Landschaftsdynamik: Ein Trumpf im Kampf gegen die Klimaerwärmung

Auch die Schweiz bleibt von der weltweiten Klimakrise nicht verschont. Durch die Wiederherstellung der natürlichen Landschaftsdynamik kann der Temperaturanstieg jedoch bekämpft werden.

Text: Anne Burkhardt

Revitalisierung Aire im Kanton Genf
Nach der Revitalisierung des kleinen Flusses Aire im Kanton Genf kann sich das Gewässer innerhalb von rautenförmig ausgebaggerten Furchen selbst seinen Weg bahnen.
© Fabio Chironi

Sommertrockenheit, Starkniederschläge, schnee­arme Winter, immer mehr Hitzetage und Tropennächte: So macht sich die Klimaerwärmung hierzulande bemerkbar. Die Risiken von Naturgefahren nehmen zu. Gleichzeitig setzen Bevölkerungswachstum und Bodennutzung unsere Landschaften und die biologische Vielfalt unter Druck. 1997 hat der Bundesrat das Landschaftskonzept Schweiz verabschiedet. Dieses formuliert eine kohärente Politik und gibt verbindliche raumplanerische Ziele vor, welche den Schutz von Natur und Landschaft gewährleisten. Eine intakte natürliche Landschaftsdynamik kann viel zur Begrenzung der negativen Folgen der Erwärmung beitragen. «Es braucht Lösungen, die den neuen klimatischen Bedingungen Rechnung tragen und einen Mehrwert für die Natur und die Menschen bieten», erklärt Claudia Moll, wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Biodiversität und Landschaft des BAFU und dort zuständig für die Landschaft im bebauten Raum. Dies erfordert zwingend ein koordiniertes Vorgehen aller Akteure sowie die Berücksichtigung regionaler Gegebenheiten.

In stetem Wandel

Die Europäische Landschaftskonvention, die von der Schweiz 2013 ratifiziert wurde, definiert Landschaft als «ein Gebiet, wie es vom Menschen wahrgenommen wird, dessen Charakter das Ergebnis der Wirkung und Wechselwirkung von natürlichen und/oder menschlichen Faktoren ist». Diese Umschreibung impliziert, dass Landschaften sich stetig verändern. Das Klima hat einen massgeblichen Einfluss darauf, welche Lebewesen sich wo ansiedeln können, denn jede Art hat ihre eigenen Ansprüche. Infolge des Temperaturanstiegs werden gewisse Arten wandern oder aussterben und Naturphänomene sich verändern. Dadurch wird sich das Aussehen der Landschaft tief greifend wandeln (siehe Box S. 36).

Ereignisse wie Lawinen, Hangrutsche, Brände, Stürme und Hochwasser, die gemeinhin als Naturgefahren gelten, dürften unter gewissen Umständen der Biodiversität förderlich sein, denn sie schaffen neue Räume, in denen sich zunächst Pionierarten und später auch andere Pflanzen und Tiere ansiedeln können. Solch «störende» Ereignisse setzen eine natürliche Dynamik in Gang und tragen überdies zur Verjüngung von Populationen bei. Voraussetzung dafür ist indes, dass sie relativ selten und räumlich begrenzt sind, sodass Wiederansiedlungen möglich sind.

Mensch mischt sich ein 

Nur im Hochgebirge oder im Schweizerischen Nationalpark kann sich die natürliche Dynamik noch ungehindert entfalten. In tieferen Lagen haben Viehzucht sowie Wintersport- oder Wasserkraftanlagen sichtbare Spuren hinterlassen. Im Flachland hat der Mensch die Natur weitgehend domestiziert. Vor allem die Gewässer wurden tro­ckengelegt oder kanalisiert, um Boden für die Landwirtschaft, Siedlungen, die Industrie oder Verkehrswege zu gewinnen. Aber es gibt noch vereinzelte Gebiete, die sich ungehindert entwickeln können, etwa Auen, Waldreservate und Kernzonen von Naturerlebnispärken.

Mancherorts wurden die menschlichen Tätigkeiten indessen exzessiv ausgebaut. Die Folgen sind ein Verlust an Landschaftsqualität und biologischer Vielfalt, vermehrte Bodenversiegelung sowie Bauten und Infrastrukturen an Standorten, die gegenüber Naturgefahren stark exponiert sind. «Im Zuge des Klimawandels wird es vermehrt zu Extremereignissen wie Hochwasser und Hangrutschen kommen, die zwangsläufig Schäden verursachen», stellt Claudia Moll vom BAFU fest. Um Abhilfe zu schaffen, wurden im Landschaftskonzept Schweiz (LKS) klare Leitlinien für die Raumentwicklung definiert. Das im Jahr 2020 aktualisierte Konzept konkretisiert die bestehenden gesetzlichen Aufträge, etwa in den Bereichen Natur- und Landschaftsschutz, Wald, Landwirtschaft und Gewässerschutz.

Wieder natürliche Dynamik

Seit 2011 verpflichtet das Gewässerschutzgesetz die Kantone zur Revitalisierung ihrer Flüsse und Bäche. In Frauenfeld (TG) etwa wurde das Ufer eines kanalisierten Abschnitts der Murg abgeflacht und ein Altlauf des Flusses wieder aktiviert, sodass ein Auengebiet entstand. Der Fluss, das Weidengehölz und eine Magerwiese bieten nun Lebensräume für eine grosse Vielfalt von Tieren und Pflanzen; neu angelegte Spazierwege, Picknick- und Badeplätze laden zur Erholung und zum Verweilen ein. «Mit der fortschreitenden Siedlungsentwicklung nach innen werden gut erreichbare Erholungsräume immer wichtiger», unterstreicht Claudia Moll. Verschiedene Untersuchungen haben die positive Wirkung von Grünräumen auf die Gesundheit und die sozialen Kontakte bestätigt.

Nicht zuletzt wurde der Murg-Auen-Park klimagerecht gestaltet: Bäume binden in der Wachstumsphase CO2 und spenden im Sommer kühlenden Schatten, was den Park in Hitzeperioden besonders attraktiv macht. «Zu Fuss oder mit dem Velo gut erreichbar, sind solche Naherholungsgebiete für Anwohner und Anwohnerinnen attraktive Orte, um ihre Freizeit zu verbringen», fährt Moll fort. Kurzum: Von der Wiederherstellung der natürlichen Dynamik dieses Flussabschnitts profitieren sowohl die Biodiversität als auch das Klima und die Bevölkerung.

Dialog pflegen

Nicht selten überschreitet die Landschaftsgestaltung Gemeindegrenzen und fordert die Mitwirkung zahlreicher Akteure. Ein treffendes Beispiel dafür ist die Revitalisierung des Flusses Aire im Kanton Genf und im benachbarten Frankreich. «Bei diesem Vorhaben wurden alle Beteiligten eingebunden: Bauern, die Land abtreten mussten, Vertreterinnen und Vertreter der Gemeinden, Naturschutzverbände sowie Anwohnerinnen und Anwohner», erläutert die Fachfrau des BAFU. Für die Bevölkerung entstand anstelle des teilweise zugeschütteten Kanals eine attraktive Promenade. Das Gewässer wiederum kann sich innerhalb von rautenförmig ausgebaggerten Furchen selbst seinen Weg bahnen. Mit der Wiederherstellung von Gräben,
Hecken, Gebüschen und Feuchtgebieten wurde zudem ein ökologischer Korridor durch das Landwirtschafts- und Siedlungsgebiet geschaffen, der vor Hochwasser schützt und den Menschen als Erholungsraum dient. Solche funktionsfähigen Ökosysteme stärken die natürliche Anpassungsfähigkeit der Lebensräume angesichts des Klimawandels.

Harmonischere Entwicklung

Es sind vor allem die landschaftlichen Qualitäten, die die Schönheit der Schweiz ausmachen. Boden ist hierzulande rar und will klug genutzt werden. Der Spagat zwischen Wirtschaftswachstum und Landschaftsschutz ist schwierig. Dennoch braucht die Natur rund um die Städte und Agglomerationen, wo fast 85 Prozent der Bevölkerung leben, dringend mehr Raum. Die Wiederherstellung der natürlichen Dynamik kommt meistens nicht nur der Artenvielfalt zugute, sondern ist vielmehr eine solide Investition in die Begrenzung der Folgen der Klimaerwärmung, was wiederum der menschlichen Gesundheit und Infrastruktur zugutekommt. Raumplanung ist auf eine reibungslose Koordination aller Akteure angewiesen. «Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass der Dialog enorm wichtig ist. Zugleich müssen die Verhältnismässigkeit gewahrt und regionenspezifische landschaftliche Merkmale bewahrt werden», bilanziert Claudia Moll. Gerade vor dem Hintergrund des Klimawandels könnte die nachhaltige Landschaftsentwicklung durchaus zum Wohlbefinden der Menschen in der Schweiz beitragen.

Klimawandel in der Schweiz

Hierzulande hat sich die jährliche Durchschnittstemperatur seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts um 1,8 Grad Celsius erhöht. Laut MeteoSchweiz ist in Zukunft mit häufigeren und längeren Hitzewellen, gepaart mit vermehrten sommerlichen Trockenperioden, zu rechnen. Starkniederschläge werden häufiger und intensiver, die Gletscher ziehen sich zurück, es fällt weniger Schnee. Der Permafrost in den Alpen taut bis in immer grössere Tiefe auf, das Gelände wird instabil.

All dies hat Folgen für Lebewesen: Verschiedene Arten dürften sich in höhere, kühlere Lagen zurückziehen. Einige davon werden aussterben, weil sie nicht rasch genug neue Standorte besiedeln können, andere wiederum werden von Konkurrenten verdrängt werden. So könnte die Fichte aus dem Flachland verschwinden. Für Winterweizen und Kartoffeln wird es an Wasser fehlen, gewisse Insekten werden sich bei wärmeren Temperaturen vermehrt ausbreiten. Hitzewellen werden die Sterblichkeit nach oben treiben und Wasserknappheit verursachen. Das Auftauen des Permafrostes und Starkniederschläge verursachen immer häufiger Überschwemmungen, Hangmuren, Rutschungen und Murgänge. Greifen die Massnahmen zur Begrenzung der Klimaerwärmung nicht, hat dies Folgen für unsere Lebensqualität und die Landschaft.

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Letzte Änderung 02.09.2020

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