29.05.19 - Für die chemische Industrie ist Chlor als Produktionsmittel unerlässlich. Sein Transport geht aber mit Risiken einher. Um die Gefahren zu bannen, haben die chemische Industrie, Transportunternehmen und Bundesämter unter Leitung des BAFU gemeinsam Massnahmen zur Verbesserung der Sicherheit auf der Schiene festgelegt.
Text: Lucienne Rey
Ein Fussbodenbelag in Buchenoptik, eine Langspielplatte der Beatles von 1969 und Abwasserrohre aus Plastik haben auf den ersten Blick nicht viel gemeinsam. Und doch sind sie aus dem gleichen Material gefertigt – dem Kunststoff Polyvinylchlorid (PVC). Dieser ist äusserst vielfältig, zumal er dank Weichmachern seine Sprödigkeit verliert und von der dünnen Folie über das biegsame Rohr bis zur soliden Platte praktisch jede Form und Festigkeit annehmen kann.
Für seine Herstellung braucht es – wie schon der Name verrät – auch Chlor (Cl2). Dieses Molekül wird zur Produktion von zahlreichen Gütern benötigt, doch Vinylchlorid, das Ausgangsmaterial für PVC, macht den grössten Teil der chlorhaltigen Erzeugnisse aus. «Chlor ist Teil unseres modernen Lebensstils», bestätigt denn auch Barbora Neveršil, Informationsbeauftragte beim Mediendienst des BAFU. Ausser in der Kunststoffproduktion wird Chlor auch beim Bleichen – etwa von Zellulose zur Papierherstellung –, als Bestandteil von Pflanzenspritzmitteln oder in der Wasseraufbereitung und Desinfektion eingesetzt.
Besorgte Bevölkerung
Unter Normalbedingungen – das heisst bei Temperaturen um den Gefrierpunkt und unter Luftdruck auf Meereshöhe – ist Chlor gasförmig. Von allen nichtmetallischen Elementen gehört es zu den reaktionsfähigsten und ist damit ausgesprochen giftig: Es reagiert mit menschlichem, tierischem und pflanzlichem Gewebe und zerstört es. Schon in Konzentrationen ab einem halben Prozent verätzt das stechend riechende Gas Hals und Lunge. Träte es nach einem Unfall aus einem beschädigten Behälter aus, würde es sich dem Boden entlang ausbreiten, weil es schwerer ist als Luft.
Chlor kostet vergleichsweise wenig. Daher passt seine Herstellung schlecht ins Portfolio von Schweizer Betrieben, die auf eine hohe Wertschöpfung ausgerichtet sind. Die beiden Schweizer Firmen, die am stärksten auf importiertes Chlor setzen, befinden sich im Wallis und kaufen die heikle Substanz hauptsächlich in Frankreich ein. Der Transportweg via Genf und Lausanne führt durch dicht besiedelte Gebiete, wo bodennahe Gaswolken bei einem Störfall bis weit in Wohnquartiere vordringen könnten. Kein Wunder, dass unter der Bevölkerung Besorgnis aufkommt und sich Widerstand regt: «Vor einigen Jahren schlug das Thema hohe Wellen», erinnert sich Daniel Bonomi von der Sektion Erdbeben- und Störfallvorsorge des BAFU. So kursierten insbesondere in der Westschweiz Karten, die aufzeigten, wo sich überall Chlorgaswolken ausbreiten könnten.
Der Kanton Genf blieb nicht untätig. Im Februar 2015 reichte er der Bundesversammlung eine Standesinitiative ein, die auf den Stopp der Chlortransporte abzielte. Die Behörden argumentierten, die entsprechenden Eisenbahntransporte in der Region hätten sich innerhalb von 10 Jahren verdoppelt. Angesichts des Risikos dieser Fuhren müsse man entlang der Bahnstrecke den Bau neuer Wohnungen begrenzen – und dies in Zeiten akuten Wohnraummangels in Genf.
Um Lösungen ringen
Der Initiative leisteten weder Stände- noch Nationalrat Folge. Die Zurückhaltung der Politik ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass sich die massgeblichen Akteure selbst ins Zeug legten, um die Risiken zu mindern. Mit von der Partie waren scienceindustries – der Schweizer Wirtschaftsverband Chemie Pharma Life Sciences –, die SBB als hauptsächlich beteiligtes Transportunternehmen, der Verband der verladenden Wirtschaft (VAP) sowie das Bundesamt für Verkehr (BAV) und das BAFU. Sie unterzeichneten im September 2016 die «Gemeinsame Erklärung II über die Reduktion der Risiken für die Bevölkerung infolge des Transports von Chlor in Kesselwagen» – kurz GE II.
Die GE II folgte auf eine erste «Gemeinsame Erklärung», die das Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK), die SBB und die Vorgängerorganisation von scienceindustries bereits im Jahr 2002 verabschiedet hatten. Dank den damals vereinbarten Massnahmen, die etwa eine Optimierung der Transportwege und die Verbesserung der Kesselwagen – unter anderem mit Entgleisungsdetektoren – umfassten, konnte das BAV als zuständige Aufsichtsbehörde für den Gefahrguttransport auf der Schiene im Jahr 2011 melden, es gebe nun keinerlei Bahnabschnitte mit «untragbaren Personenrisiken» mehr. Dies im Unterschied zum Jahr 2004, als eine erste Überprüfung der Gefahrgutrisiken des Schienennetzes mehreren Streckenabschnitten von insgesamt 34 Kilometern aufgrund der Chlortransporte ein «nicht tragbares Risiko» bescheinigt hatte.
Die GE II geht nun noch einen entscheidenden Schritt weiter. «Die betroffenen und verantwortlichen Behörden, Organisationen und Betriebe haben sich zusammengesetzt, Risikoreduktionsziele definiert und entsprechende Massnahmen festgelegt», beschreibt Daniel Bonomi den vom BAFU geleiteten, aufwendigen Prozess.
Neue Bezugsquellen und Fahrpläne
Die beiden wichtigsten Massnahmen, die man in der ersten Phase gemäss GE II bis zu Beginn des Jahres 2019 umgesetzt hat, betreffen die Transportstrecke des Chlors und das Fahrplanregime. Die Industrie hat sich bemüht, in Italien neue Bezugsquellen für Chlor zu finden. Einige Tausend Tonnen Chlor gelangen nun vom südlichen Nachbarland in die Schweiz, womit sich die Transportwege verkürzen. Zudem müssen hier keine grösseren Agglomerationen durchquert werden.
Überdies verkehrt neu ein Sonderzug, der einmal pro Woche mit reduzierter Geschwindigkeit von 40 Stundenkilometern die Chlorwagen von Frankreich ins Wallis bringt. Diese beiden Massnahmen tragen am meisten dazu bei, das Unfallrisiko für Chlortransporte mit Bahnkesselwagen um den Faktor 10 zu senken.
Weitere Massnahmen sind in Umsetzung. Eine betrifft das verwendete Rollmaterial. Gemäss der GE II sollen für den Transport von Chlorgas nur noch die derzeit sichersten Kesselwagen zum Einsatz gelangen, deren Ausrüstung über den international verlangten Standard hinausgeht. Verglichen mit technisch weniger ausgereiften Modellen zeichnen sie sich beispielsweise durch optimierte Crashpuffer aus, die Energie absorbieren und damit die Struktur des Fahrzeugs vor allfälligen Deformationen schützen. Schliesslich verpflichtet sich die SBB, entlang der Strecken sämtliche Hindernisse zu beseitigen, die bei einer Entgleisung die Kesselwagenwand beschädigen könnten. Dies betrifft in erster Linie die sogenannten Gleisversicherungen, das heisst die neben den Gleisen senkrecht einbetonierten Messschienen, die man heute nicht mehr benötigt. Die Nachbarländer sollen über die ergriffenen Vorkehrungen beim Umgang mit Chlor auf dem Laufenden gehalten werden. Und auch mit den kantonalen Behörden wird als vorsorgliche Massnahme die Einsatzplanung abgesprochen, um diese wo nötig ebenfalls zu optimieren.
In der Nähe produzieren
Die oft geforderte Risikoreduktion durch den Bau einer Chlorproduktionsanlage in der Nähe der Verbraucher ist bis auf Weiteres keine Option. Diese Lösung ist für die betroffenen Betriebe unwirtschaftlich, weil importiertes Chlor wesentlich günstiger ist, und alternative Finanzierungsvarianten sind nicht gefunden worden. Die GE II sieht aber flankierende Massnahmen vor. Gemäss dem Verursacherprinzip sind die Ausgaben für die Sicherheitsmassnahmen gänzlich auf die Transportpreise abzuwälzen. Steigende Chlorpreise könnten die Motivation erhöhen, den benötigten Rohstoff vor Ort herzustellen. Da schliesslich auch der schönste Plan nichts bringt, wenn seine Umsetzung nicht überprüft wird, postuliert die GE II zusätzlich ein Monitoring unter Federführung des BAFU, das mit der Aufsicht über den Vollzug der Störfallverordnung betraut ist. Die betroffenen Parteien kommen regelmässig zusammen, um die Fortschritte bei den vereinbarten Vorkehrungen zu erörtern und gegebenenfalls weitere Massnahmen aufzugleisen. Damit will man die Bedürfnisse der chemischen Industrie nach dem Rohstoff und das Sicherheitsinteresse der Bevölkerung mittelfristig unter einen Hut bringen.
Störfallverordnung setzt den Massstab
Die in der Gemeinsamen Erklärung II (GE II) von Wirtschaft, SBB und Behörden formulierten Massnahmen sind auf ein übergeordnetes Ziel ausgerichtet: Ab 2019 dürfen die Risiken für die Bevölkerung durch Chlortransporte auf der Schiene nicht mehr im inakzeptablen Bereich liegen. So verlangen es die speziell für diese Transporte verschärften Beurteilungskriterien. Bei der Risikobeurteilung wird die Eintretenswahrscheinlichkeit eines Ereignisses der Anzahl zu erwartender Todesopfer gegenübergestellt. Je mehr Tote zu befürchten wären, desto seltener darf ein Ereignis eintreten. In Zahlen ausgedrückt, soll die Wahrscheinlichkeit, dass innerhalb eines Jahres ein Ereignis beispielsweise 100 Todesopfer fordert, unter 1 zu 100 Millionen betragen. Zum Vergleich: Dass jemand bei einer Ziehung des Schweizer Zahlenlottos den Hauptgewinn knackt, ist rund 500-mal wahrscheinlicher.
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Letzte Änderung 29.05.2019