Bequemlichkeit überwinden: «Bitte stupsen!»

Eigentlich ist uns meistens klar, was wir tun und lassen sollten, um nachhaltiger zu leben. Doch allzu oft steht unser Handeln nicht mit dem Wissen in Einklang. Die Verhaltensökonomie kann helfen, diese Kluft zu überwinden.

Text: Lucienne Rey

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Zuweilen gelangten bewährte ökonomische Prinzipien auch in Wirtschaftssystemen zum Einsatz, die untergegangen sind. So kannte die Deutsche Demokratische Republik die Kategorie der «Bückware» – gemäss DDR-Lexikon «ein umgangssprachlich-satirischer Ausdruck für Waren, für die man sich bücken musste, um sie aufzuheben». Es handelte sich um Güter, die knapp waren oder als ideologisch bedenklich galten.

Indem eine Ware äusserst zurückhaltend ins Sortiment eingeordnet wurde, sollte die Nachfrage begrenzt werden oder gar nicht erst aufkommen. Die deutsche Planwirtschaft folgte damit einem Leitsatz, wie er von der Verhaltensökonomie empfohlen wird – wenngleich in der umgekehrten Richtung. Denn heute geht es eher darum, bei den Menschen besonders gesunde, umweltschonende (kurz: nachhaltige) Produkte und Handlungsweisen beliebt zu machen.

Alltag auf Autopilot

Die Modelle der klassischen Volkswirtschaftslehre gehen vom «homo oeconomicus» aus. Dieser reagiert auf Preissignale, lässt sich also nicht zu emotionalen Spontankäufen hinreissen. Er hat zudem den vollen Durchblick bei Vor- und Nachteilen des Produkts sowie Alternativen.

Doch der «homo oeconomicus» bildet die Realität nur unzureichend ab. Im Jahr 2017 war diese Einsicht immerhin den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften wert. Richard H. Thaler, Professor an der Universität Chicago, erhielt die Auszeichnung für seinen Beitrag zur Verhaltensökonomie. Er wies nach, dass wir insbesondere im Alltag meistens nicht rational, sondern aus dem Bauch heraus handeln: rasch, spontan und wenig überlegt. Hannah Scheuthle von der Sektion Umweltbeobachtung des BAFU weiss um die Folgen unseres «Autopiloten»: «Unsere Bequemlichkeit setzt sich oft durch, zudem neigen wir dazu, am Bestehenden festzuhalten und die kurzfristigen Auswirkungen stärker zu gewichten als die in fernerer Zukunft liegenden Folgen.» Auch dem Gruppendruck geben wir gerne nach – selbst wenn er von Fehlurteilen geleitet wird.

Nützliche Bequemlichkeit

Gemäss Professor Thaler lässt sich dieses automatische System zum allseitigen Vorteil nutzen, etwa, um uns zu einer gesünderen Lebensweise anzuhalten, aber auch zum Schutz der Umwelt. Wenn Verhältnisse so gestaltet werden, dass sie unser spontanes Tun in die erwünschte und auch für die Handelnden positive Richtung lenken, nennt das die Fachwelt «Nudging», zu Deutsch: einen Anstoss geben, stupsen.

So kommt beispielsweise unsere Bequemlichkeit dem Entscheidungsarchitekten zupass – so nennt Thaler Personen, die die Umstände gestalten, in denen wir eine Wahl zu treffen haben. Entscheidungsarchitekten sind beispielsweise Elektrizitätswerke, die ihrer Kundschaft verschiedene Stromkategorien anbieten. Mehrere Schweizer Stadtwerke haben die Voreinstellung (Default) auf einen «grünen» Strommix festgelegt, der aus einem grösseren Teil an Ökostrom besteht, dafür aber etwas teurer ist. Wer günstigeren – und weniger umweltfreundlichen – Strom beziehen möchte, kann dies tun, muss aber die Voreinstellung ändern. Kundinnen und Kunden werden also in Richtung der ökologischen Option gestupst. Die Wirkung ist nicht zu unterschätzen: Zwischen 70 und 85 Prozent der Haushalte lassen den Default-Wert unverändert.

Am Gängelband des Guten?

Die Bestrebungen, das Verhalten der Bevölkerung sachte in eine bestimmte Richtung zu lenken, ohne dafür klassische direktive Regulierungen einzusetzen, rufen indes auch Kritik hervor. Intransparent, manipulativ und bevormundend seien solche Stupser, wird moniert.

Hannah Scheuthle schliesst sich der negativen Beurteilung nicht an. «In der Regel ist die Akzeptanz für ‹Stupser› hoch, wenn das Ziel demokratisch und humanitär legitimiert ist und das Vorgehen transparent kommuniziert wird», ist sie überzeugt. «Zudem bleibt immer die Wahl, sich anders zu entscheiden. Die Menschen, die unter den von uns verursachten Umweltproblemen leiden, haben keine Wahl.»

Es gehört zu den grundlegenden Eigenschaften von Nudging, keine Verbote oder monetären ­Anreize einzusetzen. Das Menü für Fleisch wird also nicht teurer oder gar gestrichen, sondern Obst und Gemüse werden in der Kantine besonders ­appetitlich und an strategisch günstiger Stelle präsentiert.

Viel Kleines summiert sich

Hannah Scheuthle kennt zahlreiche weitere Beispiele für umweltfreundliches Nudging: Wird in einem Hotel darauf hingewiesen, dass 90 Prozent der Gäste ihre Badetücher mehrmals verwenden, bestärkt das neu Eingetroffene, sich der Mehrheit anzuschliessen. Smarte Messgeräte, die Strom- und Wasserverbrauch erheben und dabei auch die mittleren Verbrauchswerte im Wohnquartier anzeigen, können den Ehrgeiz der Nutzenden wecken, die Ressourcen sparsamer zu verwenden als der Durchschnitt – umso mehr, wenn ein spielerisches Element hinzukommt und ein Smiley die Anstrengungen belohnt.

Freilich vermag Nudging allein die drängenden Umweltprobleme nicht zu lösen. «Je weniger uns eine Sache bedeutet, desto empfänglicher sind wir für Nudging», weiss Hannah Scheuthle. Den ideal platzierten Abfalleimer zu nutzen, statt den Einwegbecher auf den Boden fallen zu lassen, erfordert weder Anstrengung noch Opfer. Aber jemand, der sich auf seinen Urlaub in Übersee freut, wird sich kaum zum Verzicht auf seinen Flug in die USA stupsen lassen. Ein weiterer Nachteil aus Sicht der Fachfrau: Nudging ist auf kurzfristige Verhaltensänderungen angelegt. Sobald die entsprechende Präsentation, Hinweistafel oder Animation fehlt, entfällt auch der Stups. Wer also auf einen länger anhaltenden Effekt abzielt, kommt um Sensibilisierung nicht herum.

Sensibilisierung hält länger

Auf Sensibilisierung setzt das Jugendprojekt «Step into Action». Ins Leben gerufen wurde es von Euforia, einer in Genf und Bern ansässigen Nichtregierungsorganisation (NGO), die nach eigenem Bekunden engagierte Menschen dabei unterstützen will, «aus der Welt einen besseren Ort zu machen».

Schülerinnen und Schüler zwischen 15 und 19 Jahren, die an «Step into Action» teilnehmen, diskutieren in einem ersten Schritt mit Freiwilligen über eine Reihe von globalen Problemen, die ihnen besonders unter den Nägeln brennen. Im anschliessenden Lernparcours erfahren die Jugendlichen, inwiefern ihr Alltag zur weltweiten Problemlage in Beziehung steht und welche Möglichkeiten es gibt, um selbst zur Lösung beizutragen. Dabei werden sie von weiteren NGOs unterstützt, die teilweise Einsatzmöglichkeiten vorschlagen – zum Beispiel Agriviva, die Arbeitseinsätze auf Bauernhöfen anbietet. Einige der Jugendlichen finden sogar zusammen, um eigene Projekte ins Leben zu rufen. Während eines Anlasses in Genf im Jahr 2016 etwa wurde «my green trip» gegründet, eine Gemeinschaft von Reiselustigen, die gerne besonders naturnahe Destinationen aufsuchen – und diese dabei vom Abfall befreien, den ihre Vorgänger hinterlassen haben.

Den Auswertungen von «Step into Action» zufolge verhalten sich zwei Drittel der Teilnehmenden nach dem Event nachhaltiger als vorher, und 10 Prozent, die zuvor nirgends aktiv waren, engagieren sich nun erstmals. Das Beispiel zeigt, dass nebst dem guten Gefühl, sich in einer Gemeinschaft erfolgreich mit etwas auseinanderzusetzen, auch der soziale Druck, der auf unseren Auto­piloten einwirkt, bei der Sensibilisierung hilft: «Das Verhalten der Gruppe beeinflusst unser eigenes Tun», bestätigt Hannah Scheuthle. «Wenn wir uns als Einzige einschränken, aber trotzdem die negativen Folgen der Umweltsünden anderer tragen, kommen wir uns blöd vor.» Doch auch in die andere Richtung wirkt die Gruppe: Jugendliche, die gemeinsam aktiv werden und sehen, dass sich dadurch ihr Einsatz verstärkt, bleiben ihrem Projekt mit mehr Ausdauer verbunden. «Die Umweltproblematik ist so gravierend, dass wir sowohl Nudging als auch Sensibilisierung einsetzen müssen, um nachhaltiges Handeln zu stärken», erklärt die BAFU-Fachfrau.

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Letzte Änderung 04.03.2020

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