Artenschutz: Jagd auf verbotene Schals

Bis zu 27 000 Franken kostet ein Shahtoosh-Schal, der aus den Wollhaaren der Tibetantilope gefertigt ist. Die Nachfrage nach diesen Kleidungsstücken brachte die streng geschützte Art an den Rand der Ausrottung. Die Schweiz ist ein Hotspot des illegalen Handels mit Shahtoosh – und eine Vorreiterin bei dessen Bekämpfung.

Text: Hansjakob Baumgartner

Tibetantilope Schaal
Für einen einzigen Schal müssen 2 bis 5 Tiere erlegt werden.
© Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen

Im Winter sinken die Temperaturen auf minus 40 Grad, und beissende Winde fegen dann zuweilen über das Land. Wer in den Steppen Tibets in Höhenlagen zwischen 3700 bis 5500 Metern überleben will, muss sich warm anziehen. Die Tibetantilope – auch Tschiru genannt – tut das. Sie trägt das wohl bestisolierende Fell, das die Natur entwickelt hat. Doch was dem Tier die Existenz in seinem klimatisch extremen Lebensraum ermöglicht, wäre ihm Ende des 20. Jahrhunderts beinahe zum Verhängnis geworden. Denn auch den Menschen sind die einzigartigen Qualitäten des Tschirufells nicht entgangen. Das Haar ist das feinste aller tierischen Haare – und fünfmal feiner als ein menschliches. Shahtoosh heisst die Wolle, die daraus gewonnen wird. Das persische Wort lässt sich mit «Königswolle» übersetzen. Ihre Verarbeitung zu warmen und zugleich hauchzarten Schals hat eine jahrhundertelange Tradition. Tibetische Nomaden erbeuteten die Tiere und brachten deren Felle auf dem Rücken von Yaks über die Pässe des Himalayas nach Indien. Die Wolle zu Schals zu verarbeiten ist hohe Handwerkskunst. Sie blieb traditionell in den Händen von spezialisierten Familienbetrieben in der Stadt Srinagar im Kaschmirtal. Abnehmer der Kleidungsstücke waren begüterte Familien, die diese über Generationen weitervererbten oder der Tochter als Mitgift in die Ehe gaben.

Schwieriger Kampf gegen die Wilderei

Schon früh wurden die Schals auch exportiert: Napoleon beschenkte damit seine Geliebte Joséphine, die davon sehr angetan war. Wer dies heute tut, macht sich strafbar. Im Übereinkommen über den internationalen Handel mit gefährdeten Tier- und Pflanzenarten (CITES) ist die Tibetantilope seit 1975 im Anhang I verzeichnet: Aus- und Einfuhr von Exemplaren dieser Arten – oder Teilen davon – sind verboten. Auch in China, auf dessen Territorium so gut wie die gesamte Tschiru-Population lebt, ist die Art geschützt. Doch in den entlegenen Gebieten des tibetischen Hochlands war die chinesische Wildhut im Kampf gegen die Wilderei lange Zeit nahezu chancenlos. Bloss 150 Gramm Rohwolle liefert eine Antilope. Für einen einzigen Schal müssen deshalb 2 bis 5 Tiere erlegt werden. Solange die Nachfrage nach Königswolle im Rahmen blieb, konnten die Bestände den Aderlass einigermassen verkraften. Mitte des 20. Jahrhunderts wurden jährlich nur 20 bis 30 Kilogramm verarbeitet. Die Nachfrage stieg jedoch massiv an, als die Königswolle in den 1990er-Jahren zum Luxusgut für einen globalisierten Markt mutierte. Die Schönen und Reichen der Welt entdeckten den Shahtoosh-Schal als exquisites Accessoire und Statussymbol. Um die Nachfrage zu decken, brauchte es 1997 bereits 3000 Kilogramm Wolle. Bis zu 27 000 Franken werden für einen Schal bezahlt. Entsprechend explodierten die Preise für den Rohstoff. Vor 1990 erhielt ein tibetischer Nomade 7,5 bis 9 US-Dollar für ein Tschirufell. Danach stieg der Erlös auf bis zu 50 Dollar.

Am Rand der Ausrottung

Die gesteigerten Gewinnaussichten befeuerten die Wilderei. Jetzt wurde den Tieren mit Offroadern und Automatikgewehren nachgestellt. In der Folge sank der Tschirubestand innert Kürze um 80 bis 90 Prozent. Die Ausrottung schien bloss noch eine Frage der Zeit.

Es kam nicht so weit. Seit der Jahrtausendwende erholen sich die Bestände. Heute leben gesamthaft wieder rund doppelt so viele Tschirus in Tibet wie Mitte der 1990er-Jahre. Der intensivierte Kampf der chinesischen Behörden gegen die Wilderei und die internationalen Bemühungen, den Shahtoosh-Schmuggel einzudämmen, zeigen Erfolg. Die Situation könne sich allerdings rasch wieder verschlechtern, wenn es nicht gelinge, den Schutz der Art in ihrem Verbreitungsgebiet aufrechtzuerhalten und den illegalen Handel mit Shahtoosh zu unterbinden, mahnt die Weltnaturschutzunion IUCN. Gefordert ist auch die Schweiz. Denn sie ist ein wichtiger Absatzmarkt für diese Textilien: Eine zahlungskräftige Kundschaft dafür findet sich vorab in den teuersten Tourismusorten. Regelmässig werden an den Flughäfen und in Boutiquen Schals beschlagnahmt. Der vielleicht spektakulärste Fall wurde 2003 publik. Unter dem Ladentisch eines St. Moritzer Bijoutiers kamen 38 Shahtoosh-Schals zum Vorschein. Eine Kontrolle der Buchhaltung ergab, dass der Besitzer in den Vorjahren bereits 500 Shahtoosh-Schals für insgesamt 3 Millionen Franken verkauft hatte. Die noch vorhandenen 38 Schals wurden konfisziert, der Täter musste 800 000 Franken Busse bezahlen.

Guardia di frontiera
Dal 2013 i doganieri sono coadiuvati anche da cani appositamente addestrati. Nel centro di formazione di Interlaken, oltre allo shahtoosh, i cani imparano a riconoscere anche altri prodotti animali vietati, come l’avorio e le pelli di rettile.
© Peter Klaunzer/KEYSTONE

Aufmerksame Zollbehörden

Die Umsetzung des CITES-Übereinkommens in der Schweiz regelt das 2013 in Kraft getretene Bundesgesetz über den Verkehr mit Tieren und Pflanzen geschützter Arten (BGCITES). Vollzugsbehörde ist das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV). Es arbeitet eng mit der Polizei und dem Zoll zusammen. 2015 wurden hierzulande insgesamt 70 Shahtoosh-Schals konfisziert, 2016 waren es 61. «Die Schweiz beschlagnahmt am meisten Shahtoosh-Schals in ganz Europa», berichtet Lisa Bradbury, die das Dossier «Tibetantilope» im BLV betreut. Dies habe nicht allein mit der Bedeutung unseres Landes als Schwarzmarkt für diese Kleidungsstücke zu tun. «Unsere Zollbehörden schauen auch genauer hin und sind für das Problem sensibilisiert», sagt die Biologin. Shahtoosh zu identifizieren ist nicht leicht. Das BLV hat hierzu spezielle mikroskopische Methoden etabliert. Seit 2013 werden die Grenzwächter auch von Hunden unterstützt. Das Grenzwachtkorps hat 5 Schäferhunde ausgebildet, die verbotene tierische Produkte wie Elfenbein, Reptilienhäute oder Felle erschnüffeln können. «Wir haben in den letzten Jahren viel Know-how bei der Bekämpfung des Shahtoosh-Schmuggels erworben», sagt Lisa Bradbury. «Diese Erfahrung wollen wir nun weitergeben.» 2016 fand in Lyon (F) unter Federführung von BLV und Interpol ein Workshop über Methoden zur Identifikation von Shahtoosh statt. Nebst den Ursprungsländern China und Indien waren auch mehrere europäische Staaten mit Expertinnen und Experten vertreten.

Gesetz wird verschärft

Für Schmuggler und Schwarzhändler steigt damit das Risiko, erwischt zu werden. Mittelfristig müssen sie in der Schweiz auch härtere Strafen gewärtigen. National- und Ständerat haben 2016 eine Motion überwiesen, die eine Verschärfung des BGCITES fordert. Der gewerbs- oder gewohnheitsmässige Handel mit bedrohten Arten und Erzeugnissen, die daraus hergestellt wurden, soll künftig als Verbrechen anstatt – wie bisher – bloss als Vergehen geahndet werden. Hilfreich ist auch, dass der Stoff mittlerweile in begüterten Kreisen als anrüchig gilt. Wer etwas auf sich hält, trägt heute einen Schal aus «Eco-Shahtoosh». Dieser besteht aus artenschützerisch unbedenklicher Wolle der Kaschmirziege und genügt dank neu entwickelter Spinn- und Webverfahren ebenfalls höchsten Ansprüchen an Feinheit und Weichheit. Seine Herstellung in Handarbeit ist eine Job-Alternative für die Beschäftigten in der illegalen Shahtoosh-Produktion im Kaschmirtal.

Erhaltung der Wanderrouten

Neue Gefahren drohen dem Tschiru andererseits von Wanderhindernissen. Nach der Paarungszeit ziehen die weiblichen Tschirus jeweils über mehrere Hundert Kilometer zu den Kalbungsplätzen. Dabei stossen sie zunehmend auf unüberwindbare Weidezäune.

Im Rahmen des Übereinkommens zur Erhaltung wandernder Tierarten (CMS) unterstützt das BAFU die Zentralasiatische Säugetierinitiative, die bezweckt, die Bewegungsfreiheit der Säugetiere in den asiatischen Steppen zu erhalten.

«Shahtoosh darf nie mehr zu einem Must-have werden»

Heinrich Haller, Direktor des Schweizerischen Nationalparks, über die Wilderei im chinesischen Hochland und erfolgreiche Gegenmassnahmen.

Interview: Hansjakob Baumgartner

Herr Haller, Sie haben 2016 ein Buch über die Wilderei im Dreiländereck Schweiz-Italien-Österreich publiziert. Darin findet sich auch ein Kapitel über Shahtoosh, für das Sie in den Jahren 2006 bis 2012 während mehrerer Reisen vor Ort recherchierten. Wie viele Tibetantilopen werden derzeit noch jährlich illegal getötet?

Heinrich Haller, Direktor des Schweizerischen Nationalparks
Heinrich Haller, Direktor des Schweizerischen Nationalparks

Heinrich Haller: Das lässt sich kaum beziffern. Mit Sicherheit sind es weit weniger als die rund 20 000 Tiere pro Jahr, die kurz vor der Jahrtausendwende dem damaligen Shahtoosh-Boom zum Opfer fielen. Damals musste die Weltnaturschutzunion die Tibetantilope als «stark gefährdet» einstufen, heute ist sie noch «potenziell gefährdet». Dies weist darauf hin, dass die Wilderei den Gesamtbestand der Art nicht mehr beeinflusst. Unter Umständen könnte sich dies allerdings rasch wieder ändern: Mit entsprechenden Mitteln können in kurzer Zeit viele Tiere getötet werden, und die Aufsicht im entlegenen Lebensraum der Tschirus ist schwierig, lückenhaft und oft marginal.

Die schlimmste Zeit ist aber offenbar vorbei. Was sind die Gründe für die positive Entwicklung?

Entscheidend war die eingeschränkte Nachfrage nach Shahtoosh. In gewissen gut betuchten Kreisen sind solche Schals nach wie vor beliebt, insgesamt ist man sich aber mittlerweile der blutigen Hintergründe dieser besonderen Wolle bewusst: Das Tragen von Shahtoosh ist heute anstössig geworden. Zu diesem Gesinnungswandel haben auch weibliche Berühmtheiten wie Michelle Obama und Jennifer Aniston beigetragen. Im Übrigen hat in China als Ursprungsland der Tschirus das Umweltbewusstsein generell zugenommen. Das Bestreben, in der Staatengemeinschaft auch bezüglich Schutz der Umwelt eine wichtige Rolle zu spielen, ist mit Verpflichtungen verbunden, die auch Tibet einschliessen.

Was braucht es, um die Wilderei weiter einzudämmen?

Das bisherige Vorgehen muss konsequent weitergeführt werden. Shahtoosh darf nie mehr zu einem Must-have in gewissen Gesellschaftskreisen werden. Die Überwachung der Tibetantilopen vor Ort ist aufwendig, doch darf man entsprechende Anstrengungen vor allem in den dortigen riesigen Schutzgebieten erwarten. Die vorbildlichen Bemühungen der Schweizer Behörden, Shahtoosh-Schmuggel zu unterbinden, sind für den Artenschutz wichtige Signale, die international Beachtung finden und hoffentlich den Standard setzen. 

Weiterführende Informationen

Kontakt
Letzte Änderung 10.04.2018

Zum Seitenanfang

https://www.bafu.admin.ch/content/bafu/de/home/themen/recht/dossiers/magazin2018-1-dossier/jagd-auf-verbotene-schals.html