20 Jahre nach «Lothar»: Der Wald hat sein Terrain zurückerobert

Am 26. Dezember 1999 fällte der Orkan Lothar im Schweizer Wald innert Stunden 10 Millionen Bäume. In den am stärksten betroffenen Kantonen lag damit ein Mehrfaches der jährlichen Holznutzung am Boden. Auch wenn der Wald unter den Folgen des Klimawandels leidet, hat er seinen Platz zurückerobert und ist vielerorts sturmresistenter und artenreicher als noch vor 20 Jahren.

Text: Beat Jordi

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Ueli Hegg nach dem Sturm am Bantiger: Im Worblental wütete Lothar besonders heftig.
© zVg

Die Mänziwilegg ist eine teilweise bewaldete Anhöhe am Rande des Worb­lentals im Osten der Stadt Bern. Eine Abfolge von sanft geschwungenen Moränenhügeln – wohl durch das eiszeitliche Zusammentreffen von Aare- und Rhonegletscher geschaffen – lässt hier bereits die Landschaft des nahen Emmentals erahnen. Das Gelände ist mehrheitlich zu steil und mit rund 900 Metern über Meer auch zu hoch gelegen, um einträglichen Ackerbau zu betreiben. Deshalb leben die Bauern in der Gegend vor allem von der Milchwirtschaft, wie saftige Matten und grasende Kühe vor Augen führen. Wo die Hänge selbst für Nutztiere zu wenig hergeben oder zu exponiert sind, da liessen die Vorfahren den Wald stehen und nutzten ihn von jeher als zweite Einkommensquelle. Das stetige Auf und Ab sowie die abwechslungsreiche Variation von Wiesen und Wäldern verleihen der Umgebung eine seltene Schönheit – unterstrichen noch durch den bei klarem Wetter grossartigen Fernblick auf den Chasseral im Nordwesten, die Stockhornkette im Südwesten und die Berner Hochalpen im Süden.

Zerstörtes Werk von Generationen

Der heute 70-jährige Förster Ueli Hegg kennt diese Gegend wie wohl kein Zweiter. Sie war bis zu seiner Pensionierung vor fünf Jahren während des ganzen Berufslebens Teil seines Forstreviers im Worblental, das eine Waldfläche von insgesamt 1600 Hektaren umfasst. 95 Prozent davon sind Privatwald, der rund 300 Waldeigentümern gehört. Für viele davon brach am 26. Dezember 1999 ein Teil ihrer Welt zusammen.

Vom Jura herkommend, fegte da­mals der europaweit verheerende Orkan Lothar mit Spitzengeschwindigkeiten von 140 Kilometern pro Stunde über das Schweizer Mittelland. Die flach wurzelnden Fichten auf den gegen Nordwesten exponierten Kuppen des Worb­lentals hielten dieser Naturkraft nicht stand und knickten wie Zündholzer. Im Fallen rissen sie stärkere Bäume mit und hinterliessen so ein Bild der völligen Verwüstung. «Wir sind als Förster in unserer Ausbildung darauf getrimmt worden, dass unser Denken und Schaffen auf einen Zeithorizont von mindestens 100 Jahren ausgerichtet ist», sagt Ueli Hegg nachdenklich. «Und dann liegt nach einem solchen Naturereignis innert Stunden das Werk von Generationen am Boden.»

Stark betroffenes Worblental

Im Worblental wütete Lothar besonders heftig. In den tieferen Hanglagen, wo vor allem gut verwurzelte Laubbäume wachsen, gab es zwar fast nur Streuschäden, also Windwürfe einzelner Stämme oder kleiner Baumgruppen. Doch auf den ausgesetzten Hügeln und Rücken, wo Nadelhölzer das Waldbild prägen, riss der Orkan eine Schneise nach der anderen in die damals dominierenden Fichtenbestände. «In meinem Revier lag auf einer Fläche von 500 Hektaren mehr als die Hälfte aller Bäume am Boden», berichtet Ueli Hegg. Auf der Mänziwilegg oberhalb von Vechigen verloren sechs Landwirte sogar ihren gesamten Waldbestand. «Ich habe nach dem Stephanstag 1999 mehrere gestandene Bauern gesehen, die mit Tränen in den Augen vor ihren völlig zerstörten Wäldern standen – die Leute hatten eben noch eine enge Beziehung zu ihrem Wald», erinnert sich Ueli Hegg.

Nun wächst Jungwald

20 Jahre später führt der pensionierte Revierförster vor Ort durch einen lichten Jungwald. Er ist von Pionierpflanzen mit flugfähigen Samen geprägt, die kahle Flächen in der Regel als Erste besiedeln. Fast alles, was hier steht, hat die Natur ohne Zutun des Menschen geschaffen, denn auf der von Lothar kahl gefegten Mänziwilegg verzichteten die Bauern weitgehend auf Baumpflanzungen. Zwischen wuchernden Dornensträuchern wie Brombeeren und Weissdorn ragen nun vor allem 10 bis 15 Meter hohe Weiden, Birken und Vogelbeeren in die Höhe. Dazwischen haben es auch einige Fichten geschafft, die von den Rehen gemieden werden, weil ihnen deren harte Nadeln unangenehmer in die Nase stechen als die der weicheren Weisstannen. In der dichten Bodenvegetation sind vereinzelt noch Strünke der von Lothar gefällten Fichten zu erkennen. «In meinem Forstrevier haben wir damals alles Sturmholz weggeschafft», erklärt Ueli Hegg vor den letzten Zeugen der früheren Fichtenbestände. «Insgesamt lagen im Worb­lental etwa 30 000 Kubikmeter Holz am Boden, was der drei- bis vierfachen Menge einer normalen Jahresnutzung entspricht.» Die Forstequipen für das grosse Aufräumen heuerte er zum Teil im Ausland an, weil man aus Angst vor einer Invasion des Borkenkäfers möglichst rasch handeln wollte.

In Stettlen am Talgrund an der Worble zeugte ein 14 000 Kubikmeter mächtiges, bewässertes Rundholzlager noch ein Jahr nach dem Naturereignis von der Dimension des Orkans. Der Verkauf dieser Mehrjahresernte – unter anderem nach Norditalien – war kein lohnendes Geschäft, denn aufgrund des sturmbedingten Überangebots in ganz Europa brachen die Preise stark ein, wobei etwa Sägerundholz in der Schweiz über Nacht einen Drittel an Wert verlor. Auch wenn sich die Holzpreise nach 2005 wieder etwas erholten, erreichten sie nie mehr das Niveau der Jahre vor dem grossen Sturm.

Krisensitzungen statt Feiertage

Auch Werner Schärer – der heutige Direktor von Pro Senectute Schweiz – hatte sich die Weihnachtsfeiertage von 1999 etwas anders vorgestellt. Knapp 10 Kilometer Luftlinie von der Mänziwil­egg entfernt, hatte er einige Monate zuvor in der Berner Vorortsgemeinde Ittigen beim damaligen Bundesamt für Umwelt, Wald und Landschaft (BUWAL) sein Amt als Eidgenössischer Forstdirektor angetreten. Nun plante er, zwischen Weihnachten und Neujahr etwas auszuspannen und sich zu überlegen, welche Aufgaben er als neuer oberster Waldchef nach der Jahrtausendwende prioritär angehen wolle.
Am Stephanstag, bei einem Besuch von Freunden am Stadtrand von Zürich, sah er die vom Dach gewehten Ziegel wie Wurfgeschosse im Rasen stecken. Und auf der abendlichen Heimfahrt mit dem Auto musste der ausgebildete Forstingenieur in einer Kurve kurz vor seinem Wohnort brüsk abbremsen und einer umgewehten Buche ausweichen, die fast die ganze Hauptstrasse versperrte. Angesichts der dramatischen Fernsehbilder von zerstörten Wäldern, umgerissenen Obstbaumplantagen und abgedeckten Häusern entschied er sich dann, anderntags doch ins Büro zu gehen. Dort verlangte der ebenfalls angerückte Kommunikationschef von ihm eine sofortige Lagebeurteilung und wollte bereits für den Nachmittag eine Medienkonferenz einberufen. Der überrumpelte Forstdirektor erbat sich einen Aufschub von 24 Stunden und versuchte, per Telefon die Kantonsförster zu kontaktieren, um das Ausmass der Schäden besser einschätzen zu können. Doch in den Büros war während der Feiertage kaum jemand zu erreichen, und Mobiltelefone gab es damals erst wenige.

750 Millionen Franken vernichtet

Die Rückmeldungen der von Werner Schärer umgehend in die Wälder geschickten Kantons- und Revierförster ergaben dann doch relativ rasch ein Gesamtbild, dessen Schadenausmass dasjenige der hierzulande bisher verheerendsten Stürme im Februar 1967 deutlich übertraf. «Damit gaben sich die Journalisten vorerst zufrieden, denn sie konnten über den Jahrhundertsturm mit einem Rekordschaden berichten», meint Werner Schärer im Rückblick.

Kurze Zeit später zeichneten sich die Dimensionen der Schäden in den hei­mischen Wäldern dann genauer ab. Schweizweit hatte der Orkan etwa 10 Millionen Bäume oder eine Holzmenge von 13 Millionen Kubikmetern umgelegt. In den am stärksten betroffenen Kantonen Bern, Freiburg, Luzern und Nidwalden lag das Vier- bis Zehnfache der jährlichen Holznutzung am Boden. Damit vernichtete Lothar im Schweizer Wald ein Kapital im Wert von rund
750 Millionen Franken, das während Jahrzehnten herangewachsen und gepflegt worden war.
Die Eidgenössische Forstdirektion sah sich denn auch umgehend mit finanziellen Forderungen privater und öffent­licher Waldbesitzer konfrontiert, die Entschädigungen für den entstandenen Schaden verlangten. Auf Bundesebene gipfelte die Flut politischer Vorstösse in einer Sondersession. «Unter dem Schock des Ereignisses war das Parlament rasch bereit, viel Geld in Form von Sonderkrediten für Aufforstungen und Wiederherstellungsprojekte zu sprechen», erinnert sich Werner Schärer. «Doch die Erarbeitung solcher Projekte benötigte Zeit, und als die Arbeiten in den Folgejahren anliefen, wurde ein Teil der Gelder bereits wieder gekürzt – beziehungsweise mit den ordentlichen Krediten verrechnet.»

Aufforstungen am Bantiger

Teil dieser Aufforstungsprojekte waren nach Lothar auch die teilweise zerstörten Wälder auf dem Ausflugsberg Bantiger bei Bolligen, der ebenfalls zu Förster Heggs früherem Revier gehört. Ihm fiel auf, dass Laubbäume sowie die Nadelhölzer Lärche, Föhre und Douglasie dank ihrer erhöhten Wurzelstabilität auch an exponierten Lagen grösstenteils stehen geblieben waren, während der Orkan die nur oberflächlich wurzelnden Fichten reihenweise entwurzelt hatte. «Deshalb habe ich den geschädigten Bauern empfohlen, mehr stabilere Laubbäume wie Bergahorn und Kirsche zu pflanzen, die als Möbelhölzer begehrt sind, und in den höheren Lagen primär Lärchen und Föhren zu setzen.»

Wie ein Augenschein am Fuss des wieder bewaldeten Bantigers heute zeigt, sind die meisten Privatwaldbesitzer diesem Rat ihres Revierförsters gefolgt. Der Kanton Bern unterstützte entsprechende Bemühungen auch finanziell, während er für neu gepflanzte Fichten bewusst kein Geld sprach. «Inzwischen wachsen im Worblental mehr resistente Laub- und Nadelhölzer als vor Lothar, und die Baumartendurchmischung ist deutlich vielfältiger», stellt Ueli Hegg denn auch mit Befriedigung fest.
Als Anfang Januar 2018 das seit Lothar stärkste Sturmtief Burglind mit Orkanböen über das Mittelland zog und auch den Bantiger erneut heftig traf, bestand der sturmresistentere Wald seine Bewährungsprobe, denn die Windwurfschäden waren nur gering. Auch schweizweit fiel im Vergleich zu 1999 lediglich ein Zehntel der damaligen Sturmholzmenge an. Gemessen daran verursachten niederschlagsarme Jahre und der Hitzesommer 2018 ein Viel­faches an Käferholz und richteten insbesondere in Buchenwäldern auch massive Trockenschäden an.

Eine positive Bilanz

Auch der ehemalige eidgenössische Forstdirektor Werner Schärer zieht im Rückblick eine positive Bilanz. «Lothar hat unsere Gesellschaft gelehrt, dass Monokulturen und nicht standortgemässe Wälder anfälliger auf Stürme reagieren als standortgerechte Mischwälder.» Dieser Einsicht habe man bei der Wiederbewaldung und Pflege breit Rechnung getragen, was sich auch im Hinblick auf den Klimawandel auszahlen dürfte. Nach den ersten Schreckenstagen habe deshalb auch er als oberster Krisenmanager die Chancen für mehr Naturnähe und Biodiversität im Wald erkannt. «Der Sturm hat unter anderem die Verteilung der verschiedenen Altersklassen im Schweizer Wald günstig beeinflusst und zu mehr Jungwald geführt.»

Bei Gefahr besser gewappnet

Die Warnung der Krisenstäbe, Behörden und Bevölkerung vor Naturgefahren, zu denen auch Stürme gehören, ist in den vergangenen Jahrzehnten wesentlich verbessert worden. Internet und Mobiltelefonie haben die rasche Kommunikation stark vereinfacht. So informiert der Bund inzwischen mit dem Naturgefahrenportal naturgefahren.ch systematisch über drohende Ereignisse. Im Vorfeld erheblicher Naturgefahren warnt er zusätzlich über Radio und Fernsehen. Bei der Bewältigung künftiger Ereignisse spielt zudem das in der Zwischenzeit ebenfalls stark optimierte Krisenmanagement eine entscheidende Rolle.

BAFU: CH-Karte der Sturmschäden durch Lothar

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Letzte Änderung 04.12.2019

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