Erdbebenvorsorge: Schutz vor gravierenden Schäden

Bei Erdbeben fallen die weniger spektakulären Schäden an nicht tragenden Gebäudeelementen, Leitungen oder anderen technischen Einrichtungen finanziell oft stärker ins Gewicht. Zudem können Schäden an solchen Elementen – sogenannten sekundären Bauteilen – auch Menschenleben gefährden. Eine Publikation des BAFU zur Erdbebenvorsorge dieser Bauteile gibt Sicherheitstipps.

Text: Lucienne Rey

Im Bahnhof Bern wurde die Erdbebensicherheit von sekundären Bauteilen überprüft – und etwa die Montagehalterung von Leitungen mit verankerten Stahlwinkeln verstärkt.
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Drei- bis viermal bebt in der Schweiz und im nahen Ausland die Erde – und zwar jeden Tag. Die meisten dieser 1000 bis 1500 Erschütterungen pro Jahr sind zu schwach, um von der Bevölkerung wahrgenommen zu werden. Für die Menschen fühlbar werden Beben ab einer Magnitude von 2,5 auf der Richterskala. Diese Stärke erreichen hierzulande jährlich etwa 10 bis 20 Erdstösse. Sie bringen die Gläser im Geschirrschrank zum Klirren, verursachen jedoch keine Schäden an der Tragstruktur wie beispielsweise an Gebäudemauern oder Pfeilern. Dennoch können selbst relativ schwache Beben Personen gefährden – dann nämlich, wenn sie etwa Trennwände zum Kippen bringen oder Deckenverkleidungen zu Boden stürzen lassen.

Sekundäre Bauteile erstrangig

Bilder von Trümmerbergen und eingestürzten Häusern legen ein beeindruckendes Zeugnis ab für die von starken Erdbeben ausgehende Gefahr. Nach wie vor enorm unterschätzt wird jedoch die Personengefährdung durch herabfallende oder kippende sekundäre Bauteile. In der Schweiz, wo ungefähr alle 100 Jahre mit einem Erdbeben der Magnitude 6 zu rechnen ist, fallen nämlich nicht nur die beschädigten Gebäude als solche ins Gewicht. Relevant sind vielmehr auch die grossflächig zu erwartenden Sachschäden an den sekundären Bauteilen, Installationen oder Einrichtungen. Dabei handelt es sich um Gebäudeelemente, die keinerlei tragende Funktion erfüllen. Dazu gehören beispielsweise Fassadenverkleidungen, Geländer und Brüstungen sowie technische Anlagen – also Lifte, Rolltreppen, Leitungen oder elektrische Installationen usw. Auch fest montierte Geräte wie Bildschirme, Anzeigetafeln und Leuchtkörper sind sekundäre Bauteile. «Sie machen hierzulande rund 60 bis 80 Prozent der Gesamtkosten eines Gebäudes aus», erklärt Friederike Braune von der Sektion Störfall- und Erdbebenvorsorge beim BAFU.

Doch nicht nur die mögliche Gefährdung von Menschen, sondern auch die Funktionalität der sekundären Bauteile gilt es im Auge zu behalten. Beschädigte Leitungen wichtiger Infrastrukturen beispielsweise können rasch zu weitreichenden Betriebsunterbrüchen führen. In seiner Norm zur Einwirkung auf Tragwerke hält der schweizerische Ingenieur- und Architektenverein (SIA) denn auch ausdrücklich fest, solche Einrichtungen seien auf ihre Erdbebensicherheit zu überprüfen und entsprechend zu sichern. Es geht dabei um sekundäre Bauteile, die im Ereignisfall Menschen gefährden, tragende Gebäudestrukturen beschädigen oder den Betrieb wichtiger Anlagen beeinträchtigen könnten.

Zuständigkeiten ungeklärt

Trotz dieser fachlich untermauerten Norm steht es um die Erdbebensicherheit der sekundären Bauteile nicht zum Besten. «Das Tragwerk fällt in die Verantwortung von Bauingenieurinnen und -ingenieuren», führt Friederike Braune aus. «Für die Erdbebensicherheit von sekundären Bauteilen hingegen fühlt sich niemand so richtig zuständig, zumal klare Regelungen auch in den SIA-Vorgaben für Leistungen und Honorare der Fachplaner fehlen.»

Das BAFU hat daher 2016 eine Publikation zur Erdbebensicherheit sekundärer Bauteile und weiterer Installationen und Einrichtungen veröffentlicht. Sie richtet sich mit Hinweisen und handfesten Empfehlungen primär an Gebäudeeigentümerinnen und Hausbesitzer, aber auch an Fachpersonen der Gebäudetechnik. Bei Bauten im eigenen Besitz versucht der Bund selbstredend seine Empfehlungen zu beherzigen: «Sobald wir ein Bauvorhaben an einem unserer Gebäude durchführen, werden nun vermehrt die sekundären Bauteile auf ihre Erdbebensicherheit überprüft», sagt die BAFU-Expertin.

Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf den sogenannten Lifeline-Gebäuden. Dabei geht es um Bauten, die «lebenswichtige Infrastrukturfunktionen» erfüllen und die gerade im Katastrophenfall unbedingt leistungsfähig bleiben müssen. «Wenn bei einem Erdbeben die Feuerwehr nicht ausrücken kann, weil ein Tor klemmt, wäre dies gravierend», erläutert Friederike Braune.

Lifeline-Gebäude im Fokus

Die Baugesetzgebung und damit auch die Erdbebenvorsorge und -sicherheit fallen in die Kompetenz der Kantone. Die Region Basel – nach dem Wallis in der Schweiz am stärksten durch Erdbeben gefährdet – befasst sich intensiv mit der Problematik. Kürzlich liess der Kanton Basel-Stadt (BS) die Erdbebensicherheit von 14 Lifeline-Gebäuden untersuchen. Dabei handelt es sich um Bauten mit lebenswichtigen Infrastrukturfunktionen wie etwa Akutspitäler, Ambulanzgaragen oder Feuerwehrdepots. Insbesondere hinsichtlich der sekundären Bauteile, die für die Leistungsfähigkeit dieser Einrichtungen unabdingbar sind, hat man Pionierarbeit geleistet: «Wir mussten beispielsweise alle Funktionen definieren, die aufrechtzuerhalten sind», erläutert Stephan Husen, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Gefahrenprävention beim Kantonalen Laboratorium BS. «Auf dieser Basis galt es herauszufinden, welche Gebäudekomponenten dazu erforderlich sind.»

Erdbebenschutz dank HarmoS

Im Rahmen seines Massnahmenprogramms zur Erdbebenvorsorge hat der Kanton Basel-Stadt Szenarien zur Berechnung der Schäden erarbeitet, die ein starkes Erdbeben an den Schulgebäuden verursachen würde. Die Ergebnisse der Untersuchung sind in die Sanierung der Bauten eingeflossen. Wegen der interkantonalen Vereinbarung über die Harmonisierung der obligatorischen Schule (HarmoS) hat man die Schulhäuser teilweise auch baulich den neuen Bedürfnissen einer früheren Einschulung und den gestiegenen Ansprüchen an die Sicherheit der Benutzer angepasst. Allerdings liegt der Schwerpunkt dabei auf einer Verbesserung der Erdbebensicherheit von Tragstruktur oder Tragwerk. «Die Publikation des BAFU gab den Anstoss, dass wir den Blick im Hochbauamt verstärkt auch auf die sekundären Bauteile gerichtet haben», bestätigt Thomas Thoss, Ressortleiter Gebäudemanagement Bau im baselstädtischen Hochbauamt. Dies kommt etwa in einem 2018 vom Kanton publizierten Pflichtenheft zur Überprüfung der Erdbebensicherheit von Bauwerken mit grösseren Menschen­ansammlungen zum Ausdruck.

Auch ein Prüfbericht von 2017 über die Erdbebensicherheit eines mehr als 100 Jahre alten Schul- und Kinderheims in Riehen (BS) trägt den sekundären Bauteilen Rechnung. Er kommt zum Schluss, dass die gemauerten, nicht­tragenden Raumtrennwände im Fall ­eines Erdbebens umkippen und Menschen in den angrenzenden Räumen verletzen könnten. Das Gutachten spricht sich deshalb dafür aus, die Wände durch solche in Leichtbauweise zu ersetzen. Aufgrund des geringen Gewichts und ihrer Befestigung an der Decke stellen diese «kein wesentliches Personen­risiko» dar. Gemäss Thomas Thoss wird die Empfehlung seit Oktober 2018 umgesetzt. Seitens der Ingenieure stellt er mittlerweile eine erhöhte Sensibilität für die sekundären Bauteile fest.

Abgesicherte Drehscheibe

Besonders hohe Ansprüche an die Erdbebensicherheit ergeben sich dort, wo viele Menschen verkehren. Im Bahnhof Bern – dem zweitgrössten der Schweiz – steigen heute im Durchschnitt täglich 260 000 Fahrgäste ein oder aus. Bauliche Massnahmen zur generellen Verbesserung der Erdbebensicherheit sind bereits in den letzten Jahren erfolgt. Nun wird diese Drehscheibe des öffentlichen Verkehrs auf eine Kapazität von bis zu 375 000 Personen pro Tag ausgebaut. Im Zuge dieser Arbeiten haben die Fachleute auch die Erdbebensicherheit von bestehenden Fassadenelementen, Aufzügen, Signaltafeln, Leitungen und anderen sekundären Bauteilen überprüft. «Es gab nur wenig nachzubessern», berichtet Felix Merz, der Zuständige für die Infrastruktur bei den SBB. So hat man die Montagehalterung von Klimageräten im Treppenhaus der Grossen Schanze mit jeweils zwei in der Wand verankerten Stahlwinkeln verstärkt. Im dritten Obergeschoss des Kurzparkings wurde zudem eine Tür ersetzt, weil sich das alte Modell aufgrund allfälliger Verschiebungen der Stockwerke bei einem Erdbeben hätte verkeilen können.

Im Bahnhof selbst verbesserte man die Befestigung der Lüftungskanäle und -aggregate. Für alle Passanten sichtbar ist zudem eine weitere Massnahme, die ein Wahrzeichen der Schweizer Bahnhöfe absichert: Die von der Perrondecke herabhängenden Bahnhofsuhren sind nun mit einer zusätzlichen Halterung am Gitterrost fixiert. Ansonsten – so die Einschätzung des Prüfberichts – könnte das Aluminiumrohr, an dem jede Uhr aufgehängt ist, einem Erdbeben nicht standhalten, weil die Druckkraft auf das Gitter übertragen würde. Zusätzlich zum ursprünglichen Aluminiumrohr verbindet nun eine dünne Strebe die Uhr diskret mit dem Gitterrost. So werden im Fall eines Erdbebens selbst die Uhren im Bahnhof Bern nicht dazu führen, dass den Passanten die letzte Stunde schlägt.

Erdbeben in der Schweiz

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Das letzte grosse Beben in der Schweiz erschütterte am 25. Januar 1946 die Walliser Stadt Siders (im Bild). Der Erdstoss mit einer Magnitude von 5,8 forderte 4 Todesopfer, beschädigte über 3000 Gebäude und verursachte Schäden von 26 Millionen Schweizer Franken.

Das grösste historisch dokumentierte Erdbeben ereignete sich hierzulande am späten Abend des 18. Oktobers 1356 in Basel. Der Schweizerische Erdbebendienst (SED) schätzt dessen Magnitude auf 6,6. Ein Beben dieser Stärke könnte heute ungefähr 2000 Todesopfer und 20 000 Verletzte fordern. Schätzungsweise 500 000 Menschen würden zumindest kurzfristig ihr Obdach verlieren, und 150 000 Gebäude wären mittelstark bis stark beschädigt. Die entsprechenden Sachschäden beliefen sich auf 50 bis 100 Milliarden Schweizer Franken.

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Letzte Änderung 06.03.2019

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