Alpenrhein: Viele Stolpersteine auf dem Weg zum neuen Flussbett

2.9.2020 - Am Alpenrhein tritt das Hochwasserschutzprojekt Rhesi in eine entscheidende Phase. Es geht darum, das generelle Projekt in ein genehmigungsfähiges Bauvorhaben zu überführen. Doch die vielen Ansprüche und unterschiedliche Partizipationskulturen in der Schweiz und in Österreich bieten noch so manchen Stolperstein.

Text: Martin Arnold

Bernhard Valenti – Projektingenieur bei der Internationalen Rheinregulierung (IRR) – steht auf der Aussichtsplattform und überblickt das steinerne Korsett des Alpenrheins. Das Modell des Flussabschnitts im Massstab 1:50 bringt den einer Autobahn gleichenden Streckenverlauf des Gewässers zwischen Widnau (SG) und dem 5 Kilometer flussabwärts gelegenen Höchst in Österreich gut zum Ausdruck: Es zeigt den Rhein so ein­tönig kanalisiert, wie er heute ist (siehe Aufnahme S. 54). Doch bald simulieren die Techniker der Internationalen Rheinregulierung gemeinsam mit Wasserfachleuten der ETH Zürich hier die Zukunft eines vom inneren Damm befreiten, teilweise revitalisierten Rheins, der im Interesse der Gefahrenprävention grössere Wassermengen abzuleiten vermag. Wenn alles gut geht, kann der Bau des eigentlichen Hochwasserschutzprojektes Rhesi gegen Ende dieses Jahrzehnts beginnen. Dabei geht es um den insgesamt 26 Kilometer langen Flussabschnitt zwischen der Illmündung im Vorarlberg (A) und dem Bodensee. Das Modell stellt vorerst nur eine Teilstrecke dar.

Erholung und Sicherheit

Rhesi steht als Abkürzung für die Begriffe Rhein, Erholung und Sicherheit. Damit ist angedeutet, dass dieses Projekt viele Anforderungen erfüllen muss – und das in zwei Staaten. Die Bauzeit wird 20 Jahre betragen. Vor Baubeginn ist noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten, denn im dicht besiedelten Rheintal treffen verschiedene Interessen aufeinander.

Das Modell beantwortet wissenschaftliche Fragen und veranschaulicht für die Bevölkerung, wie ihre Lebensader in Zukunft aussehen könnte. Seit dem Sommer 2019 wollten dies Tausende von Interessierten erfahren, obwohl das Modell nur eine Teilstrecke abbildet. Immerhin stellt es den Flaschenhals auf dem Abschnitt dar, der dereinst auch als erste Bauetappe realisiert werden soll.

Wasserbauliche Modellversuche

«Auf diesen 100 Modellmetern haben wir alles im Massstab 1:50 dargestellt – auch die Wassermenge, mit der wir beispielsweise die Hochwassersituation in den Jahren 2000 und 2001 simulieren», erklärt Projektingenieur Valenti. Dabei entsprechen jeweils 7 Fliesstage im Modell 50 Tagen in der Natur. «Wir wollen herausfinden, ob die damaligen Veränderungen der Rheinsohle auch denjenigen im Modell entsprechen.» Solche Simulationen dienen dazu, die geplanten Massnahmen für eine höhere Hochwassersicherheit und die ökologische Gestaltung zu optimieren.

Dank der Zusammenarbeit mit der Fachhochschule Vorarlberg können Interessierte auf einem Tablet jeden Zentimeter des Modells mit dem künftigen, erweiterten Alpenrhein überblenden. Die Erkenntnisse dieser wasserbaulichen Modellversuche dienen dazu, das 2018 präsentierte generelle Projekt zu optimieren. Es ist das Zwischenergebnis eines noch andauernden konsultativen Prozesses, wie Markus Hostmann von der Sektion Hochwasserschutz beim BAFU betont.

Die Rhesi-Verantwortlichen entwickelten in einem partizipativen Prozess das generelle Projekt als Synthese der naturnahen Variante K1 und ihres technischen Gegenstücks K2. Es entspricht einem Vorprojekt, das nun ebenfalls in einem Konsultativverfahren zum Auflageprojekt weiterbearbeitet wird. Es berücksichtige sowohl die gesetzlichen Anforderungen als auch die Interessen der verschiedenen Beteiligten gut, findet Markus Hostmann.

Trotzdem sind nicht alle zufrieden. «Wir bemängeln die unserer Meinung nach oberflächliche Partizipation», sagt Lukas Indermaur von der Umweltplattform «Lebendiger Alpenrhein» in St. Gallen. «Erst nach Beizug eines Rechtsbeistandes wurde uns Einsicht in Akten, Anträge oder Gutachten gewährt. Der Prozess wäre effizienter gewesen, wenn man Vernehmlassungen in einem früheren Projektstadium ermöglicht hätte.»

Die Partizipation beschäftigt Markus Hostmann schon lange. Er war 2005 an der Publikation «Wasserprojekte gemeinsam planen» beteiligt, die dem BAFU seither als Leitfaden dient. Ende 2019 publizierte das Amt als Weiterentwicklung das Handbuch «Partizipation bei Wasserbauprojekten», in das nun auch die Erfahrungen an Rhone und Rhein sowie bei anderen Projekten eingeflossen sind. Der BAFU-Fachmann findet, am Alpenrhein habe die Internationale Rheinregulierung sehr viel in die Partizipation investiert.

200 Anträge und Rückmeldungen

Trotz dem Austausch mit allen Betrof­fenen sind zum generellen Projekt 200 Anträge und Rückmeldungen der Behörden sowie weiterer Kreise aus Österreich und der Schweiz eingetroffen. «Wir müssen die Partizipationskulturen in zwei Ländern berücksichtigen», erläutert der zuständige Rhesi-Projektleiter Markus Mähr. Die Wünsche würden bei der Planung – soweit machbar – beachtet. Wo das nicht möglich sei, werde dies sachlich begründet.

Der Prozess mündet in der Schweiz in ein wasserbauliches Planverfahren mit Einsprachemöglichkeiten und einer Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP). Zudem müssen die zuständigen Behörden des Kantons St. Gallen das Projekt genehmigen. In Österreich erfolgt ebenfalls eine UVP, wobei in einem konzentrierten Verfahren sämtliche Bereiche – wie etwa das Forst- oder das Wasserrecht – integriert werden. Ein zentrales Element ist dabei eine mehrtägige Verhandlung, an der alle Beteiligten und interessierten Gruppierungen teilnehmen und das Wort ergreifen können. Dabei kann es zu intensiven Auseinandersetzungen kommen, während die divergierenden Interessen in der Schweiz bereits vorgängig im Rahmen der Vernehmlassung ausgeglichen werden.

 

Der Alpenrhein

Streitpunkt Planungszeit

Ein möglicher Streitpunkt ist deshalb die Planungs- und Bauzeit. Das generelle Projekt soll innerhalb von zwei Jahren in ein Detailprojekt überführt werden. Dies sei zu schnell, finden die Umweltverbände. «Um das Ziel zu erreichen, weicht man Konflikten mit den Landbesitzern und Wasserversorgern aus», vermutet Lukas Indermaur von «Lebendiger Alpenrhein». Ein Beispiel für die möglichen Auseinandersetzungen sind die rheinnahen Trinkwasserbrunnen. Sieben davon stehen auf dem Gemeindegebiet von Widnau (SG). Unter anderem werden damit Getränkedosen des Herstellers Red Bull abgefüllt, worauf die Gemeinde nicht verzichten will. Das Rhesi-Projektteam schlägt eine Rückversetzung der Brunnen vor, die aber immer noch so nahe am Fluss stehen sollen, dass eine Grundwassernutzung weiterhin möglich bleibt. Dagegen verlangt die Plattform «Lebendiger Alpenrhein» die Aufgabe der Brunnen, weil es in der Umgebung genügend nutzbares Trinkwasser gebe.

Auf der anderen Seite wehren sich Bauernbetriebe gegen den Verlust von 200 Hektaren Pachtland im Dammbereich. Auch Wasserversorger, Einfa­milienhausbesitzende und Sportclubs werben für ihre Anliegen. Sowohl die Rhesi-Verantwortlichen wie auch die Umweltorganisationen wollen mit zahlreichen Veranstaltungen das Interesse der Bevölkerung wecken. Aber vor allem auf Schweizer Seite begegnet die grosse Mehrheit der Bevölkerung dem Vorhaben, die Sicherheit zu erhöhen und dem Rhein sowie der Natur wieder mehr Platz einzuräumen, mit freundlichem Desinteresse. «In Österreich liegen grosse Gemeinden direkt am Rhein, doch auf Schweizer Seite führen zwischen den Ortszentren und dem Fluss eine Schnellzuglinie und die Autobahn durch», versucht Rhesi-Projektleiter Markus Mähr zu erklären. «Ich vermute, dieser Umstand hat die Bevölkerung vom Rhein entfremdet.»

Aus Desinteresse Widerstand? 

Das ist insofern bedauerlich, als sich die Landschaft auch in der Schweiz markant verändern wird. Immerhin soll der Alpenrhein durchschnittlich um den Faktor 3 von 60 auf 180 bis 200 Meter verbreitert werden, und an drei Stellen sind sogar Aufweitungen auf über 300 Meter geplant. Die Umweltverbände hoffen, das Desinteresse möge nicht in Widerstand kippen. Lukas Indermaur unterstreicht, man hätte von Anfang an deutlicher ­sagen müssen, dass Artikel 4 des Wasserbaugesetzes vorsieht, Flüssen wieder einen möglichst naturnahen Verlauf zu gewähren. Denn dem Landverlust stehe eben auch ein Gewinn an Lebensqualität gegenüber.

BAFU-Naturgefahrenexperte Markus Hostmann weist aber darauf hin, dass der Begriff «möglichst» im Wasserbaugesetz eine Abwägung zwischen verschiedenen öffentlichen Interessen beinhalte. Zudem müsse jedes staatliche Handeln verhältnismässig sein.

Nach Ansicht der Umweltverbände könnte die zu geringe Anzahl von Aufweitungen zu einem hohen Freizeitdruck führen. Projektleiter Markus Mähr ist sich dessen bewusst: «Wir wollen Stellen für die Freizeitnutzung einplanen, doch die Interessen sind verschieden.» So verfügt etwa Diepoldsau (SG) dank der Schlaufe des vom Hauptfluss abgeschnittenen Altrheins auf seinem Gemeindegebiet über mehrere Weiher. Im österreichischen Lustenau hingegen fehlen solche Freizeitorte, weshalb man den revitalisierten Alpenrhein hier unbedingt für die Bevölkerung nutzbar machen möchte.

Die Besonderheit am Rhein

Die Realisierung eines modernen Flussbauprojekts, das Ansprüchen an die Sicherheit, Landschaftsqualität und Erholung genügen soll, ist ohnehin komplex. Im Gegensatz zu Flussbauprojekten, welche nur die Schweiz betreffen, erfordert die Aufweitung des grenzüberschreitenden Alpenrheins zusätzlich eine gesetzliche Grundlage in Form eines neuen Staatsvertrags. Ziel der Internationalen Rheinregulierung (IRR) war bisher der Hochwasserschutz, was auch gelungen ist. Doch inzwischen sind die Dämme in die Jahre gekommen, und das Geschiebe hat über die Jahrzehnte die Sicherheitsmarge vor der Rheinmündung unter das tolerierbare Mass sinken lassen.

2005 legte die Internationale Regierungskommission Alpenrhein (IRKA) deshalb zusammen mit der IRR das Entwicklungskonzept Alpenrhein (EKA) vor, das die Grundlage für Rhesi bildet. Bei anderen Hochwasserschutzprojekten liegt die Bauherrschaft in der Kompetenz der kantonalen Behörden. Weil Rhesi ein grenzübergreifendes Projekt ist, tritt hier die Internationale Rheinregulierung als Bauherrin auf. Die Gemeinsame Rheinkommission (GRK) als Entscheidungsgremium ist ein vierköpfiges, paritätisch zusammengesetztes Gremium, und die Kosten werden zwischen den beiden Staaten Schweiz und Österreich geteilt. «Trotz der komplexen Zusammenarbeit ist der Wille zur erfolgreichen Umsetzung des Projekts Rhesi in beiden Ländern deutlich spürbar», stellt Markus Hostmann vom BAFU fest.

 

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Letzte Änderung 02.09.2020

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