Ereignisbewältigung: «Trockene Füsse in der Berner Matte»

In Bern hat man aus den vergangenen Hochwassern gelernt. Schäden durch Hochwasserereignisse lassen sich durch eine optimierte Einsatzplanung, Warnung und Intervention begrenzen. Ein Restrisiko bleibt aber bestehen.

Text: Selma Junele

Der Zivilschutz informiert Bewohnerinnen und Bewohner des Berner Mattequartiers über die Hochwasserproblematik.
© Berufsfeuerwehr Bern

Eine grauschwarze, zähflüssige Brühe, darin Geäst und ganze Baumstämme, hat sich vor dem Schwellenmätteli angesammelt. So dokumentiert es eine Videoaufnahme aus der Nacht vom 7. Juni 2015, die uns Franz Märki, Leiter Kommunikation der Berufsfeuerwehr der Stadt Bern, zeigt.

Die Aare führt zu jenem Zeitpunkt bereits viel Wasser, rund 350 m3 pro Sekunde beträgt der Abfluss aus dem Thunersee. Das ist unter den kritischen 400 m3, bei denen die Aare in Bern (ohne Massnahmen) an den ersten Stellen über die Ufer treten würde. Allerdings fehlt in dieser Rechnung noch die Zulg, die nordwestlich von Thun in die Aare mündet. Diese führt für kurze Zeit 230 m3 Wasser pro Sekunde und: viel Schwemmholz. Dieses Schwemmholz sammelt sich nun im Tych im Berner Mattequartier, einem Zulauf zum Kraftwerk Matte. Es verhindert den Abfluss des Wassers und lässt den Pegel gefährlich ansteigen. Bis die beiden Wehrelemente mit einem mobilen Kran entfernt werden: Die Schwemmholzmassen setzen sich langsam in Bewegung, und die Situation entspannt sich innerhalb von Minuten.

Delikate Entscheidung

Anders als bei einer klassischen Hochwassersituation, die sich oft über Tage hinweg entwickelt, hat man bei der Zulg nur zwei Stunden Zeit, um sich auf das Ereignis einzustellen: So lange brauchen die Wassermassen, um bis nach Bern zu gelangen. In dieser Zeit muss der mobile Kran herangeschafft und aufgebaut werden. Und die Situation flussaufwärts muss genau beobachtet werden. Denn die Entscheidung, die Wehrelemente zu entfernen, ist delikat. Einmal entfernt, können sie erst bei ausgesprochen tiefem Wasserpegel, das heisst oft erst im darauffolgenden Winter, wieder installiert werden. Ohne die Wehrelemente wiederum produziert das Kraftwerk in der Matte keinen Strom. Der entscheidungsbefugte Pikettoffizier bei der Feuerwehr muss also im Ernstfall die Stromproduktion gegen die Hochwassersicherheit abwägen – und die Wehrelemente nur dann entfernen, wenn andere Massnahmen wie etwa das schrittweise «Aus-dem-Wasser-Fischen» des Schwemmholzes zu wenig greifen.

Dass es in dieser Nacht vom 7. Juni 2015 gut ausgeht, ist kein Zufall, sondern eine Folge der aus den Hochwasserereignissen in den Jahren 1999 und 2005 gezogenen Lehren. Im Rahmen von Ereignisanalysen wurden die jeweiligen Schwachstellen ausgemacht und darauf aufbauend Einsatzakten entwickelt, die situationsabhängig und sehr präzise definieren, welche Massnahmen ergriffen werden müssen und wer wofür zuständig ist. Für den Ereignisfall Hochwasser mit Schwemmholz wurde die Wehranlage in der Matte als Schwachstelle identifiziert.

Eine weitere Schwachstelle hatte die Ereignisanalyse des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz (BABS) zutage gebracht. Sie wurde vom damaligen Bundesrat Samuel Schmid nach dem Jahrhunderthochwasser im Jahr 2005 in Auftrag gegeben und kam zum Schluss, dass es bei der Warnung und Alarmierung Verbesserungspotenzial gibt. Seither hat sich viel getan. Um ihre Warntätigkeiten aufeinander abzustimmen und zu optimieren, haben sich das BAFU, das Bundesamt für Meteorologie und Klimatologie (MeteoSchweiz), das BABS, die Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL), das Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) und der Schweizerische Erdbebendienst (SED) im Lenkungsausschuss Intervention Naturgefahren (LAINAT) zusammengeschlossen. Mit der Revision der Verordnung über die Warnung, die Alarmierung und das Sicherheitsfunknetz der Schweiz (VWAS) hat das BAFU den Auftrag erhalten, vor Hochwasser und damit verbundenen Rutschungen sowie Waldbrand zu warnen. Zwar war das BAFU schon zuvor in diesen Bereichen tätig, allerdings nur als Dienstleister für die Kantone. Heute hat es deutlich mehr Kompetenzen: Es gibt bei entsprechender Gefahrenlage Warnungen an die Kantone und die Bevölkerung aus. Die Messnetze und Vorhersagemodelle, welche die Grundlagen für die Warnungen liefern, werden stetig verbessert.

Auch Bern hat die Warnung gestärkt: Seit dem Ereignis von 2005 haben Bewohnerinnen und Bewohner von gefährdeten Quartieren die Möglichkeit, sich bei Hochwassergefahr per SMS warnen zu lassen. So können sie ihre Keller rechtzeitig räumen oder Autos in Sicherheit bringen. Bei der SMS-Warnung und beim Hochwassermanagement stützt sich die Stadt Bern auf Informationen, die ihr der Bund und der Kanton zur Verfügung stellen.

Kein «totes Papier»

Hochwasserschutz ist eine Verbundaufgabe, die eine Zusammenarbeit auf allen drei Verwaltungsebenen (Bund, Kanton und Gemeinde) erfordert. Je nach Begebenheit werden neben der Feuerwehr auch Polizei und Zivilschutz aufgeboten. Besonders gefordert sind die Gemeinden. Mit den Naturgefahrenkarten liegen die Grundlagen bezüglich Gefährdung vor. Und mit dem Wissen um die Gefahren entsteht auch die moralische Pflicht, sich auf die Bewältigung von Naturereignissen vorzubereiten.

Das BAFU und das BABS unterstützen sie dabei mit dem neuen «Leitfaden Einsatzplanung gravitative Naturgefahren». Das Tool, das explizit auch das Thema Hochwasser beinhaltet, erscheint 2020. Es soll Kommunen, die noch keine entsprechenden Einsatzpläne haben, dabei helfen, sich optimal auf den Ereignisfall vorzubereiten. Entsprechende Massnahmen werden vom Bund via Kantone auch finanziell unterstützt. Markus Müller von der ­BAFU-Sektion Risikomanagement ordnet ein: «Einsatzplanungen dürfen nicht ‹totes Papier› sein und irgendwo verstauben. Sie müssen trainiert und aktualisiert werden. Aus den Erfahrungen ergeben sich neue Erkenntnisse, die dazu führen, den Plan zu optimieren oder allenfalls sogar zusätzlich bauliche oder planerische Massnahmen zu ergreifen.» Auf den Leitfaden angesprochen, meint Alain Sahli, Bereichsleiter Planung und Einsatz bei Schutz und Rettung Bern: «Klar, wir werden ihn genau anschauen und überprüfen, ob und wo wir unsere Einsatzakten anpassen müssen.» Die Standardisierungsarbeit, die der Bund hier leiste, sei wichtig, sie mache es überhaupt erst möglich, über Verwaltungsgrenzen hinweg zusammenzuarbeiten: Erst durch die Standardisierung sei sichergestellt, «dass man vom Gleichen spricht, wenn man die gleichen Wörter benutzt».

Sich für den Notfall wappnen

Bei einem Naturereignis ist in jedem Fall den Weisungen der lokalen Behörden Folge zu leisten. In akuter Not hilft die Notrufnummer 112. Zudem kann man sich über Radio, Fernsehen, Apps und Internet über die aktuelle Gefahrenlage informieren und die Warnungen und Alarmsignale beachten. Informationen zur aktuellen Naturgefahrensituation bietet die Website naturgefahren.ch, Alarme, Warnungen und Informationen für unterschiedliche Gefahren finden sich auf alertswiss.ch oder der entsprechenden App.

Um für ein Naturgefahrenereignis generell gewappnet zu sein, empfiehlt sich eine Reihe von einfachen Massnahmen (siehe auch naturgefahren.ch / Umgang mit Naturgefahren / Verhaltensempfehlungen). Konkret sollte man …

  • sich über das generelle Gefahrenpotenzial am Wohn- und Arbeitsort informieren (die kantonalen Gefahrenkarten geben darüber Auskunft);
  • die wichtigsten Notfallnummern bereithalten;
  • einen Notvorrat anlegen (bei Naturgefahrenereignissen kann die Versorgung mit Lebensmitteln, Strom und Wasser nicht in jedem Fall garantiert werden);
  • eine Hausapotheke bereithalten;
  • Gebäude mindestens einmal pro Jahr auf allfällige Schäden überprüfen und die Befestigung von Antennen, Solaranlagen, Satellitenschüsseln, Storen sowie die Stabilität von Vordächern und Vorbauten kontrollieren;
  • überprüfen, welche verhältnismässigen Massnahmen getroffen werden können, um das Gebäude gegen die Naturgefahr zu schützen;
  • den Versicherungsschutz überprüfen und allenfalls anpassen. 

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Letzte Änderung 03.06.2020

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