Monitoring: «Walliser Pioniere»

Der Klimawandel verstärkt die Gefährdung durch Naturgefahren. Die Erfahrungen im Walliser Saastal zeigen eindrücklich, wie wichtig die Überwachung gefährlicher Prozesse für die Sicherheit von Menschen, Siedlungen und Verkehrswegen ist. Wichtig ist zudem eine vorausschauende Planung der Raumnutzung – nicht nur im Wallis.

Text: Lukas Denzler

Steile Bergflanken prägen das Relief des Saastals, das aus den Gemeinden Eisten, Saas-Balen, Saas-Grund, Saas-Fee und Saas-Almagell besteht. Die Einheimischen leben seit Generationen mit den Naturgefahren. Man versucht, sich dagegen zu schützen. Doch der Klimawandel verschärft die Gefährdung von Siedlungen, Strassen und touristischen Einrichtungen. Bereits im Jahr 2010 haben die Gemeinden im Saastal eine Fallstudie zur Anpassung an den Klimawandel durchgeführt – mit einem Schwerpunkt bei den Naturgefahren. Am augenfälligsten ist der Rückzug der Gletscher. Weniger offensichtlich sind die Veränderungen in Böden und Gestein. Gerade diese Entwicklungen sind jedoch entscheidend für Erosion und Sturzprozesse.

Gefährliche Temperaturwechsel

Norbert Carlen ist als Naturgefahreningenieur beim Kanton Wallis für das Saastal zuständig. Heute komme es häufiger als früher zu ausgeprägten Wechseln von warmen und kalten Perioden innerhalb kurzer Zeit, sagt er. «Die Gefrier- und Auftauprozesse verschärfen die Gefahr von Steinschlägen und Felsstürzen.» Ausserdem hinterlässt der Rückzug der Gletscher Bereiche mit Lockermaterial. In Kombination mit Starkniederschlägen oder plötzlich abfliessendem Wasser aus Gletschern können sich so unberechenbare Murgänge bilden.

Als Chef des Regionalen Sicherheitsdienstes im Saastal verfolgt Urs Andenmatten das Wettergeschehen sehr genau. Eine grosse Hilfe für die Beurteilung sei die vom Bund betriebene Gemeinsame Informationsplattform Naturgefahren (GIN). Auf dieser können Naturgefahrenfachleute in den Kantonen und Gemeinden die aktuellen Mess- und Beobachtungsdaten, Vorhersagen und Warnungen abrufen. Zu Steinschlag kommt es laut Andenmatten vor allem im Frühling nach der Schneeschmelze, aber auch im Sommer und Herbst aufgrund von heftigen Niederschlägen. «Inzwischen müssen wir die Kantonsstrasse wegen Steinschlag öfter sperren als wegen Lawinengefahr», sagt Andenmatten. Um der veränderten Situation Rechnung zu tragen, sind in den letzten Jahren Steinschlagnetze auf einer Länge von 3800 Metern erstellt worden.

Warnung vor Gletscherabbruch

Für Aufsehen sorgte in jüngster Zeit vor allem der Triftgletscher oberhalb von Saas-Grund. Im Sommer 2014 kam es zu einer erhöhten Anzahl von Eisabbrüchen. Weil weitere Teile des Gletschers abzubrechen drohten, wurden diese ab Oktober 2014 mit einem Radargerät, GPS-Punkten und einer Kamera überwacht. Als sich die Lage etwas beruhigt hatte, setzte man für die Überwachung nur noch eine deutlich günstigere Kamera ein, die bei guten Sichtverhältnissen stündlich hochaufgelöste Bilder liefert. Im September 2017 wurden die Risse wieder grösser, sodass die Verantwortlichen von Gemeinde und Kanton entschieden, den Gletscher unverzüglich wieder mittels Radar zu überwachen. Die Messwerte deuteten auf einen baldigen Abbruch hin, worauf der Krisenstab über 200 Personen evakuieren liess. Nur wenige Stunden später ereignete sich an einem frühen Sonntagmorgen der befürchtete Gletscherabbruch, ohne nennenswerte Schäden zu verursachen (siehe Grafik).

Die Kosten für eine Radarüberwachung belaufen sich im Allgemeinen auf 300 bis 500 Franken pro Tag. Beim Triftgletscher übernahm der Kanton davon rund die Hälfte, und auch die Bergbahnen beteiligten sich. «Rund 35 Prozent der Überwachungskosten musste die Gemeinde übernehmen», sagt Bruno Ruppen, Gemeindepräsident von Saas-Grund. Inzwischen hat sich der Gletscher wieder beruhigt. Die Kameras bleiben aber weiterhin in Betrieb. Im Sommer 2019 ereigneten sich wieder zwei kleinere Eisabbrüche. Aufgrund der Bildanalyse hatten die Verantwortlichen den Wanderweg nach Saas-Almagell zuvor vorsorglich für einen halben Tag gesperrt.

Für den Unterhalt der rund 300 Kilometer langen Wanderwege im Saastal sind die Gemeinden zuständig. Dass ein Weg wegen Steinschlag geschlossen werden muss, geschieht immer mal wieder. Sicherheitschef Urs Andenmatten macht bei Vorkommnissen jeweils eine erste Beurteilung. Bei grösseren Abbrüchen erfolgt die Beurteilung der Gefährdung durch einen Geologen des Kantons. Vor zwei Jahren war beispielsweise der Wanderweg von Grächen nach Saas-Fee nach der Schneeschmelze für einige Wochen gesperrt. Wichtig sei, so Andenmatten, eine gute Information an den Anfangspunkten der Wege, sodass Wandernde nicht plötzlich vor einer Schranke ständen und umkehren müssten (siehe Box).

Eine Gefährdung geht zudem vom Grubengletscher am Fletschhorn und den Seen im Gletschervorfeld oberhalb von Saas-Balen aus. Urs Andenmatten kontrolliert jeden Frühling und Herbst die Seeausläufe. Damit der See unmittelbar beim Gletscher nicht zu gross wird, wurde vor einigen Jahren dessen Auslauf ausgebaggert. Bei starken Niederschlägen besteht zudem das Risiko, dass dadurch das Lockergestein im Gletschervorfeld mobilisiert wird und ein Murgang bis nach Saas-Balen gelangt. Derzeit laufen Abklärungen, wie sich die Gefährdung am Fellbach reduzieren lässt.

Automatische Fernüberwachung

Im Wallis gibt es rund 80 potenziell gefährliche Gletscher. Drei davon – der Triftgletscher sowie der Weisshorn- und der Bisgletscher im Mattertal – werden derzeit intensiv überwacht. Die Gletscherüberwachung ist in das kantonsweite Monitoringsystem der Naturgefahren integriert. Fachleute privater Ingenieurbüros überwachen und interpretieren die übermittelten Daten laufend. Die kantonale Dienststelle für Wald, Flussbau und Landschaft betreibt ein automatisiertes System zur Fernüberwachung. Dieses umfasst hydrologische und meteorologische Messstationen, Kameras und Radaranlagen sowie vor Ort installierte Sensoren zur Erfassung von Fels- und Geländebewegungen. Wie der Kanton Wallis Überwachungssysteme einsetzt und nutzbar macht, ist laut Hugo Raetzo von der Abteilung Gefahrenprävention des BAFU «eine Pionierleistung». Auch anlässlich der Pilotprojekte zur Anpassung an den Klimawandel engagiert sich der Kanton. Momentan beschäftigen sich die Fachleute mit den Folgen der wärmeren Temperaturen für den Permafrost und mit Gefahren, die von auftauenden Felswänden ausgehen.

Im Unterschied zu Schutzbauwerken oder -wäldern können Mess- und Überwachungsinstrumente Schäden nicht verhindern. Sie können aber in Kombination mit organisatorischen Massnahmen wie etwa Evakuierungen und Sperrungen Menschenleben retten. «Bei Gefahren wie Gletscherabbrüchen oder Bergstürzen, die sich mit technischen Mitteln schlicht nicht abwehren lassen, bleiben oft nur die Überwachung und Warnung, um Schäden möglichst gering zu halten», so Hugo Raetzo.

Gefahrengebiete verlassen

Mittelfristig ist es jedoch sinnvoll, auf die Nutzung gefährdeter Gebiete wenn möglich zu verzichten. «Eine konsequente Entflechtung von Nutzung und Gefahrengebieten wird oft noch zu wenig ernsthaft geprüft», stellt Reto Baumann von der Abteilung Gefahrenprävention des BAFU fest. Dabei gelte es nicht nur die nächsten Jahre zu betrachten. Denn Schutzbauten und technische Systeme müssten laufend instandgehalten werden. Das kostet Geld, und ihr Unterhalt wird unter Umständen zu einer Hypothek für zukünftige Generationen. Eine Entflechtung ist deshalb die nachhaltigste Lösung. Die 2017 erschienene Broschüre «Raumnutzung und Naturgefahren» des BAFU zeigt Beispiele auf, wo und wie dies erfolgreich umgesetzt werden konnte.

So ist es beispielsweise in Weggis (LU) gelungen, fünf Liegenschaften aufgrund akuter Steinschlaggefahr zurückzubauen. Auch in Guttannen (BE) sind eine Liegenschaft und ein Stall aufgrund des Risikos von Murgängen abgebrochen worden. In Preonzo (TI) erwirkte der Kanton, dass mehrere Industrie- und Gewerbebetriebe direkt unterhalb einer instabilen Bergflanke umgesiedelt wurden. Und im Wallis sind in Nax und Sitten einzelne durch Naturgefahren bedrohte Gebäude abgebrochen und verlegt worden.

Mit der Fallstudie zur Anpassung an den Klimawandel richteten die Gemeinden im Saastal vor zehn Jahren den Blick in die Zukunft. Angesichts des fortschreitenden Klimawandels gilt es immer wieder die Balance zwischen der Abwehr und dem Ausweichen vor Naturgefahren zu finden. «Bei der Überprüfung der Gefahrenzonen berücksichtigen wir stets auch neue Rahmenbedingen, die sich zum Teil infolge des Klimawandels ergeben», betont Naturgefahreningenieur Norbert Carlen. Falls neue rote Zonen in der Gefahrenkarte definiert werden müssten und davon ein noch nicht erschlossenes Baugebiet betroffen sei, so müsse dieses aus der Bauzone «entlassen» werden.

Bessere Überwachung dank Satellitendaten

Die Überwachung von Massenbewegungen mittels Radarsatelliten bietet neue Möglichkeiten. Das BAFU kann Aufnahmen des «Inter­fero­metric Synthetic Aperture Radar» (InSAR) nutzen, die von den Sentinel-Satelliten der Europäischen Weltraumorganisation (ESA) gemacht werden. Diese Daten ermöglichen flächendeckende Auswertungen, die beispielsweise auch langsame oder erst einsetzende Geländebewegungen erkennbar machen. Im Rahmen von Pilotprojekten im Aletschgebiet und auch im Saastal hat das BAFU die Einsatzmöglichkeiten der Satellitenüberwachung getestet. Dank einer Motion, die von National- und Ständerat angenommen wurde, und dem Beschluss des Bundesrates vom Juni 2019 sind auch die finanziellen Mittel für den fortlaufenden Betrieb und die Weiterentwicklung der Systeme zur Warnung vor Naturgefahren gesichert. Somit können künftig insbesondere Lücken bei der Überwachung von Massenbewegungen geschlossen werden.

Klimawandel und Wanderwege

Viele Berg- und Alpinwanderwege verlaufen gleich unterhalb der Permafrostzone und sind künftig verstärkt Steinschlag oder Murgängen ausgesetzt. Das Bundesgesetz über Fuss- und Wanderwege legt fest, dass die Kantone für Unterhalt, Signalisation und Sicherheit der Wege sorgen. Die verantwortlichen Behörden unterliegen deshalb auch Sorgfalts- und Informationspflichten. Gewisse Gefahren wie etwa unerwarteter Steinschlag können aber nicht ausgeschlossen werden. Wandernde tragen grundsätzlich ein hohes Mass an Selbstverantwortung. Dieses steigt mit zunehmender Schwierigkeit der Wege.

Im Rahmen des Pilotprogramms «Anpassung an den Klimawandel» (unter Leitung des BAFU) werden derzeit auch die Einflüsse der zukünftigen Naturgefahren auf die Wanderwege, deren Planung, Bau und Unterhalt sowie Organisation und Abläufe untersucht. Ziel des Projekts «Sicher wandern 2040» ist es, den Verantwortlichen Fachgrundlagen und Vorgehensraster bereitzustellen, damit auch in Zukunft grösstmögliche Sicherheit gewährleistet werden kann.

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Letzte Änderung 03.06.2020

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