht mehr erbringen.
Text: Kaspar Meuli

Wie viel Kulturland geht verloren? Ein Fussballfeld pro Tag? Fünf oder gar fünfzehn? Eine Antwort liefert das Bundesamt für Statistik: Zwischen 1985 und 2009 ist die Siedlungsfläche um 584 Quadratkilometer gewachsen. Dies entspricht der Grösse des Genfersees.
Dass die Schweiz in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr zugebaut wurde, ist bekannt. Aufhorchen lässt hingegen der Befund, dass sich diese Entwicklung allen Anstrengungen zum Trotz nicht aufhalten lässt. Gemäss dem im Mai 2017 abgeschlossenen Projekt «Zersiedelung» im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms «Nachhaltige Nutzung der Ressource Boden» (NFP 68) wird der Trend zu mehr Bodenverbrauch voraussichtlich bis Mitte dieses Jahrhunderts anhalten, wenn auch abgeschwächt. Ohne Gegenmassnahmen könnte das Siedlungswachstum im Extremfall einen Verlust an landwirtschaftlichen Nutzflächen von bis zu 15 Prozent bewirken. Betroffen davon seien vor allem die wertvollsten Landwirtschaftsböden.
Bodenleistungen nicht genug bekannt
Viel weniger zu reden als der Flächenverlust gibt in der Öffentlichkeit die Tatsache, dass mit dem Boden weit mehr verschwindet als Äcker und Weiden. «Wenn in der Politik über die Bedeutung des Bodens für unser Land diskutiert wird, steht der Kulturlandschutz oder die Ernährungssicherheit im Vordergrund», sagt Ruedi Stähli von der BAFU-Sektion Boden. «Die vielen anderen wichtigen Leistungen, die er erbringt, werden oft gar nicht wahrgenommen.» Ein weiteres von der Bevölkerung unterschätztes Problem: Wohnhäuser, Schulanlagen oder Sporthallen leisten zwar einen wichtigen Beitrag für die Gesellschaft, gleichzeitig hindern sie den Boden daran, seine natürlichen Funktionen zu erfüllen, denn diese Flächen sind versiegelt. Auf geteerten Parkplätzen etwa versickert das Regenwasser nicht mehr im Boden, sondern fliesst in die Kanalisation. Dies unterbindet zwei wichtige Mechanismen: Das Erdreich kann das Wasser nicht mehr filtern, damit sich dieses später unter anderem bedenkenlos als Trinkwasser nutzen lässt. Und der Boden wirkt auch nicht mehr als Schwamm, der bei starken Niederschlägen viel Wasser zurückzuhalten und so Hochwasser zu verhindern vermag.
Dies sind nur zwei von zahlreichen ökologischen Bodenfunktionen, welche durch die Versiegelung beeinträchtigt werden. Und diese hat besorgniserregende Ausmasse angenommen. Bei über 60 Prozent der für Siedlungszwecke genutzten Flächen handelt es sich um versiegelte Böden. Im Mittelland sind, wie sich aus dem Monitoringprogramm «Landschaftsbeobachtung Schweiz» des BAFU jüngst ergeben hat, bereits 10 Prozent der gesamten Landfläche versiegelt.
Unermesslicher Artenreichtum
Was dabei besonders schwer wiegt: Die natürlichen Funktionsmechanismen des Bodens sind unwiederbringlich geschädigt. Die wertvolle Humusschicht ist in vielen Gebieten der Schweiz seit der letzten Eiszeit in einem mehrere Tausend Jahre währenden Prozess entstanden. Der Boden stellt einen Lebensraum von gigantischen Dimensionen dar. In einer Handvoll Erde tummeln sich mehr Lebewesen als Menschen auf der Welt – von Regenwürmern bis zu Mikroorganismen. In einem Gramm Boden konnten bis zu 50 000 Bakterienarten und 200 Meter Pilzfäden nachgewiesen werden. Sie zerlegen die alten Pflanzenreste wieder in ihre Grundbausteine und machen sie für die neuen Pflanzen als Nährstoffe verfügbar. Gerade auch deshalb bildet der Boden die Grundlage unserer Lebensmittelproduktion – die wohl bekannteste seiner Funktionen.
Doch dieser Hort der Vielfalt ist bedroht – weil Bodenfunktionen beeinträchtigt werden und der Boden belastet ist. Die intensive Landwirtschaft hinterlässt Spuren. So können Mineraldünger und Pflanzenschutzmittel Bodenfunktionen erheblich schädigen. Ein Überangebot an Stickstoff etwa führt zu einer Abnahme der Biodiversität, indem empfindliche durch nährstoffliebende Arten verdrängt werden, was die Zusammensetzung der Pflanzengemeinschaft einengt. Diesen Zusammenhang leuchtet der Bericht aus, der in Erfüllung des Postulats Bertschy «Natürliche Lebensgrundlagen und ressourceneffiziente Produktion. Aktualisierung der Ziele» verfasst wurde.
Angesichts der Tatsache, dass die Schweiz mit ihrem Boden wenig sorgsam umgeht, arbeiten das BAFU und andere Bundesämter gemeinsam an einer nationalen Bodenstrategie. Ruedi Stähli erklärt: «Ins Zentrum möchten wir dabei die vielfältigen Funktionen des Bodens stellen.» Mit klaren Prioritäten will man seiner Zerstörung Gegensteuer geben. An oberster Stelle steht die Reduktion seines Verbrauchs. Wo sich der Verbrauch nicht vermeiden lässt, sollte er auf die Bodenqualität abgestimmt werden; ausserdem gilt es, bei Nutzungen den Boden vor schädlichen Einflüssen zu schützen und degradierte Böden wiederherzustellen.
Boden hilft das Klima schützen
Eine weitere Aufgabe des Bodens ist es, Kreisläufe zu regulieren und Stoffe zu speichern. Mit Blick auf den Klimawandel besonders relevant ist seine Funktion als CO2-Speicher. Wie viel Kohlenstoff er speichern kann, hängt allerdings stark von seiner Bewirtschaftung ab. So werden beim Abbau von Humus grosse Mengen CO2 freigesetzt. Dies geschieht zum Beispiel, wenn Ackerböden bewirtschaftet oder Moore trockengelegt werden.
Der Klimawandel hat das Interesse an einer zusätzlichen Funktion, die der Boden garantieren kann, geweckt: Er wirkt sich kühlend auf das Mikroklima in Städten aus, denn wenn Bodenfeuchtigkeit verdunstet, senkt sich die Temperatur spürbar. In Hamburg etwa wurde deshalb das Verdunstungspotenzial unterschiedlicher Böden in der Stadt erhoben. Die Absicht dahinter ist klar – nicht versiegelte Flächen mit «hoher Relevanz für das Stadtklima» sollen auch künftig unverbaut bleiben.
Landschaften sind wichtig für unsere Identität
Wenn die Bevölkerung wächst und die Menschen in den Städten dichter zusammenrücken, gewinnt noch eine Aufgabe des Bodens an Relevanz. Ohne ihn gäbe es nämlich keine Kulturlandschaften. Qualitativ hochstehende Landschaften aber sind für unser Leben in vielerlei Hinsicht «von zentraler Bedeutung», wie Matthias Stremlow, Sektionschef Ländlicher Raum des BAFU, betont. Er nennt dabei Aspekte wie «Identität» sowie «räumlich emotionale Bindung» und spricht vom «Megatrend der Regionalität». Ausserdem stellt für die Schweiz die attraktive Umgebung nicht nur das grösste touristische Kapital dar. Denn wie eine Studie von Avenir Suisse zeigt, ist die landschaftliche Vielfalt auch ein wichtiges Argument, wenn Unternehmen oder Hochschulen international umworbenen Spitzenkräften das Leben in der Schweiz schmackhaft machen wollen.
Den Wandel gestalten
Indem der Boden die im Lauf der Zeit entstandenen Landschaften trägt, erbringt er zugleich eine kulturelle Leistung. Diese reicht gar Jahrtausende zurück: Über die Bestattungsrituale in der Bronzezeit, die Städte der Römer oder das mittelalterliche Strassennetz wissen wir nicht zuletzt deshalb Bescheid, weil Zeugnisse aus diesen Epochen im Boden erhal-ten blieben und dieser somit als Archiv unserer Vergangenheit dient.
Am Boden lässt sich demnach ablesen, wie wir leben und den Raum nutzen – und wie sich folglich auch Landschaft verändert. «Diesen Wandel müssen wir gestalten», fordert Matthias Stremlow. Ist die Landschaft auch in Siedlungsgebieten abwechslungsreich, wirkt sie sich positiv auf die Lebensqualität der Menschen aus. Eine banale Rasenfläche etwa reicht dazu nicht. Landschaft, so Stremlow, soll auch im dicht besiedelten Gebiet zu Erkundungen anregen und Orientierung ermöglichen.
Der Boden erfüllt also eine unglaubliche Vielfalt an Aufgaben. Umso mehr gilt es, diese wertvolle Ressource zu schützen.
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Letzte Änderung 29.11.2017