Viertes Landesforstinventar: Wie geht es dem Schweizer Wald?

25.11.2020 - Das vierte Landesforstinventar zeigt, wo der Wald in Bezug auf die Ziele der Waldpolitik des Bundes steht. Trotz grossen Herausforderungen auf lokaler Ebene ist der Schweizer Wald generell in einem guten Zustand. Seine Klimatauglichkeit nimmt zu, und die Schutzwirkung genügt in der Regel den Anforderungen. Doch es bleibt regional noch einiges zu tun.

Text: Oliver Graf

Michael Reinhard, Chef der Abteilung Wald beim BAFU (links), und Urs-Beat Brändli (bis Sommer 2020 stellvertretender Programmleiter LFI) bei der Präsentation der Ergebnisse des 4. Landesforstinventars.
© Bild: Ephraim Bieri | Ex-Press | BAFU

«Der Bund möchte mit dem Landesforstinventar (LFI) herausfinden, ob seine Waldpolitik Wirkung zeigt und ob die Schweizer Wälder sich in die beabsichtigte Richtung entwickeln», erklärt Michael Reinhard, Chef der Abteilung Wald beim BAFU. Zwischen 2009 und 2017 hat bereits die vierte solche Erhebung stattgefunden, die nun 2020 mit einem zusammenfassenden Hauptbericht zum LFI4 ihren Abschluss gefunden hat. Es handelt sich dabei um ein Gemeinschaftsprojekt des BAFU und der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL. Angesprochen auf wichtige Themender Waldpolitik, bei denen sich Michael Reinhard vom LFI die aufschlussreichsten Antworten verspricht, erwähnt er die Waldgesundheit (insbesondere im Zusammenhang mit dem Klimawandel), die Waldverjüngung (speziell in Schutzwäldern) sowie die Ausschöpfung des Potenzials zur Holznutzung.

Trockenperioden bedeuten Stress

Seit den Erhebungen des ersten LFI zwischen 1983 und 1985 ist die jährliche Durchschnittstemperatur in der Schweiz bereits um rund ein Grad gestiegen, und die Erwärmung wird sich aller Voraussicht nach noch einige Jahrzehnte fortsetzen. Ausgeprägte Trockenperioden, wie sie unser Land in den letzten Jahren erlebt hat, dürften nach Auskunft der Wissenschaft in Zukunft häufiger auftreten. «Für viele Wälder bedeuten solche Szenarien Stress», erklärt Michael Reinhard und erinnert an das schon im Juli braun verfärbte Buchenlaub im aussergewöhnlich trockenen Sommer 2018. Im Folgejahr waren dann zahlreiche Bäume abgestorben.

Doch Forstleute und Waldeigentümer können den Wald auf das künftige Klima vorbereiten, indem sie resistente Baumarten wie etwa die Eiche fördern und empfindliche wie die Fichte im Mittelland zurückhaltender einsetzen. Wie das LFI4 zeigt, geht die Entwicklung in den letzten Jahrzehnten bereits in die richtige Richtung. So hat die Baumartenvielfalt generell zugenommen: Bestände mit einer einzigen Baumart gingen seit der letzten Erhebung von 19 auf 16 Prozent zurück. Eine Mischung verschiedener Baumarten reduziert das Risiko flächiger Schäden bei grossem Stress und erhöht zudem die Artenvielfalt. Zudem hat im Laubwaldgebiet die Fläche standortfremder Fichtenbestände deutlich abgenommen. Gründe für den Rückgang standortfremder Bäume sind zum einen Eingriffe der Förster und zum anderen die natürliche Verjüngung: Die jungen Bäume wachsen ohne Pflanzung aus Samen heran, wobei die natürliche Selektion die Nachkommen standortgerechter Samenbäume aus der Nachbarschaft begünstigt. Gemäss LFI4 verjüngen sich 92 Prozent der Waldbestände natürlich.

Gefährliche Kombination

Die Wälder leiden nicht nur direkt unter den Folgen des Klimawandels. «Besonders gravierend ist die Kombination mehrerer Ereignisse und Belastungen», erklärt Therese Plüss, Sektionschefin Waldschutz und Waldgesundheit beim BAFU. So kann sich beispielsweise der Borkenkäfer massiv vermehren, wenn zuvor Bäume der Trockenheit oder einem Sturm zum Opfer gefallen sind. Weitere Beispiele für Kombinationseffekte sind die Anreicherung dürrer Biomasse, sodass es leichter zu Waldbränden kommt, oder übermässige Stickstoffeinträge, die zusammen mit Trockenheit die Bäume schwächen. Durch Stress bereits belastete Wälder sind schliesslich anfälliger für Schadorganismen, die mit dem wachsenden Personen- und Güterverkehr vermehrt in die Schweiz gelangen. «Bei der Anpassung an den Klimawandel geht die Entwicklung in die richtige Richtung», so Michael Reinhard. «Gleichzeitig nehmen aber auch die Herausforderungen laufend zu.»

Der lange Weg zum umfassenden Inventar

Die erste Idee dazu gab es vor über 200 Jahren. Und so hat sich das schweizerische Landesforstinventar zu einem modernen und umfassenden Instrument entwickelt.

Urs-Beat Brändli ist ein Urgestein des schweizerischen Landesforstinventars (LFI). Bereits während der ersten Erhebung zwischen 1983 und 1985 macht er Feldaufnahmen. Später engagiert ihn die WSL als wissenschaftlichen Mitarbeiter. Ab 1990 ist erverantwortlich für die Umsetzung des LFI und übernimmt 2011 die Funktion des stellvertretenden Programmleiters. Mit dem Schlussbericht zum LFI4 ging Urs-Beat Brändli im Sommer 2020 in Pension.

Der erste Vorschlag für ein Forstinventar reicht in die Zeit der Helvetischen Republik von 1798 bis 1803 zurück. In dieser zentralistischen Phase scheint ein nationales Unterfangen wie das Landesforstinventar Erfolg versprechend. Doch mit der Einführung des Föderalismus unter Napoleon zerschlagen sich diese Hoffnungen rasch. Jeder Kanton erfasst seinen Wald fortan nach seiner eigenen Art.

Erst in den 1950er-Jahren flammt die Diskussion wieder auf. Als Direktor der späteren WSL fordert Alfred Kurt, die Waldpolitik müsse sich stärker auf wissenschaftliche Grundlagen abstützen. Dabei hat er nicht nur die Holzressourcen im Blick, sondern das ganze Spektrum der Waldfunktionen und -leistungen. Doch als der Bundesrat 1981 schliesslich grünes Licht gibt zum ersten Landesforstinventar, richtet sich der Fokus dann doch nur auf die Erfassung der Waldfläche und des Holzvorrats. Als zu gross erweisen sich die methodischen Herausforderungen in den anderen Bereichen. Bei der Vorbereitung des zweiten LFI (1993–1995) trägt Urs-Beat Brändli dazu bei, dass nun auch die Biodiversität systematisch erfasst werden kann. Für das dritte LFI der Jahre 2004 bis 2006 kommen weitere Erhebungsmerkmale hinzu. Damit nähert man sich Alfred Kurts Ideal eines Inventars, das sämtliche Waldleistungen abbildet, immer mehr.

Von 2009 bis 2017 folgt schliesslich das vierte LFI. Technische Neuerungen gibt es seit dem ersten LFI einige: so etwa die elektronische Datenerfassung, das globale Positionsbestimmungssystem (GPS) oder die Distanzmessung mit Laser und Ultraschall. Doch es gibt auch Konstanten. Zu ihnen zählt die «Kluppe», eine grosse Schieblehre zum Messen der Baumdurchmesser auf Brusthöhe. «Die Kluppe ist das einzige Instrument, das während Jahrzehnten und Jahrhunderten gleichbleibende Daten liefert», erklärt Urs-Beat Brändli. «Diese Kontinuität ist für die Langzeitbeobachtung essenziell.»

Für die Zukunft erwartet er dennoch weitere Neuerungen. Praktikerinnen und Praktiker benötigen häufig keine Stichprobendaten, sondern Karten. Die Antwort ist eine Kombination von Feldaufnahmen mit Fernerkundungsdaten, beispielsweise mithilfe von Flugzeugen und Satelliten. «Ziel ist es, die Auflösung der Daten in Raum und Zeit zu erhöhen», erklärt Urs-Beat Brändli.

Für die Zeit nach der Pensionierung möchte er sich nochmals den Felderhebungen widmen. Bereits heute können alle auf der Website des LFI Meldungen über die höchstgelegenen Individuen jeder Baumart einreichen. «Ich möchte wieder etwas mehr zum Wandern in die Berge, und die Suche nach diesen höchstgelegenen Bäumen liefert mir dazu einen schönen Vorwand», freut er sich.

Verjüngung für genügenden Schutz

Die Naturverjüngung ist ein Schlüsselfaktor für das Entstehen standortangepasster Wälder. Doch Verjüngung ist keine Selbstverständlichkeit. In dunklen, dichten Beständen wachsen die Jungbäume der meisten Baumarten schlecht, und es kann sich eine Generationenlücke entwickeln. Gleichförmige Waldbestände mit einheitlicher Altersstruktur können bei einem Sturm oder beim Befall durch Schädlinge flächig zusammenbrechen, wodurch der Wald seine Schutzwirkung verliert. Gemäss Landesforstinventar nehmen im Schutzwald die Flächen mit ungenügender Verjüngung zu. Zwischen den letzten beiden Erhebungen ist deren Anteil von 16 auf 24 Prozent gestiegen. Schliesslich droht den Jungbäumen weitere Gefahr: Rehe, Hirsche und anderes Schalenwild ernähren sich gern von den Knospen junger Bäume und schädigen diese. Betrachtet man die für den Schutzwald speziell wichtige Tanne, so dokumentiert das LFI eine starke Zunahme der Verbissintensität.

Aktuell ist die Schutzwirkung der Wälder gegen Naturgefahren in der Schweiz generell gut, was man dem zunehmenden Deckungsgrad und dem Einwachsen grösserer Lücken verdankt. «Dies gibt uns vielerorts ein gewisses Polster», sagt Stéphane Losey, Sektionschef Rutschungen, Lawinen und Schutzwald beim BAFU. Gleichzeitig sei aber auch klar, dass der Schutzwald eine zielgerichtete Waldpflege erfordere: «Von alleine werden sich die Bestände nicht in die gewünschte Richtung entwickeln. Damit die Schutzwirkung gegen Naturgefahren langfristig sichergestellt ist, braucht es stufig aufgebaute und stabile Wälder mit ausreichender Verjüngung.»

Holznutzung benötigt Engagement

Eigentlich würde man erwarten, dass die Holznutzung im Wald nicht noch gefördert werden muss – schliesslich winkt dem Eigentümer für das geerntete Holz ja ein Verkaufserlös. Doch das ist nur die halbe Wahrheit: In Steillagen macht die Topografie die Ernte aufwendig, und es fehlen mancherorts geeignete Waldstrassen und Anlagen für einen effizienten Maschineneinsatz. Einschränkend ist auch die ungünstige Preisentwicklung am Holzmarkt. Die Folgen dokumentiert das LFI: So wird in vielen Wäldern, insbesondere auf der Alpensüdseite und in den Alpen, nicht so viel Holz genutzt, wie man könnte.

Die Waldpolitik und die Ressourcenpolitik Holz des Bundes möchten die Nutzung und Verwendung von einheimischem Holz erhöhen und dieses Potenzial besser ausschöpfen. «Der Wald und das Holz können einen wesentlich grösseren Beitrag zur Klima- und Energiepolitik der Schweiz leisten als heute», erklärt Alfred Kammerhofer, Sektionschef Holzwirtschaft und Waldwirtschaftbeim BAFU.

Erhaltung der Biodiversität

Eine fachgerechte und regelmässige Waldbewirtschaftung mit Holznutzung trägt dazu bei, dass der Wald auch andere Leistungen erbringt – etwa für Klimaschutz, Erholung und Freizeit oder Biodiversität. Dabei kann in einigen Fällen auch ein bewusster Entscheid für die Nichtbewirtschaftung zielführend sein. So ist rund ein Fünftel der Waldfläche seit mehr als 50 Jahren nicht mehr genutzt worden, was sich aus ökologischer Sicht meist positiv auswirkt. Denn dadurch können die natürlichen Prozesse hier ungehindert ablaufen, wovon viele typische Waldarten wie etwa die Flechten profitieren. Für die Erhaltung und Förderung der Biodiversität spielt der Schweizer Wald ohnehin eine Schlüsselrolle, sind doch mehr als ein Drittel aller hierzulande vorkommenden Tiere und Pflanzen auf diesen Lebensraum angewiesen. Der generell positiven Entwicklung bezüglich Strukturvielfalt, Totholzmenge und Baumartenvielfalt stehen dabei regional unterschiedliche ökologische Defizite wie zum Beispiel die ungenügende Lebensraumqualität der Waldränder gegenüber. Anlass zur Sorge gibt zudem die starke Zunahme von invasiven gebietsfremden Strauchpflanzen wie Sommerflieder, Kirschlorbeer oder Hanfpalme.

«Wir müssen Mittel finden, wie wir die Waldeigentümerinnen und Waldeigentümer besser dazu motivieren können, ihre Wälder zu pflegen, die Holznutzung zu erhöhen und die Biodiversität zu fördern», fasst Michael Reinhard die Situation zusammen.

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Letzte Änderung 25.11.2020

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