Holz aus Schweizer Wäldern und einheimischer Verarbeitung erzählt Geschichten. Der Architekt Gion A. Caminada verwendet es, um Begegnungen zu ermöglichen. Die Initiative Schweizer Holz möchte es den Konsumentinnen und Konsumenten mit ihren Botschaftern aus Holz näherbringen.
Text: Oliver Graf

© Medienbilder Tierpark Goldau
Zuoberst auf dem Schuttkegel, den der Bergsturz von Goldau (SZ) vor über 200 Jahren zusammengeschoben hat, steht der zweibeinige Holzturm in einer märchenhaften Parklandschaft. Er ist umgeben von Waldföhren, Fichten, zahmen Sikahirschen, Mufflons und haushohen, moosbewachsenen Felsquadern. Der breitbeinige hölzerne Riese ragt neun Stockwerke hoch in den Himmel. Die von Etage zu Etage höher steigenden Besuchenden werden von Ritzen, hellen Fensteröffnungen und zwei kleinen Balkonen dazu eingeladen, den Natur- und Tierpark Goldau zu erkunden und seine mehr als 100 verschiedenen Tierarten aus immer neuen Perspektiven zu erspähen. In die Aussenfassade aus rohem Weisstannenholz sind verschiedene Behausungen für Fledermäuse, Eulen, Schwalben und Mauersegler eingebaut. Zuoberst – gewissermassen im Kopf der Figur – eröffnet eine Plattform den Blick durch die Baumwipfel auf die umgebende Naturlandschaft. Im Norden erkennt man die lange Abbruchkante des Rossbergs, wo sich am 2. September 1806 die Felsmassen des grössten Bergsturzes in der Schweizer Geschichte lösten und drei Dörfer unter sich begruben. Gegen Osten erstreckt sich inmitten einer Moorlandschaft von nationaler Bedeutung der Lauerzersee mit der Insel Schwanau, und im Süden erhebt sich die Rigi-Nordlehne mit ihren weitläufigen Schutzwäldern. Richtung Nordwest schliesslich verliert sich der Blick über dem Zugersee.
Vermittler mit den Massen eines Baums
Trotz beeindruckender Aussicht ist der Ende November 2016 eröffnete Tierparkturm von Weitem kaum zu erkennen. «Der Turm soll die Landschaft nicht dominieren», erklärt Theo Weber, oberster Förster des Kantons Schwyz und geistiger Vater des Projekts. Sein Ziel sei vielmehr, Begegnungen zwischen Mensch, Natur und Landschaft zu ermöglichen. «Dazu ist ein Bau mit den Massen eines Baums gerade richtig», sagt Theo Weber überzeugt. Im Juni 2013 fand auf dem Tierparkhügel eine ungewöhnliche Sitzung statt. Im Korb einer ausgefahrenen Feuerwehr-Drehleiter bestimmten die Mitglieder der Verwaltungskommission des Tier- und Naturparks zusammen mit der Direktorin Anna Baumann die optimale Höhe des Turms. Bei exakt 29 Metern gaben sie ihr Okay. «Wir möchten den Leuten die Natur nicht einfach auf dem Silbertablett präsentieren», erklärt Anna Baumann die Philosophie des Parks. Erst wer ein Tier nach einiger Suche selber entdecke oder zwischen den Baumkronen die Landschaft in ihren wechselnden Stimmungen erfasse, fühle sein Herz höherschlagen und behalte eine Begegnung in dauerhafter Erinnerung.
Auf regionale Kreisläufe setzen
Wo immer möglich setzt der Park auf regionale Kreisläufe. Dies gilt für das Futter der Tiere ebenso wie für die verwendeten Baumaterialien. Konsequenterweise stammen auch die für den Turm benötigten rund 350 Kubikmeter Holz aus der Region. Sie wurden zum Teil sogar von der ortsansässigen «Unterallmeind-Korporation Arth» gleich an der gegenüberliegenden Rigi-Nordlehne geschlagen. Der Auftrag stärkte so die regionale Wertschöpfung und leistete gleichzeitig einen Beitrag zur Pflege der Schutzwälder. Geliefert wurde das Rundholz in die Schwyzer Nachbargemeinde Küssnacht am Rigi, wo es die Schilliger Holz AG einschnitt, trocknete und dann zu Brettschichtholz und Grossformatplatten verleimte. Das Unternehmen verarbeitet in seinen schweizerischen Werken ausschliesslich Holz aus einheimischen Wäldern, wie Geschäftsführer Ernest Schilliger bestätigt. Die Herstellung von Brettschichtholz ist ein Standardverfahren, doch für den Tierparkturm galt es, einige Herausforderungen zu meistern. So musste man zum Verleimen der bis zu 3,2 Meter breiten Brettschichtholzträger eigens eine überdimensionierte Presse fabrizieren. Da die Oberflächen zudem roh bleiben sollten, erforderte dies eine mehrmonatige Akklimatisation der Rohlinge im Freien sowie eine besondere Sorgfalt bei der Verarbeitung.
Vielfalt aus der Begrenzung
Die besonderen Herausforderungen waren das Resultat eines aussergewöhnlichen Entwurfs. Kreiert hat ihn der Bündner Architekt Gion A. Caminada. Das in Japan erscheinende Magazin «Architecture + Urbanism», das dem Schweizer 2015 eine ganze Ausgabe widmete, sieht den Tierparkturm als Teil eines Wegnetzes. Man könne, so Caminada im Gespräch, «durch das eine Bein des Turms hinaufsteigen, durch das andere hinunter und einen anderen Weg weitergehen». Bei der Formfindung spielte aber auch die Standfestigkeit der Figur eine wichtige Rolle. Der Turm ist so ausgerichtet, dass er der dominierenden Windrichtung widersteht, wobei die gekreuzten Beine eines Sägebocks als Inspirationsquelle dienten. Dass der Turm auf Wunsch der Auftraggeber nur mit regionalem Holz gebaut werden sollte, passt gut zu Caminadas Grundüberzeugung. «Ich setze mir gern einen Perimeter und nehme nur das Material aus diesem Umkreis. So kann ich die Vielfalt und die Unterschiede zwischen verschiedenen Regionen bewahren.» Bedienten sich Architekten hingegen auf der ganzen Welt, ginge diese Vielfalt verloren. «Ich will das Material verstehen, seine Eigenschaften ergründen. Dadurch entstehen Konstrukte, die etwas mit ihrer Region zu tun haben, die dicht mit dem Ort, den Menschen und ihren Fähigkeiten vernetzt sind», sagt Gion A. Caminada.
Ein Turm als Botschafter
Für die Konstruktion des Turms wurde die in Goldau ansässige Annen Holzbau AG engagiert. Geschäftsführer Josef Koch bescherte der nicht alltägliche Auftrag mehr als eine schlaflose Nacht, wie er freimütig einräumt. Schliesslich ging es darum, über das filigrane Wegnetz des Tierparks mehrere massive, über 16 Meter lange Holzelemente zu transportieren und diese zentimetergenau einzumessen. Der Standort ist ausserdem stark windexponiert, wie man seit dem Sturm Lothar vom Dezember 1999 weiss. Der Turm ist daher auf Windstärken von bis zu 250 Stundenkilometern ausgelegt. Am Eröffnungstag war der Stress vergessen, und auch die Ungewissheit über das Zustandekommen der Finanzierung ist nun Vergangenheit. Doch die eigentliche Arbeit des Turmriesen hat gerade erst begonnen, denn in erster Linie ist er ein Botschafter und Vermittler. Er erzählt vom Wetter, das die Meteostation auf seinem Dach registriert, und von der Naturlandschaft, die er überblickt. Er erzählt von den Tieren, die in seiner Aussenhülle nisten, und deren Bilder über Webcams in die ganze Welt übertragen werden. Er erzählt von den Ideen seiner Erfinder und von der Geschicklichkeit seiner Erbauer. Er erzählt vom Ort, an dem er steht, vom Material, aus dem er besteht, und von den Schweizer Wäldern, denen er entstammt.

© Medienbilder Tierpark Goldau
Begegnung mit Holzfiguren
Bis im Spätherbst 2017 erhält Caminadas Riese Unterstützung von einer ganzen Schar weiterer hölzerner Botschafterinnen und Botschafter. Ihre Dimensionen orientieren sich jedoch nicht an der Baumwelt, sondern am Menschen: Der Zürcher Künstler Inigo Gheyselinck kreiert lebensgrosse Kopien von bedeutenden Schweizer Persönlichkeiten aus den letzten 300 Jahren, wie zum Beispiel Johanna Spyri oder Auguste Piccard. Die Figuren werden zuerst in Handarbeit aus Ton modelliert, dann mit einem 3-D-Scanner digitalisiert und schliesslich mithilfe einer 4-achsigen CNC-Fräse aus einem Holzblock herausgeschält. «Natürlich handelt es sich dabei nicht um ein beliebiges Stück Holz», erklärt Marco Meroni von der Agentur Rod Kommunikation, die sich die Aktion ausgedacht hat. Das Holz stamme vielmehr möglichst genau aus derselben Zeit und von demselben Ort wie die dargestellte Persönlichkeit. Als Teil der Kampagne «WOODVETIA» sind die 20 hölzernen Figuren seit Anfang 2017 eine nach der anderen an verschiedenen öffentlichen Orten in der ganzen Schweiz unterwegs. Zuletzt werden sie sich alle an einem zentralen Platz versammeln. «Als Besucher aus Fleisch und Blut wird man sich ein wenig wie in einem Wachsfigurenkabinett fühlen», sagt Marco Meroni. Allerdings spricht die Begegnung mit den hölzernen Persönlichkeiten – im Gegensatz zu den Wachsfiguren von Madame Tussaud – nicht nur die Augen an, sondern auch die übrigen Sinne. Holz hat einen unverkennbaren Geruch, seine Oberfläche verlockt zum Berühren, sein Körper trägt ganz unterschiedliche Klänge, und als Material hat es eine individuelle Geschichte.

© WOODVETIA
Initiative Schweizer Holz
Verantwortet wird «WOODVETIA» von der Initiative Schweizer Holz, einem Zusammenschluss aus Vertreterinnen und Vertretern von Bund und Kantonen sowie der Wald- und Holzbranche. Erklärtes Ziel der Initiative ist es, die Vorzüge von einheimischem Holz «in Kopf und Herz der breiten Bevölkerung zu tragen», wie Projektleiterin Claire-Lise Suter von der BAFU-Sektion Holzwirtschaft und Waldwirtschaft ausführt. «Leute, die ihre Wohnungen einrichten oder ein Haus bauen, sollen vermehrt Schweizer Holz nachfragen.» «WOODVETIA» verfolgt damit ein wichtiges Ziel der Waldpolitik und der Ressourcenpolitik Holz: Das brachliegende und unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit intensiver nutzbare Holzpotenzial unserer Wälder soll besser ausgeschöpft werden. Die vermehrte Holznutzung stärkt nicht nur die lokalen Wertschöpfungsketten. Darüber hinaus leistet Holz auch einen Beitrag zum Klimaschutz, indem es der Atmosphäre das Treibhausgas Kohlendioxid langfristig entzieht. «Schliesslich ist die Holznutzung auch die beste Art zur Verjüngung der Schutzwälder», erklärt Claire-Lise Suter, und durch gezielte Auflichtungen lasse sich beispielsweise auch die Biodiversität fördern.
Die Nachfrage stärken
Doch trotz vieler wirtschaftlicher und ökologischer Vorzüge hat einheimisches Holz in der Schweiz einen schweren Stand. Im Ausland wird der natürliche Rohstoff in grösseren Anlagen zu tieferen Löhnen deutlich günstiger verarbeitet. Als Folge der Frankenstärke sind die Holzpreise hierzulande zudem weiter unter Druck geraten. Für viele Forstbetriebe ist die Holzernte deshalb ein Defizitgeschäft, und in den letzten Jahren mussten denn auch etliche Sägereien ihre Maschinen stilllegen. Ein Ausweg aus der Krise führe über eine Stärkung der Nachfrage nach einheimischem Holz, ist Claire-Lise Suter überzeugt. Im Gegensatz zu anderen lokalen Produkten, die wegen ihrer Herkunft von einer wachsenden Zahl von Konsumentinnen und Konsumenten besonders geschätzt werden, steckt die Vermarktung von inländischem Holz noch in den Kinderschuhen. Dies soll sich mit der Initiative Schweizer Holz, ihrer Kampagne «WOODVETIA» und der Bekanntmachung des Herkunftszeichens Schweizer Holz ändern. Für die bis 2018 dauernde Kampagne steht ein Budget von insgesamt 2,2 Millionen Franken zur Verfügung. Die Branche und der Bund streben aber eine langfristige Sensibilisierung für Holz aus dem Inland an. «Ein Baum wächst gut und gerne 100 Jahre, bis er geerntet wird», sagt Claire-Lise Suter. Es dauert hoffentlich nicht ganz so lange, bis den Verbrauchern bewusst wird, dass ihnen Schweizer Holz interessante Möglichkeiten bietet. Gerade einheimisches Bauholz ist auch preislich durchaus konkurrenzfähig. «Einen langen Atem wird es aber zweifellos brauchen.»
Weiterführende Informationen
Letzte Änderung 31.05.2017