Pflanzen an und auf Gebäuden bringen viele Vorteile: Sie kühlen und isolieren, tragen zur Artenvielfalt bei und sehen toll aus. Und, was vielleicht viele überrascht: Diese Begrünung und Förderung der Tier- und Pflanzenvielfalt lässt sich gut mit einer Solarstromproduktion auf dem Dach kombinieren. Ein Augenschein in Basel, der Hauptstadt der Dachbegrünung.
Text: Brigitte Wenger
Mit seinen Gartenklamotten passt er ins Foyer der Basler St. Jakobshalle wie eine Blume auf den Beton. Wo Stehtische zurechtgerückt werden, wo Wirtschaftsgrössen später in Anzügen einen Businesslunch abhalten, zieht Jascha van Gogh so zielstrebig durch, als bewege er sich in seinen eigenen vier Wänden.
Er geht Gänge entlang, Treppen hoch, öffnet unscheinbare Türen, und steigt eine wackelnde Ziehleiter hinauf durch eine durchsichtige Luke in der Decke. Raus aufs Dach der riesigen Eventhalle St. Jakob, wo der Kontrast nicht minder gross ist: Hier wachsen der violett blühende Natternkopf und die purpurrosa leuchtende Kartäusernelke – eine Trockenwiesenlandschaft hoch über dem Strassenlärm der Stadt Basel.
«Besonders gefreut habe ich mich, als ich die vom Aussterben bedrohte Wegdistel gesehen habe», sagt Jascha van Gogh. Der Umweltingenieur an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW erforscht die Basler Dachbegrünungen. Denn auf ihren Bodensubstraten blühen zuweilen die buntesten Pflanzen, die auch seltenen Insekten Unterschlupf bieten. Solch grüne Dächer und Fassaden können sogar Lebensraum für verschiedene Vogel- und Amphibienarten bieten. Fachleute sprechen von «Animal-Aided Design»: Gebäude sollen vermehrt nicht nur Menschen, sondern mittels spezifischer Fördermassnahmen auch Wildtieren Raum bieten. «Animal-Aided Design» ist in der Schweiz noch kaum bekannt und erst bei einzelnen Gebäuden erprobt, soll aber in Zukunft stärker beachtet werden.
Zudem können sich begrünte Dächer und Fotovoltaikanlagen ideal ergänzen. Solarstrom und Biodiversität auf einem Dach: Dieses ökologische Duo ist heute schon auf Schweizer Dächern zu sehen. Dazu später mehr.
Cooles Gebäudegrün
Je heisser es wird, desto dringender brauchen Städte Pflanzen. Pflanzen spenden Schatten und speichern Regenwasser, das später, wenn es verdunstet, die Umgebung kühlt. Doch der Asphalt lässt wenig Leben zu, zumindest unten, auf Strassen und Parkplätzen. Wenn wir jedoch den Blick auf die Blätter und Blumen an den Fassaden heben, tut sich uns eine neue Welt auf.
Dort oben bringt das Grün weitere Vorteile: Erde und Pflanzen isolieren die Gebäude und verringern damit ihren Energiebedarf. So sind im Sommer die Temperaturen in Räumen unter begrünten Flachdächern um drei bis fünf Grad tiefer und es muss weniger gekühlt werden. Fassadenbegrünungen schützen Mauern vor Hitze, Regen und UV-Strahlung und verlängern so ihre Lebensdauer. Und es sieht einfach gut aus.
«Wir können es uns nicht leisten, geeignete Flächen nicht zu nutzen», sagt Séverine Evéquoz von der Sektion Landschaftspolitik des BAFU. Gemäss Bundesgesetz über den Natur- und Heimatschutz müssen die Kantone «in intensiv genutzten Gebieten inner- und ausserhalb von Siedlungen für ökologischen Ausgleich» sorgen. Begrünte Dächer und Fassaden können dazu beitragen. Die positiven Auswirkungen von Pflanzen auf Menschen und Umwelt sind bekannt, deshalb hat der Bundesrat 2012 in der «Strategie Biodiversität Schweiz» mehr Grün im Siedlungsraum als eines seiner strategischen Ziele formuliert. Das BAFU unterstützt Kantone und Gemeinden bei der Erreichung dieses Ziels, zum Beispiel mit Musterbestimmungen, die in die Bauvorschriften aufgenommen werden sollen. Aber auch mit finanzieller Unterstützung und dem Wissensaustausch zwischen den verschiedenen Akteuren.
Basel ist die Hauptstadt der Dachbegrünungen. 46 Prozent der Flachdächer sind begrünt, sie gelten als ökologische Ausgleichsflächen. Seit 1999 hat Basel-Stadt eine Flachdach-Begrünungspflicht im kantonalen Gesetz – und ist damit Pionierin. «In Basel werden begrünte Dächer von der Planung bis zum Bau in die Projekte integriert. So sind in jeder Phase bis zur Ausführung die nötigen Kompetenzen vereint, um hochwertige Projekte umzusetzen. Und die Methoden für die Begrünung haben sich entwickelt und diversifiziert», sagt BAFU-Mitarbeiterin Evéquoz.
Umzug aufs Flachdach
«Ein Dach ist ein Extremstandort», sagt Jascha van Gogh, während er weiter über das Hallendach geht, von der wetterausgesetzten zu der von der Dachtechnik beschatteten Seite. Pflanzen und Tiere, die hier überleben wollen, müssen Hitze und Frost, Trockenheit und Staunässe aushalten können.
Deshalb kommen die Pflanzen auf der St. Jakobshalle nicht von weit her. Aus dem Naturschutzgebiet Reinacher Heide, etwa fünf Kilometer südlich der Halle. «Zwar ist lokales Saatgut teurer als industriell zusammengemischtes», sagt van Gogh, «dafür ist es das lokale Klima gewohnt und genetisch vielfältig.» Die Samen kamen im Jahr 2018 von der Heide auf die Halle. Und mit ihnen Larven und Eier von Spinnen und Käfern, Heuschrecken und Wildbienen, Schmetterlingen und der kleinen, seltenen Quendelschnecke.
Jascha van Gogh schabt mit dem Fuss den Boden frei. Dieser ist dunkelrot und nur eine Handbreit tief. «Nicht viel los hier», sagt van Gogh. Das Rot kommt vom Lava-Bims, einem porösen Gestein, das den Boden auflockert und Wasser speichern kann, bei Trockenheit aber wenig darauf wachsen lässt. Und je weniger Pflanzen, desto weniger Schatten und desto mehr heizt sich der Boden auf. Van Gogh geht weiter in Richtung Dachrand. Hier liegen Totholz und Steinhaufen herum, die Insekten Unterschlupf bieten. Der Boden ist höher und hügelig. Das Substrat ist angereichert mit Kies, Stroh und Kompost, das sorgt für eine üppige und vielfältige Vegetation. Mit einer zusätzlichen Fassadenbegrünung würde dieser wertvolle Lebensraum für weitere Wildtiere zugänglich, etwa für Amphibien.
«Vieles hängt von der Dicke der Nährstoffschicht ab», sagt Jascha van Gogh. Je dicker die Schicht, desto mehr Regenwasser kann sie speichern, desto länger können die Pflanzen überleben, und desto mehr Kühle können sie abgeben. Aber auch: Desto schwerer wird das Dach. Das müssen Statiker und Architektinnen beim Bau mitbedenken.
Ein Pflanzen-Puzzle
Mit der Begrünung von Flachdächern wie dem der St. Jakobshalle entstand über die ganze Stadt Basel ein Mosaik aus künstlich geschaffenen Lebensräumen für Tiere und Pflanzen. Diese Dächer sind eine wichtige Ergänzung zu den grünen Korridoren und den Flüssen, die sich wie ein Netz über die Stadt legen.
Jascha van Gogh fährt von der St. Jakobshalle über den Rhein zu einem weiteren grünen Dach, dem des Stücki Parks, eines Einkaufs- und Gewerbezentrums auf dem Gebiet der ehemaligen Stückfärberei an der Grenze zu Deutschland. Hierhin hat sogar schon die Gottesanbeterin gefunden, wie eine Untersuchung des Dachs gezeigt hat. Das in der Schweiz geschützte Insekt profitiert vom Klimawandel und gelangte aus dem Süden auf den Warenumschlagplatz des Dreiländerecks.
Das Stücki wurde 2009 als Einkaufszentrum eröffnet. Weil das Gebäude in einem grauen Industrieareal stand, planten die Architekten als Blickfang begrünte Fassaden. Die Biodiversität stand damals noch nicht im Fokus. Noch heute, nach anderthalb Jahrzehnten Betrieb, wachsen Glyzinien, Efeu und Wilde Weinreben an Drähten hoch, bieten Vögeln Unterschlupf und beschatten das Gebäude. Zudem liegt auf dem Stücki das mit 28 000 Quadratmetern grösste begrünte Flachdach der Stadt. Die Begrünung war als ökologische Kompensation eine Bedingung der Stadt, um den Bau des Einkaufszentrums zu bewilligen.
Solarpanels auf der Biodiversitätsfläche
Jascha van Gogh tritt auf das Dach. Fast schachbrettartig haben die Stadtökologinnen und -ökologen der ZHAW hier mit verschiedenen Böden unterschiedliche Habitate geschaffen. Die Blauflügelige Ödlandschrecke etwa fühlt sich auf trockenen Kiesflächen wohl, die stark gefährdete Grüne Strandschrecke braucht für ihre Eier feuchte Böden.
Der ZHAW-Forscher marschiert zum neusten Teil des Stücki-Dachs. Zusätzlich zur Begrünung gibt es hier Fotovoltaikpanels. Die Anlage produziert rund 1000 Megawattstunden pro Jahr und deckt damit bis zu 70 Prozent des gebäudeeigenen Strombedarfs. Denn: «Biodiversität und Stromproduktion schliessen sich nicht aus», sagt van Gogh. Im Gegenteil: Solarpanels spenden Schatten, so bleibt der Boden darunter länger feucht. Die Pflanzen ihrerseits kühlen und unterlüften die Solarmodule, wodurch die Stromproduktion bei Hitze gesteigert werden kann. «Wenn Gebäude neu geplant oder erneuert werden, sollte man die Gelegenheit nutzen, um Solaranlagen und Begrünung zu kombinieren», betont Séverine Evéquoz. Das eine schliesst das andere nicht aus – im Gegenteil, wie die gut umgesetzten Beispiele in Basel zeigen.
Aber auch Neophyten wie das Beruf- und das Greiskraut mögen es hier. Zu gerne. Für ein Dach dieser Grösse bräuchte es ein paar Einsätze im Jahr, um die Neophyten auszureissen und zu entsorgen, sagt van Gogh. Je weniger man macht, desto eher nehmen einzelne Pflanzenarten überhand. Und wenn man zum falschen Zeitpunkt eingreift, haben die wertvollen Pflanzen vielleicht noch nicht abgesamt. Gebäudebesitzerinnen beauftragen häufig Flachdachspezialisten mit der Arbeit auf dem begrünten Dach – sie müssen sowieso immer wieder hoch, um die Technik zu kontrollieren. Van Gogh hätte lieber Gärtnerinnen und Gärtner auf dem Dach. «Naturschutz setzt Wissen voraus.»
Dass das Grün auf dem Dach von der Strasse aus kaum zu sehen ist, habe Vor- und Nachteile, sagt Jascha van Gogh: «Der Nachteil ist, dass uns nicht bewusst ist, was ein grünes Dach kann.» Und der Vorteil? «Wenigstens da oben hat die Natur ihre Ruhe.»
«Es geht um unsere Gesundheit»
Anke Domschky, Landschaftsarchitektin und Dozentin an der ZHAW, sieht alle Akteure – von Planerinnen über Investoren bis Facility Managerinnen – in der Pflicht, mehr Biodiversität in Stadt und Agglomeration zu holen.
Anke Domschky ist Dozentin für Landschaftsarchitektur und Urban Studies an der ZHAW in Winterthur und hat 2022 im Auftrag des BAFU die Studie «Potenzial von Gebäuden für Biodiversität und Landschaftsqualität in Agglomerationen» mitherausgegeben.
Anke Domschky, was können unsere Wohngebäude für die Biodiversität tun?
Gebäude haben einen Leistungsauftrag. Und zu diesem gehört auch, die Biodiversität zu fördern und die Klimaerwärmung zu bremsen. Das heisst nicht nur CO2 einsparen, zum Beispiel mit Solaranlagen, sondern auch Versiegelung vermeiden, die Hitze reduzieren, Pflanzen und Tieren einen Lebensraum bieten. Dabei geht es nicht darum, aussterbende Arten zu retten – es geht um unsere Lebensgrundlage, um unsere Gesundheit.
In Ihrem Bericht zum ökologischen Potenzial von Gebäuden formulieren Sie Handlungsempfehlungen für verschiedene Akteure. Welche sind die bedeutendsten?
Mit der Klimaerwärmung als Treiber kommt die Gebäudebegrünung immer mehr im Bausektor an. Das sehe ich bei Studierenden und in Architekturbüros. Nun muss sie auch von den Bauherrschaften und privaten Investorinnen gefördert werden. Dazu braucht es mehr wissenschaftliche Fakten und die passende Aufklärungsarbeit. Meines Erachtens braucht es zudem klare gesetzliche Vorgaben und Zertifikate und Biodiversitätsmassnahmen in Baubewilligungsverfahren und Wettbewerbsprogrammen. Den stark geforderten Gemeinden in der Agglomeration können Umweltfachpersonen helfen, einen Zugang zum Thema zu finden.
Wo muss man als Erstes ansetzen, um mehr Grün an die Gebäude zu holen?
Wir müssen verstehen, dass sich Ökologie und Gebäude nicht ausschliessen. In unserer Studie haben wir tolle Einzelbeispiele porträtiert. Je mehr es davon gibt, desto mehr lernen wir über die Gebäudebegrünung, und desto sichtbarer wird sie. Die grösste Hebelwirkung haben aber gesetzliche Vorgaben. Die Begrünungspflicht zum einen, zuallererst muss aber der Brandschutz mehr Grün am Bau zulassen. Pflanzen sind brennbar und stellen in vielen Köpfen ein Sicherheitsrisiko dar. Doch sie sind keine Gefahr, sofern man sie entsprechend unterhält.
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Letzte Änderung 12.06.2024