Wichtiger Paradigmenwechsel: «Die Welt soll 2030 dank den SDGs eine bessere sein»

Ein Gespräch mit Franz Perrez, Umweltbotschafter der Schweiz, über die Umweltdimension in den Sustainable Development Goals (SDGs), das Making-of dieser Nachhaltigkeitsziele, die Rolle der Schweiz sowie die Bedeutung von internationalen Konferenzen.

Interview: Gregor Klaus

Franz Perrez ist seit 2010 Chef der Abteilung Internationales im BAFU und Umweltbotschafter der Schweiz. Er vertritt die Schweiz in den wichtigsten internationalen Verhandlungen im Umweltbereich. Nach seinem Rechtsstudium in Bern und Paris hatte er zunächst in der Direktion für Völkerrecht des Eidgenössischen Departements für äussere Angelegenheiten (EDA) gearbeitet. An der New York University School of Law spezialisierte er sich in den Bereichen Völkerrecht und internationales Umwelt- und Wirtschaftsrecht. Danach arbeitete er im WTO-Dienst des SECO und wechselte dann ins BAFU, wo er bis 2010 die Sektion Globales in der Abteilung Internationales leitete. Seit 2008 ist er zudem Lehrbeauftragter für internationales Umweltrecht an der Universität Bern. Er war u. a. massgeblich beteiligt am Ergebnis der Konferenz über nachhaltige Entwicklung von 2012, am Abschluss der Minamata-Quecksilberkonvention und des Pariser Klimaabkommens sowie an der Stärkung der internationalen Chemikalien- und Abfallkonventionen. Franz Perrez ist 52, verheiratet und hat zwei Kinder.
© Emanuel Freudiger

Laut UNO sind die 2015 beschlossenen Nachhaltigkeitsziele, die SDGs, «die To-do-Liste der Menschheit für einen nachhaltigen Planeten und ein klarer Fahrplan für eine bessere Zukunft». Teilen Sie diese Einschätzung?

Franz Perrez: Absolut. Die Zielliste ist ein äusserst wertvolles Instrument, um die globalen Herausforderungen anzugehen. Vor allem stellt sie einen wichtigen Paradigmenwechsel dar: Erstmals wurden auf globaler Ebene Ziele formuliert, die alle drei Dimensionen der nachhaltigen Entwicklung – ökologisch, ökonomisch und sozial – abdecken.

Das war bei den «Millennium Development Goals», den MDGs, die im Jahr 2000 am Millennium-Gipfel von den Vereinten Nationen verabschiedet wurden, nicht der Fall?

Die MDGs waren ebenfalls ein wichtiges Instrument und gaben der Entwicklungsagenda Orientierung und Visibilität. Doch der Fokus der MDGs lag auf Entwicklung und Armutsbekämpfung. Die SDGs hingegen stellen einen Paradigmenwechsel dar: Sie integrieren konsequent Umweltschutzaspekte. Das ist ein riesiger Fortschritt. Vergessen wir nicht: Die verschiedenen Nachhaltigkeitsdimensionen sind untrennbar miteinander verbunden. Man kann nicht die Umwelt zerstören und gleichzeitig auf eine langfristig stabile Wirtschaft hoffen. Es ist auch nicht möglich, Menschenrechte mit Füssen zu treten und gleichzeitig Wohlergehen für alle zu generieren.

Was hat diesen Paradigmenwechsel ausgelöst?

Auslöser war die Erkenntnis, dass sich die Entwicklungsziele nicht erreichen lassen und die Armut nicht langfristig überwunden werden kann, wenn gleichzeitig die natürliche Lebensgrundlage zerstört wird. Während der Vorbereitungen zur UN-Konferenz über nachhaltige Entwicklung, die 2012 in Rio de Janeiro abgehalten wurde, lancierte Kolumbien die Idee von Nachhaltigkeitszielen. Später spielte auch die Schweiz eine wichtige Rolle im Prozess.

Wieso gerade Kolumbien?

Das Land hat sich in den vergangenen Jahrzehnten stark entwickelt. Allerdings wurde dort festgestellt, dass dies auf Kosten der Umwelt stattgefunden hatte – was nun die zukünftige Entwicklung bremst. Die Regierung kam zum Schluss, dass Entwicklungsziele, die nur Wohlstand und Reichtum im Fokus haben, in eine Sackgasse führen. Kolumbien schlug vor, für die globale Nachhaltigkeitsagenda einen Zielrahmen zu entwickeln, der alle drei Dimensionen der Nachhaltigkeit zusammenbringt und für alle gilt. Diese Ziele sollten die MDGs ablösen und die Globalen Umweltziele, die bereits auf Initiative der Schweiz erarbeitet worden waren, integrieren.

Und Kolumbien wurde erhört?

Hilfreich war, dass nicht ein Industriestaat die Idee der SDGs lanciert hat. Kolumbien übernahm den Lead und trieb den Prozess konsequent voran. Ich kannte die Verhandlungsleiterin Kolumbiens gut, und wir bildeten zusammen mit dem Vertreter von Barbados, den wir wiederum von den Klimaverhandlungen her kannten, eine Art strategische Kerngruppe. Das zeigt sehr schön, dass bei solchen Prozessen persönliche Kontakte enorm wichtig sind.

Gab es keine Opposition gegen die Entwicklung von SDGs?

Doch. Negative Stimmen behaupteten, dass solche Ziele die Armutsbekämpfung einschränken würden. Es gelang unserer Kerngruppe, die ärmsten Länder der Welt einzubinden. Wir zeigten ihnen die Vorteile und Chancen von SDGs auf und konnten sie schliesslich mit ins Boot holen. Es wurde klar kommuniziert, dass einerseits die Ärmsten am meisten unter der Umweltzerstörung leiden und anderseits ohne den Schutz der Umwelt die Armut nicht bekämpft werden kann. Die Umwelt ist unsere Lebensgrundlage. Schützen wir sie nicht, frisst ihre Zerstörung früher oder später den erreichten Fortschritt wieder auf. An der UN-Konferenz über nachhaltige Entwicklung 2012 beschloss dann die Staatengemeinschaft, im Rahmen eines komplizierten partizipativen Verhandlungsprozesses griffige Nachhaltigkeitsziele zu entwickeln.

Mit Erfolg! Die Agenda 2030 mit ihren SDGs wurde 2015 am Gipfeltreffen der UNO in New York von der internationalen Staatengemeinschaft verabschiedet. Was waren die zentralen Erfolgs­faktoren?

Es war wichtig, alle Ziele und Indikatoren so weit wie möglich auf wissenschaftliche Erkenntnisse abzustützen. Ziel war es, die SDGs zu entpolitisieren und dadurch zu einem sachlichen Instrument zu machen. Das führte letztlich dazu, dass die einzelnen Staaten eigentlich gar nicht gegen die SDGs sein konnten.

Solche UN-Konferenzen erinnern immer ein bisschen an Folklore.

Was sie aber nicht sind. Es sind Momente, in denen grosse Schritte möglich sind. Tief greifende Transformationen benötigen einen Aufhänger, ein Momentum und die Aufmerksamkeit von Politik und Gesellschaft. An solchen Anlässen schaut die ganze Welt zu – der Druck ist enorm!

Stand die Verabschiedung der SDGs jemals auf der Kippe?

Ablehnung kam vorwiegend von den grossen Schwellenländern. Sie hatten Angst, dass die SDGs ihre Entwicklungschancen einschränken würden. Es sind die gleichen Staaten, die heute auch beim Klimaprozess auf die Bremse drücken. Am Ende konnten aber alle überzeugt werden – oder es wurde zu schwierig, öffentlich Nein zu sagen –, und die Ziele wurden akzeptiert. Dass sich die ärmsten Staaten der Welt ehrlich und explizit für die SDGs äusserten, war von der Symbolik her ein ganz starkes Signal. Allen wurde klar: Es geht nicht um grünen Kolonialismus der Industriestaaten, sondern um eine nachhaltige Entwicklung für die ganze Welt. Rückblickend muss ich sagen: Es war kein einfacher Prozess. Je griffiger ein SDG formuliert wurde, desto stärker wurde auch der Widerstand. Dass wir zum Schluss so einen guten Rahmen hinbekommen haben, ist nicht selbstverständlich. Viele Ziele sind übrigens stark durch die Schweiz geprägt. Darauf kann sie stolz sein.

Wer vertritt eigentlich bei solchen Verhandlungen die einzelnen Staaten?

Das ist ein interessanter Punkt. In den meisten Staaten ist dies entweder das Umweltministerium oder das Aussenministerium. In der Schweiz sah das ein bisschen anders aus. Die Verantwortung für das Dossier Nachhaltigkeit rotierte zwischen SECO/BLW, BAFU und DEZA. Dies zeigt exemplarisch, dass Nachhaltigkeit bei uns nicht einfach eine Umweltagenda ist. Das partnerschaftliche System hat einen grossen Vorteil, wenn es um die Umsetzung geht, weil das Thema schon breit verankert ist. Dass das BAFU 2012 den Lead bei der UN-Konferenz hatte, war Zufall, danach übernahm entsprechend der Rotation die DEZA.

Eine Zukunft, in der die SDGs bereits umgesetzt sind, lädt zum Träumen ein. An dieser Zukunft müssen wir die Gegenwart messen. Aber seien wir ehrlich: Bei den SDGs handelt es sich um ein rechtlich völlig unverbindliches, freiwilliges In­strument. Diese Zukunft werden wir beide nicht erleben.

Wir werden erleben, dass wir den Zielen ein wesentliches Stück nähergekommen sind! Bereits die MDGs waren eine Erfolgsgeschichte. Sie haben viel ausgelöst, auch wenn man nicht alle Ziele erreicht hat. Der Menschheit geht es besser dank ihnen, und ich bin überzeugt, dass die Welt 2030 auch dank den SDGs eine bessere Welt sein wird, als sie es ohne geworden wäre.

Hat der Schwung, der durch die Agenda 2030 ausgelöst wurde, noch nicht nachgelassen?

Keineswegs! Ich würde auch nicht von Schwung sprechen, sondern von einer Beschleunigung. Denn der Schwung in Richtung Nachhaltigkeit wurde schon viel früher ausgelöst, und zwar mit der ersten globalen Umweltkonferenz 1972 in Stockholm. 20 Jahre später gab es in Rio eine Neuauflage der globalen Umweltkonferenz, an der das Konzept der nachhaltigen Entwicklung erstmals lanciert wurde. Die SDGs haben dem Ganzen einen zusätzlichen Schub verliehen. Politiker und Politikerinnen werden sich an solchen Konferenzen des Themas bewusst, und bisherige Aktivitäten erhalten eine politische Legitimation. Konferenzen halten das politische Feuer am Leben.

Wie kommen die SDGs von der hohen Politik zu den Staaten, Gemeinden, Unternehmen sowie Bürgerinnen und Bürgern?

Gesetze spielen hier eine bedeutende Rolle. Wir stellen aber auch ein beachtliches freiwilliges Engagement fest, beispielsweise vonseiten der Wirtschaft. Die SDGs sind mittlerweile zu einem wichtigen Instrument für Privatunternehmen geworden, gerade auch für Versicherungen, Banken und grosse internationale Firmen. Diese sehen das Potenzial der Agenda 2030, nicht nur wegen des möglichen Reputationsschadens; vielmehr haben sie erkannt, dass die SDGs nicht gegen sie gerichtet sind, sondern ihre Arbeit unterstützen. Sie sehen das Potenzial beziehungsweise die neue Wirtschaftskraft für die Zukunft.

Die Staaten sind nun aufgerufen, bis 2030 möglichst viele Ziele möglichst gut zu erreichen. Braucht es überhaupt noch eine internationale Umweltpolitik?

Unbedingt! Zwar sind die globalen Umweltziele mit den SDGs gut abgedeckt. Für die konkrete Umsetzung braucht es dann aber doch die spezifischen und oftmals rechtlich verbindlichen Abkommen. Genauso, wie wir weiterhin eine Entwicklungspolitik und eine Wirtschaftspolitik brauchen, benötigen wir auch in Zukunft eine Umweltpolitik. Der Vorteil der SDGs ist aber, dass die verschiedenen Politiken nicht mehr losgelöst voneinander betrieben werden, sondern ein gemeinsames Ziel vor Augen haben.

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Letzte Änderung 04.03.2020

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