Umgang mit Naturgefahren: Ein Dorf macht sich Gedanken über den Klimawandel

Wenn die Gletscher schmelzen und der Permafrost taut, verändern sich die Naturgefahren. Das musste die Bevölkerung von Guttannen im Berner Oberland hautnah erleben. In einem Pilotprojekt hat sich das Dorf nun mit der Anpassung an die klimatischen Veränderungen auseinandergesetzt.

Text: Kaspar Meuli 

Permafrost
Auftauender Permafrost und schmelzende Gletscher vermindern die Stabilität von Berghängen. Das kann zu Naturgefahrenereignissen führen, die Menschen und Infrastrukturen bedrohen. Um das Gefährdungspotenzial von Murgängen, Rutschungen, Steinschlägen und Felsstürzen abzuschätzen, wurde im Wallis ein Monitoringsystem aufgebaut (im Bild ein Beispiel aus dem Mattertal). Es schafft die Grundlage für ein angepasstes Naturgefahrenmanagement.
© Flurin Bertschinger/Ex-Press/BAFU

Hans Abplanalp ist Gemeindepräsident mit Leib und Seele. Er sorgt sich um das Wohl der 300 Bewohnerinnen und Bewohner von Guttannen (BE), als wären sie seine Familie. Wer sich zum Beispiel schwertut mit dem Ausfüllen der Steuererklärung, dem wird im Gemeindehaus gerne geholfen. Genauso wie den Bauern beim Schriftverkehr für die Direktzahlungen. Wir sind mit dem pensionierten Mechaniker im Dorf an der Grimselpassstrasse, im äussersten Zipfel des Kantons Bern, unterwegs, um mehr über eine in der Schweiz wohl einzigartige Initiative zu erfahren: Die Gemeinde Guttannen hat ihre eigene Strategie für die Anpassung an den Klimawandel entwickelt.

Murgänge wecken Zukunftsängste

Wir haben auf unserem Rundgang die junge Aare überquert und spazieren nun durch den Dorfteil «Sonnseite». Hans Abplanalp zeigt auf die gegenüberliegende Seite des engen Tals mit dem Ritzlihorn, dessen steile Flanke in den Spreitgraben ausläuft. Am Rand dieses Bachbetts türmen sich – auch aus der Distanz gut sichtbar – gewaltige Schuttmassen. Spuren mehrerer Murgänge, die hier zu Tal gedonnert sind. Ausgelöst wurden die Rutsche durch Felsstürze aus dem auftauenden Permafrost am Ritzlihorn. Die in dieser Dimension bisher selten gesehenen Naturereignisse sorgten weit über die Region hinaus für Aufsehen. «Ist der Klimawandel schon da?», fragte zum Beispiel die deutsche Wochenzeitung «Die Zeit» 2013. 

Die Murgänge, von denen sich die grössten 2010 und 2012 ereigneten, weckten in Guttannen Zukunftsängste und machten die Menschen hellhörig für die Folgen der Klima-veränderung. Sie führten schliesslich zur «Klimaadaptionsstrategie Grimselgebiet», an der nicht nur Spezialisten, sondern auch Bürgerinnen und Bürger mitgearbeitet haben. «Ohne die Ereignisse im Spreitgraben hätten wir im Dorf wohl nicht so einfach Leute fürs Mitmachen in dieser Arbeitsgruppe gewinnen können», sagt der Gemeindepräsident. Die Betroffenheit im Dorf war gross, denn im am Fuss des Spreitgrabens gelegenen Weiler Boden hatte nach den grossen Murgängen ein Haus geräumt werden und eine Familie ihr Zuhause für immer verlassen müssen. Und lange Zeit war unsicher, ob aus Sorge vor künftigen Ereignissen in Boden nicht auch weiteren Häusern das gleiche Schicksal drohte.

Murgänge nehmen als Folge des Klimawandels zu

Nicht nur im Grimselgebiet wirkt sich die Klimaveränderung auf die Naturgefahren aus: «Als Folge der veränderten Niederschlagsverhältnisse werden in der Schweiz häufigere Hochwasserereignisse erwartet», erklärt Carolin Schärpf von der Abteilung Gefahrenprävention des BAFU. «In den Alpen führen die Gletscherschmelze und das Auftauen des Permafrosts zu einer Abnahme der Hangstabilität, und weil Starkniederschläge möglicherweise zunehmen und die Schneefallgrenze steigt, werden Hangrutschungen wahrscheinlicher.» Das steigende Hochwasserrisiko und die Zunahme von Murgängen und Rutschungen könnten Siedlungen, Verkehrswege, Infrastrukturen und landwirtschaftliche Nutzflächen gefährden. Der Bund (unter Federführung des BAFU) hat deshalb das Pilotprogramm «Anpassung an den Klimawandel» lanciert, in dem eine Reihe von Projekten zum Umgang mit Naturgefahren umgesetzt wurden, darunter die Adaptionsstrategie für das Grimselgebiet.

«Uns war wichtig, dass wir mit dieser Strategie keinen Papiertiger produzieren, sondern möglichst konkrete Massnahmen erarbeiten», betont Hans Abplanalp bei unserem Gang durchs Dorf und macht uns auf zahlreiche ungenutzte Gebäude aufmerksam. Zum Beispiel ein Zweifamilienhaus im Chaletstil mit adretten weissen Vorhängen direkt hinter dem Restaurant «Bären». Die Gemeindebehörden haben eine Liste mit rund 20 leer stehenden Objekten zusammengetragen, in denen sich zusätzlicher Wohnraum schaffen liesse – vom ungenutzten Heuschober bis zur bezugsbereiten 5-Zimmer-Wohnung. Dieses Inventar ist eine von 6 Massnahmen aus der Anpassungsstrategie. Die Idee dahinter: Die sicheren Standorte sind in Guttannen der Naturgefahren wegen beschränkt und zum grössten Teil bereits bebaut. Will das Dorf weitere Wohnmöglichkeiten schaffen, müssen deshalb die bestehenden Gebäude besser genutzt werden. Idealerweise, so heisst es in der Anpassungsstrategie, liessen sich durch eine Umnutzungsinitiative gar neue Einwohner nach Guttannen locken.

Wirtschaftliche Sorgen drängen Klimarisiken in den Hintergrund

Doch die wirtschaftliche Entwicklung hat der Gemeinde einen Strich durch die Rechnung gemacht. Die Geschäfte der Kraftwerke Oberhasli AG (KWO), des Wirtschaftsmotors der ganzen Region und des grössten Steuerzahlers von Guttannen, laufen schlecht– wie die der meisten Schweizer Stromproduzenten. Das Unternehmen muss 50 Stellen abbauen. «In dieser schwierigen Situation kann natürlich keine Rede davon sein, dass wir zusätzliche Leute nach Guttannen holen wollen», stellt der Gemeindepräsident klar. Von den eingetrübten wirtschaftlichen Aussichten zeugen auch die Wohncontainer mitten im Dorf, die ein Bauunternehmen in der Annahme aufgestellt hat, über Jahre viel Personal in Guttannen unterbringen zu müssen. Doch die KWO hat ihre Ausbaupläne zum grössten Teil auf Eis gelegt. Die provisorischen Behausungen bleiben wohl noch lange ungenutzt.

Uns wird bewusst: In einer Region, die von den Naturgefahren bedroht und den Folgen des Klimawandels besonders stark ausgesetzt ist, können andere Entwicklungen schlagartig viel mehr Gewicht erhalten als wachsende Klimarisiken. «Sozioökonomische Trends» und «demografische Entwicklungen», wie Studien solche Tatsachen gerne umschreiben, mögen die Klimasorgen mancherorts in den Hintergrund drängen. Trotzdem gilt es besonders für die Berggebiete, die Veränderungen der Naturgefahrensituation genau im Auge zu behalten und vorausschauend zu planen. Diese Empfehlung zieht sich durch viele der Pilotprojekte zum Umgang mit Naturgefahren, die in den vergangenen Jahren realisiert wurden.

In einem ersten Schritt auf dem Weg zur Anpassung müssen Gefahrenpotenzial und Risiken abgeschätzt werden, wie das zum Beispiel in den Studien zu Geschiebebewirtschaftung und zu Permafrostmonitoring gemacht wurde. Dann braucht es eine möglichst permanente Überwachung der eruierten Gefahrenherde. Die eigentlichen Anpassungsmassnahmen sind schliesslich oft gesetzlicher und organisatorischer Art – häufig stehen dabei Fragen der Raumplanung im Vordergrund. Das Projekt Sicherung von Flächen für Hochwasserkorridore etwa untersuchte, wie sich ein an sich einleuchtendes Konzept in der Praxis umsetzen liesse. Wenn bei ausserordentlich grossen Hochwassern trotz Schutzbauten Flüsse und Bäche kontrolliert über die Ufer treten, sollen nur im Voraus frei gehaltene Zonen überflutet werden. Beispiele in den Kantonen Nidwalden und Thurgau zeigen, dass die Konkretisierung dieser Idee alles andere als einfach ist. Vor allem, weil Hochwasserkorridore nur noch eingeschränkt genutzt und bewirtschaftet werden können. Damit Landeigentümer diesen Einschränkungen zustimmen, so das Fazit, ist viel Überzeugungsarbeit nötig. Doch sie zahlt sich aus. 

Das Projekt Geschiebebewirtschaftung ging seinerseits anhand von Fallbeispielen in den Kantonen Bern, Graubünden und Uri der Frage nach, was mit den riesigen Geschiebemengen geschehen könnte, die als Folge der schmelzenden Gletscher und des tauenden Permafrosts von den Bergen in die Täler transportiert werden. Eine mögliche Lösung, so zeigte sich, sind Geschiebedeponien. Doch sie brauchen – genau wie Hochwasserkorridore – viel Platz, womit Konflikte, insbesondere mit der Landwirtschaft, vorgezeichnet sind.

Naturgefahren belasten auch emotional

Zurück nach Guttannen und zur Arbeitsgruppe, die im Rahmen von 4 Workshops die «Klimaadaptionsstrategie Grimselgebiet» erarbeitet hat. Wir treffen Gemeindeschreiberin Verena Willener. Sie nahm als Abgesandte der Dorfbevölkerung an den Sitzungen teil und war eine von 4 Frauen in der 15-köpfigen Gruppe, die neben Bürgerinnen und Bürgern aus Vertretern verschiedener lokaler, regionaler und kantonaler Behörden sowie der KWO und von Haslital Tourismus bestand. «Sachliche Diskussionen sind wichtig», sagt sie in ihrem gemütlichen Büro im Gemeindehaus, «aber ich wollte unbedingt auch darüber sprechen, wie Naturgefahren Menschen prägen, die direkt von den Ereignissen betroffen sind. Emotional ist das alles andere als einfach, das weiss ich aus eigener Erfahrung.» Verena Willener wohnt am Dorfausgang Richtung Grimselpass in einem Haus in der Gefahrenzone, das sie mit ihrer Familie bereits mehrmals vorübergehend verlassen musste, wenn Lawinengefahr von der Wachtlammlaui drohte. 

Mit dieser Art von Bedrohung ist man in Guttannen seit je vertraut. Während Monaten ist die Grimselstrasse der Schneemassen wegen nicht passierbar, und hin und wieder bleibt infolge Lawinengefahr auch die Strasse talauswärts gesperrt. Das Dorf ist dann jeweils völlig von der Umwelt abgeschnitten. Doch die Menschen haben gelernt, mit dieser Situation zu leben. Zumindest vordergründig, denn bei den Diskussionen um die Anpassungsstrategie zeigte sich, dass das Dorf neuen Bedrohungen durch Naturgefahren nicht ganz so abgeklärt entgegenblickt.

Lebensader Grimselpassstrasse

Es ist Mittag geworden, und wir sitzen mit Hans Abplanalp im «Bären» bei einer Berner Platte. «Warum», wollen wir vom Gemeindepräsidenten wissen, «ist Guttannen offensichtlich nicht bereit, mit den Murgängen im Sommer so zu leben wie mit den Lawinen im Winter?» «Die Gefahren im Sommer sind neu. Da hat man es mit einer Bedrohung zu tun, die man nicht kennt und auch nicht unbedingt wahrhaben will. Dazu kommt, dass die Leute sich nicht noch zusätzlich einschränken lassen wollen.» Die Grimselstrasse, so erzählt Hans Abplanalp, ist die Lebensader seines Dorfes. Die meisten Bewohner sind auf sie angewiesen, um Richtung Innertkirchen und Meiringen zur Arbeit, zur Schule oder zum Arzt zu fahren. Im Sommer bringt die Strasse zudem Touristen ins Dorf. Und damit Verdienst. Nicht nur Gäste für den «Bären» und «Käthi’s B+B», sondern auch durchreisende Kundschaft für die Bauern, die ihren Alpkäse direkt an der Passstrasse anbieten. Deshalb fordern die Vertreter der Bevölkerung in der Klimaarbeitsgruppe, das Dorf müsse auch künftig jederzeit erreichbar bleiben. Möglichst auf der Strasse oder aber via eine neu zu bauende Grimselbahn, ein Vorhaben, von dem in Guttannen zurzeit viel die Rede ist. 

Doch mittlerweile hat sich die Angst vor den neuen Naturgefahren ziemlich gelegt. Seit 5 Jahren ist es zu keinem grösseren Ereignis mehr gekommen, und neue Studien sehen die Wahrscheinlichkeit von Murgängen im Spreitgraben deutlich kleiner als einst befürchtet. Die Sorgen seiner Mitbürgerinnen und Mitbürger um die Auswirkungen des Klimawandels, meint der Gemeindepräsident, seien weitgehend verflogen. Das stimmt ihn nachdenklich. «Schon verrückt», sagt er beim Abschied, «wie schnell die Menschen vergessen.»

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Letzte Änderung 28.08.2017

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