Raumplanung und Störfallvorsorge: Wohnen und arbeiten in gefährlicher Umgebung

Heute wird zunehmend in der Nähe von heiklen Störfallanlagen wie Tanklagern, Pipelines oder Verkehrswegen mit Gefahrguttransporten gebaut. Die Revision der Störfallverordnung StFV und der Planungshilfe des Bundes soll die Koordination der Störfallvorsorge mit raumwirksamen Tätigkeiten weiter stärken.

Text: Stefan Hartmann

In Schönbühl (BE) führt die Gasleitung mitten durch Siedlungs- und Gewerbegebiet.
© BAFU

Die bauliche Verdichtung nach innen schreitet in der Schweiz rasch voran. Dies entspricht durchaus dem Gedanken einer Siedlungsentwicklung in bestehenden Bauzonen, wie es das revidierte Raumplanungsgesetz vorsieht. Vielerorts werden Baulücken, unternutzte Grundstücke oder Industriebrachen mit Wohnbauten oder öffentlich zugänglichen Gebäuden zonenkonform überbaut. Nicht selten entsteht so Wohnraum in der Nähe von Tanklagern oder Pipelines für Brennstoffe, was dazu führt, dass mehr Menschen von einem Störfall betroffen sein könnten als zuvor. Doch auch der Verkehr und die Transporte gefährlicher Güter auf Schiene und Strasse sind ständig am Wachsen. Entsprechend nimmt das Risiko möglicher Störfälle dort ebenfalls laufend zu.

Diese Entwicklung ist heikel. Deshalb verstärkt der Bund jetzt seine Anstrengungen, um die Kantone und Gemeinden bei der Bewältigung ihrer raumplanerischen Aufgaben zu unterstützen, die der Verhütung von gravierenden Unfällen dienen. Ein Blick in die Chronik von schweren Havarien veranschaulicht den Nutzen einer vorsorglichen Planung.

Riskante Nähe zu Wohnhäusern

Erinnert sei etwa an die Brandkatastrophe von 1986 im Industriegebiet Schweizerhalle bei Basel oder an den Güterbahnunfall im Bahnhof Zürich-Affoltern, wo im Jahr 1994 mehrere Kesselwagen mit Treibstoff entgleisten und explodierten. Drei nahe Wohnhäuser gerieten daraufhin in Brand, wobei drei Menschen schwere Verletzungen erlitten.

Die Explosion einer Erdgasleitung forderte 2004 im belgischen Ghislenghien 24 Todesopfer. Und im italienischen Viareggio kamen 2009 bei einem Eisenbahnunglück mit Flüssiggas sogar 32 Menschen ums Leben.

Wie diese Beispiele zeigen, sind Produktion, Lagerung und Transport gefährlicher Güter in der nahen Umgebung von Siedlungsgebieten stets mit Risiken verbunden. Die Gefahr von technischen Unfällen ist allgegenwärtig, weshalb sich zum Schutz der Bevölkerung eine gute Koordination von Raumplanung und Störfallvorsorge aufdrängt.

Lücke geschlossen

Vor diesem Hintergrund hat der Bund die seit 1991 rechtskräftige Störfallverordnung (StFV) im Jahr 2013 erstmals dahingehend angepasst. Er legte dabei Gewicht auf eine gute Koordination der Störfallvorsorge mit der kantonalen und kommunalen Richt- und Nutzungsplanung, um der Siedlungsentwicklung künftig besser Rechnung zu tragen. Insbesondere gilt es zu vermeiden, dass die Risiken entlang von Bahnlinien und Pipelines sowie von Wohngebieten neben Störfallbetrieben unkontrolliert steigen. Eine Untersuchung der neuen Koordinationsbestimmung hat deren Wirkung bestätigt. Trotz einer optimierten Abstimmung mit der Richt- und Nutzungsplanung besteht aber bei bereits eingezontem Bauland neben kritischen Anlagen noch Verbesserungspotenzial. Aus diesem Grund hat man die Koordination 2018 mit einer erneuten Verordnungsrevision auf alle raumwirksamen Tätigkeiten ausgeweitet – und somit auch auf Baubewilligungsverfahren für Projekte in bereits bewilligten Zonen. Damit liess sich die noch bestehende Lücke schliessen.

Interesse der Gesellschaft

«Die Störfallvorsorge ist im Interesse der ganzen Gesellschaft, da heute bei Unfällen im dichten Siedlungsgebiet viel mehr auf dem Spiel steht als noch vor 20 bis 30 Jahren», sagt Raphaël Gonzalez von der Sektion Störfall- und Erdbebenvorsorge beim BAFU. Eines der Hauptprobleme bilden Bauprojekte in rechtskräftigen Bauzonen, die in der Nähe von heiklen Anlagen geplant sind. Viele rechtskräftige Bauzonen und Bauvorhaben sind bereits vor Inkrafttreten der Störfallverordnung bewilligt worden – also zu einer Zeit, als die notwendige Vorsorge noch kaum ein Thema war.

Die Risikobegrenzung bei Störfallanlagen ist durch deren Betreiber zu gewährleisten. «Ein Investor von Wohnhäusern darf zwar im Gefahrenbereich neben solchen Anlagen bauen, wie dies gemäss der Bauordnung erlaubt ist», erklärt Raphaël Gonzalez. «Aber mit dichter bebauten Zonen steigt auch die Zahl von potenziell gefährdeten Menschen.» Hier wird das Problem einer mangelnden Koordination von Raumplanung und Störfallvorsorge deutlich. Deshalb sind Bund, Kantone, Gemeinden, Bauherren sowie die Inhaber von Störfallanlagen gefordert. Einzelne Kantone wie Genf oder Zürich haben die Prävention bereits jetzt in die Planungsprozesse einbezogen, indem sie die kantonalen Richt- und Nutzungspläne den veränderten Gegebenheiten angepasst haben. So werden die Raumplanung und die Störfallvorsorge bei Ein- und Aufzonungen besser aufeinander abgestimmt.

Bauherren früh sensibilisieren

«Die Kommunikation zwischen Behörde und Bauherren muss viel früher einsetzen als bis jetzt», meint Raphaël Gonzalez. Dadurch liessen sich Probleme rechtzeitig identifizieren und allenfalls nötige Sicherheitsmassnahmen im Bauprojekt bereits früh einplanen – statt erst zum Zeitpunkt des Baubewilligungsverfahrens. Dies sei etwa im Fall des Quartier de l’Étang in der Genfer Gemeinde Vernier (siehe Box) vorbildlich geschehen. «Es ist eine «Win-win-Situation für alle Parteien», betont Raphaël Gonzalez, weil sich so späteren Konflikten und Klagen, die oft Zeit und Geld kosteten, vorbeugen lasse. «Verpflichten kann man Bauherren, die in einer rechtskräftigen Bauzone bauen wollen, zu diesem Vorgehen allerdings nicht, da es freiwillig ist.»

Anders sieht es bei den Inhabern von risikorelevanten Anlagen aus. Gemäss Störerprinzip müssen sie Sicherheitsmassnahmen zur Verminderung von Störfallrisiken treffen und diese gestützt auf das umweltrechtlich verankerte Verursacherprinzip auch selbst bezahlen.

Hilfe für Behörden und Bauherren

Zur besseren Umsetzung der 2018 revidierten Störfallverordnung wird der Bund den kantonalen und kommunalen Planungs- und Baubewilligungsbehörden voraussichtlich im 2. Quartal 2019 eine entsprechend überarbeitete Planungshilfe zur Verfügung stellen. Das Bundesamt für Raumentwicklung (ARE), das BAFU, weitere Bundesstellen sowie Fachleute aus Kantonen und der Industrie haben das Dokument gemeinsam erarbeitet. Es soll eine einheitliche Vollzugspraxis von Artikel 11a der StFV ermöglichen. Dazu bietet die Planungshilfe sowohl den Bauherren als auch den Baugenehmigungsbehörden praktische Werkzeuge zur systematischen Prüfung eines allfälligen Handlungsbedarfs bei Bauprojekten in der Umgebung von
risikorelevanten Anlagen. Die Inhaber betroffener Grundstücke und ihre Berater können die praxisnahe Methode selbst anwenden – bei Bedarf in Zusammenarbeit mit der zuständigen Fachstelle für Störfallvorsorge. «In der Praxis hat sich gezeigt, dass sich Bauherren oft gar nicht bewusst sind, dass ihre Vorhaben mit Risiken für die künftigen Gebäudenutzer verbunden sind», stellt Raphaël Gonzalez fest.

Schutzschild für Wohnungen

Bedingt durch die relativ kleine Kantonsfläche und das knappe Bauland, ist Genf vom Konflikt zwischen Raumplanung und Störfallvorsorge besonders betroffen. Dies zeigt sich am Beispiel eines grossen Wohn- und Geschäftskomplexes im Quartier de l’Étang in Vernier, nahe dem Genfer Flughafen Cointrin. Bis 2022 soll das im Bau befindliche Projekt abgeschlossen sein.

Die 11 Hektaren grosse ehemalige Industriezone wird dereinst 2500 Einwohnerinnen und Einwohnern ein neues Zuhause und ebenso vielen Menschen Arbeitsplätze bieten. Bei der Planung musste man einer Reihe erschwerender Rahmenbedingungen Rechnung tragen. So ist das Baugebiet umgeben von Strassen und Schienen, auf denen auch Transporte gefährlicher Güter erfolgen. In der näheren Umgebung befinden sich ausserdem grosse Tanklager und Pipelines für Kerosin. Alle diese Infrastrukturanlagen bergen Risiken für potenzielle Chemieunfälle. Umso wichtiger war es daher, die Auflagen der Störfallverordnung (StFV) zu erfüllen. So müssen etwa die Fassaden des grossen Hausriegels gegenüber dem Tanklager störfallsicher konstruiert werden, um die künftigen Gewerbe- und Industriebetriebe besser abzusichern. Diese Gebäude wirken als Schutzschild für die dahinterliegenden Wohnbauten.

Die Planung erforderte eine anspruchsvolle Zusammenarbeit der verschiedenen Beteiligten wie Bauträger, Behörden oder Anlagebetreiber. Solche Projekte setzen bei Architektinnen und Planern, aber auch bei Investoren und Bauherren ein Bewusstsein für die Störfallvorsorge voraus. Die Akteure müssen die gleiche Sprache sprechen.

«Bei Beginn des Projekts Quartier de l’Étang war dies aber noch nicht der Fall, weil die Koordination zwischen Störfallvorsorge und Raumplanung damals in der Praxis noch zu wenig etabliert war», sagt Pascal Stofer, Chef des Fachbereichs Störfallvorsorge (SERMA) im Kanton Genf. Die verschiedenen Behörden aus den Bereichen Raumplanung, Gefahrenprävention oder Feuerwehr hätten zuerst lernen müssen, sich auszutauschen und zu verstehen. «Immer wieder tauchten dabei konkrete Fragen auf, die für alle neu waren. Dank einer engen Zusammenarbeit aller Beteiligten und einer Portion guten Willens konnten wir schliesslich sämtliche Schwierigkeiten aus dem Weg räumen.»

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Letzte Änderung 06.03.2019

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