Neue Vollzugshilfe zu Massenbewegungsgefahren: Besserer Schutz vor Felsstürzen und Rutschungen

Faszinierende Gebirgslandschaften gehören zum touristischen Kapital der Schweiz. Die abwechslungsreiche Topografie birgt indes auch Risiken von Bergstürzen und Rutschungen. Eine neue Vollzugshilfe des BAFU zeigt, wie damit umzugehen ist.

Text: Lucienne Rey

Oberhalb der Riederalp im Oberwallis rutscht eine rund 2 Millionen Quadratmeter grosse Fläche mit einem geschätzten Volumen von 160 Millionen Kubikmetern in Richtung des Aletschgletschers ab. Die grösste Spalte erstreckt sich auf einer Länge von rund 300 Meter, die Öffnung beträgt bis zu 20 Meter. Grund für die landesweit grössten Felsverschiebungen ist das rasche Abschmelzen des «ewigen Eises», das den Hang destabilisiert hat.
© Hugo Raetzo, BAFU

Diese Route lässt Bergbegeisterte schwärmen: Von der Riederalp (VS) führt sie über die Riederfurka durch uralten Arven- und Lärchenwald in Richtung Silbersand und «Chalchofu» und von dort über die Alte Stafel zurück auf die Riederalp. Der Blick hinab auf die Eismassen des Aletschgletschers, der hell zwischen dem dunklen Grün der Arven schimmert, ist eindrücklich. Doch wer im Herbst 2016 die etwa zwölf Kilometer lange Rundstrecke in Angriff nehmen wollte, sah sich durch gelbe Signaltafeln und rot-weisse Warnbänder von seinem Vorhaben abgehalten: Der Weg musste gesperrt werden, nachdem sich die bereits früher festgestellten Rutschbewegungen verstärkt hatten und mächtige Felsblöcke abgestürzt waren. Die grossflächige Rutschung im Aletschgebiet ist seit Langem bekannt. So konnten Geologen beispielsweise berechnen, dass das kleine Sparrhorn neben der Moosfluh zur Dryaszeit vor rund 11 000 Jahren etwa zehn Meter höher war als heute. Auch die Deformation der Seitenmoräne und die Verläufe der Bruchsysteme im Fels lassen Rückschlüsse auf frühere Geländeverschiebungen zu. Seit einigen Jahren werden die Geländebewegungen mit Satellitenradar erfasst. Im Sommer 2016 zeigte sich, dass der Hang oberhalb der Riederalp viel rascher als bisher in Richtung des Gletschers abgleitet. Tiefe Risse klaffen nun im Boden – ein für Laien beängstigender Anblick. Die Geländebewegungen sind dem Rückzug des Aletschgletschers zuzuschreiben. «Während der kleinen Eiszeit, die bis 1850 dauerte, betrug die Eismächtigkeit des Gletschers dort etwa 400 Meter, sodass er ungefähr bis zur heutigen Baumgrenze reichte», erklärt der Geologe Hugo Raetzo vom BAFU, der sich in der Abteilung Gefahrenprävention unter anderem um die Überwachung von Rutschungen, Steinschlag und Felsstürzen kümmert. Seit 1850 hat die Eisdicke des längsten und mächtigsten Gletschers im Alpenraum massiv abgenommen. So ist das Gletschereis am linken Rand der Rutschung ganz geschmolzen, und im Mittelteil wird es in den kommenden Jahren ebenfalls verschwinden. Der Druck, den der gewaltige Eisschild um 1850 auf die Bergflanke ausübte, war rund 35 bar stärker als heute, was etwa dem Druck in einer Wassertiefe von 350 Metern entspricht. Ohne diese Krafteinwirkung hat der Hang an Stabilität verloren. Es fällt denn auch auf, dass sich die grössten Risse just an der Waldgrenze auftun. Mit einer Fläche von zwei Quadratkilometern und einem geschätzten Volumen von 160 Millionen Kubikmetern ist das Rutschungsgebiet in der Aletschregion rekordverdächtig. «Es handelt sich um eine riesige Rutschung mit den schweizweit grössten Felsverschiebungen. Wir überwachen den Hang konstant», bestätigt Hugo Raetzo. Doch dass ein Hang bröckelt, ist für die Schweiz keineswegs einzigartig. sechs bis acht Prozent der Landesfläche entfallen auf Gebiete mit bekannten Massenbewegungen – und zwar nicht nur im Gebirge. «Auch in verschiedenen Städten wie Bern, Genf und Freiburg gibt es Hanginstabilitäten, die es im Auge zu behalten gilt», sagt der Geologe.

Gefahren einheitlich beurteilen

Mit der neuen umfassenden Vollzugshilfe «Schutz vor Massenbewegungsgefahren» will das BAFU die Kantone und Gemeinden dabei unterstützen, Rutschungen, Hangmuren sowie Steinschlag frühzeitig zu erkennen und diese Gefahren nach einheitlichen Kriterien zu beurteilen. Die Publikation ersetzt die 1997 veröffentlichte Bundesempfehlung «Berücksichtigung der Massenbewegungsgefahren bei raumwirksamen Tätigkeiten». Die Analysen der Unwetter in den Jahren 2005 und 2007 zeigten nämlich, dass man Hanginstabilitäten und das Potenzial für Rutschungen bisher manchenorts unterschätzt hatte.

Drei Massstäbe für zunehmende Komplexität

Die Situationsanalyse steht am Anfang der Abklärungen. Sie berücksichtigt bestehende und geplante Nutzungen in der betroffenen Region. Die eigentliche Gefahrenbeurteilung greift auf unterschiedliche Grundlagen zurück – je nachdem, wie komplex die geologische Situation vor Ort ist und wie detailliert die Informationen daher sein müssen. Hugo Raetzo spricht vom «Ansatz der M3», wobei das «M» für «Massstab» steht: Im gröbsten Massstab (M1) ausgeführt ist die Gefahrenhinweiskarte. Sie bietet eine Übersicht der von Massenbewegungen potenziell betroffenen Areale. Die Gefahrenkarte auf mittlerer Massstabsebene (M2) dient als Grundlage für die Raumplanung. Sie teilt ein Gemeindegebiet in fünf unterschiedliche Gefahrenstufen ein und macht Aussagen zur Eintretenswahrscheinlichkeit sowie zur Intensität möglicher Rutsch- und Sturzereignisse. Bei Bauvorhaben bedarf es allerdings oftmals noch stärker differenzierter Angaben in Form einer Detailstudie. Diese gibt nicht nur im grossen Massstab (M3) über die örtlichen Gegebenheiten Aufschluss, sondern beinhaltet gegebenenfalls auch die Ergebnisse geologischer Modellierungen. Die Vollzugshilfe nennt dabei auch die Kriterien zur Charakterisierung eines Prozesses: Zu berücksichtigen ist beispielsweise die kinetische Energie bei Sturzprozessen. Diese hängt ihrerseits von der in Bewegung geratenen Masse sowie von deren Geschwindigkeit ab. Auch über die Wirkung von Schutzmassnahmen erhalten Interessierte Aufschluss: So braucht es armierte Betonwände, um Sturzprozessen mit einer Energie von 300 Kilojoule standzuhalten. Dies entspricht der Schlagkraft eines vergleichsweise kleinen Felsbrockens von etwa einer Tonne, der mit einer Geschwindigkeit von 90 Stundenkilometern aufprallt. Eine Backsteinmauer wird von einer solchen Masse bereits durchschlagen, und eine Holzwand widersteht höchstens 30 Kilojoule. Bei Ereignissen, deren kinetische Energie 300 Kilojoule übertrifft, brechen selbst Betonwände zusammen.

Risiken beurteilen und minimieren

Es ist allerdings nicht die Intensität eines Sturz- und Rutschprozesses allein, der über den Handlungsbedarf entscheidet. Auch die Eintretenswahrscheinlichkeit eines Schadens innerhalb einer bestimmten Zeitperiode fliesst in die Risikoanalyse ein. Bei Massnahmen zur Minimierung der Risiken sind Schutzziele einzubeziehen. So soll die Wahrscheinlichkeit, dass eine bestimmte Person durch einen Felssturz oder einen Murgang ums Leben kommt, geringer sein als 1:100 000. Dieser Wert liegt tiefer als die Wahrscheinlichkeit, dass ein Jugendlicher sein Leben verliert, und orientiert sich bewusst an der Altersgruppe mit der geringsten Sterbe-wahrscheinlichkeit. Auch Gebäude, Infrastrukturen und kulturelle Werte stellen schützenswerte Güter dar, die bei den Abwägungen und der Planung von Schutzmassnahmen zu berücksichtigen sind. Aus der Analyse lassen sich allfällige Schutzdefizite ableiten, anhand derer dann geeignete passive oder aktive Massnahmen festgelegt werden. Passive Vorkehrungen verhindern eine Rutschung oder einen Sturzprozess nicht, sondern verringern das Ausmass des Schadens. Bestehende Gebäude in Gefahrengebieten werden an sichere Orte verlegt und neue Gebäude gar nicht erst im betroffenen Perimeter platziert. Die Reduktion des Schadenpotenzials erfolgt also vornehmlich durch raumplanerische Massnahmen. Aktive Massnahmen dagegen beeinflussen den Sturzprozess als solchen, etwa mit Schutzdämmen oder Steinschlagnetzen. Grossflächige Massnahmen – wie zum Beispiel die Entwässerung von Hängen oder die Pflege des Schutzwaldes – können die Massenbewegungen bremsen oder verhindern. Die Richtlinie umfasst auch Entscheidungshilfen für die Wahl der Massnahmen. In einem Anhang sind zudem die bei der Umsetzung zu beachtenden Gesetzestexte aufgelistet.

Prävention ist das A und O

Die Vollzugshilfe zielt auf die Prävention ab: Grössere Schäden sollen wenn immer möglich gar nicht erst eintreten. So wurde im freiburgischen Galterntal für ein gefährdetes Haus am Fuss einer Sandsteinwand ein Nutzungsverbot verfügt, weil sich ein instabiler Fels im April 2016 immer rascher zu verschieben begann. Eine im Jahr 2015 eingerichtete automatische Überwachung hatte die Bewegungen registriert und die frühzeitige Warnung ermöglicht. Am 25. April 2016 stürzte der Fels ab und zerstörte das inzwischen nicht mehr bewohnte Haus. Auch auf der Riederalp wird das Vorsorgeprinzip hochgehalten, indem man Unglücksfällen von Wanderern durch das Sperren gefährdeter Wege vorbeugt. Die alte Bergstation der Gondelbahn Moosfluh hatte man wegen der Rutschung abbrechen müssen. Nun wird die neue Bahn genaustens überwacht, um das Risiko von Personenschäden zu minimieren.

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Letzte Änderung 31.05.2017

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