Die Schweiz verfügt über eine hochwertige Wasserversorgung. Das Trinkwasser gerät jedoch zunehmend unter Druck. Drei Wasserexperten diskutieren die drängendsten Herausforderungen und machen Vorschläge, wie sich die Trinkwasserressourcen sowie die Investitionen in die Infrastruktur für die nachfolgenden Generationen sichern lassen.
Interview: Nicolas Gattlen

© Nicolas Gattlen
umwelt: Herr Sager, müssen Sie manchmal den Kopf schütteln, wenn Sie sehen, wie Leute stilles Mineralwasser heimschleppen, das im Schnitt 440-mal teurer ist als Leitungswasser?
Martin Sager: Nun, im Ausland ist das ganz normal. Bei uns ist Trinkwasser das bestkontrollierte Lebensmittel und dauernd verfügbar. Ich vermute deshalb, dass in der Schweiz vorwiegend Personen zu Mineralwasser greifen, die sich nicht bewusst sind, wie gut die Trinkwasserqualität in unserem Land ist.
Tatsächlich erhielt das Schweizer Trinkwasser auch im jüngsten Bericht des Bundes an die WHO wieder gute Noten. Aber erreicht es dieselbe Qualität wie das Mineralwasser?
Michael Schärer: Was sich sagen lässt ist, dass Leitungs- und Mineralwasser eigentlich identisch sind. Die Chemikalienbelastung ist bei beiden sehr gering. Und beide verfügen über dieselbe Mineralienzusammensetzung. Mal abgesehen von den Mineralwassern, denen aus Marketinggründen einzelne Inhaltsstoffe entfernt oder zugesetzt werden.
Dann schafft allein das Marketing die Differenz?
Martin Sager: Marketing trägt sicher wesentlich dazu bei. Das Lebensmittel Trinkwasser wird kaum beworben, die Mineralwasser-Labels sind in der Öffentlichkeit viel präsenter.
Auch der Preis dürfte bei der Wertschätzung eine Rolle spielen: Leitungswasser kostet in der Schweiz im Schnitt 1.85 Franken pro Kubikmeter. Nun kritisiert Max Maurer, ETH-Professor und Leiter Siedlungswasserwirtschaft am Wasserforschungsinstitut Eawag, dieser Preis sei in vielen Gemeinden zu niedrig, dieser Preis sei zu niedrig, weil vielerorts die nötigen Investitionen in die Infrastruktur nicht getätigt und die Kosten an die nächste Generation übertragen würden.
Martin Sager: Ich sehe hier keine «tickende Zeitbombe». Unsere Daten zeigen, dass die Schweizer Wasserversorgungen im Schnitt 1,5 Prozent des Gesamtwertes ihrer Leitungen in die Erneuerung investieren. Mit diesen Investitionen erfüllen sie den Wert von 1,25 bis 2 Prozent Erneuerungsrate, der sich aus der Lebensdauer der Leitungen von 50 bis 80 Jahren ableitet ...
... das sieht das Nationale Forschungsprogramm NFP 61 «Wasserressourcen in der Schweiz» anders. Es stellte jüngst eine «deutliche Unterdeckung» fest. Die Studie rechnet bei der Abwasserentsorgung mit einem Wiederbeschaffungswert von 114 bis 120 Milliarden Franken. Um den Wert der ARAs und der Kanalisationen zu erhalten, müssten jährlich 2,2 Milliarden Franken investiert werden. Dem stehen derzeit Einnahmen in der Höhe von 1,7 Milliarden gegenüber.
Martin Sager: Trotz der guten Durchschnittswerte ist es so, dass es Wasserversorgungen mit Investitionsbedarf gibt. Insbesondere für die kleinen Versorger ist es nicht einfach, den Zustand ihres Leitungsnetzes präzise zu erfassen und eine saubere Planung zu erstellen.
Heinz Habegger: Einige Gemeinden haben sicher noch Investitionsbedarf und dürften ihre Gebühren in den nächsten Jahren anheben. Das ist für die betroffenen Gemeinderäte nicht populär, wie ich aus eigener Erfahrung weiss. Die Wasser- und Abwasserinfrastruktur befindet sich grösstenteils im Untergrund, die Bürgerinnen und Bürger sehen den Sanierungsbedarf nicht. Und auch die erfolgte Erneuerung bleibt, im Unterschied zu einer Schulhausrenovierung, unsichtbar. Man kanwn sich auf diesem Terrain also kaum politische Lorbeeren holen. Insgesamt aber sind wir punkto Werterhaltung im internationalen Vergleich sehr gut aufgestellt. Dazu tragen auch kantonale Regelungen bei. In Bern beispielsweise sind die Gemeinden verpflichtet, Beiträge in eine Spezialfinanzierung einzuzahlen, damit der Werterhalt der Abwasserinfrastruktur sichergestellt ist.
Michael Schärer: Mich erstaunt ganz allgemein, wie wenig präsent die Probleme des Grundwassers als Trinkwasserressource in der öffentlichen Diskussion sind. Denn einerseits pflegen und unterhalten wir die Infrastruktur; einen noch viel grösseren Handlungsbedarf sehe ich andererseits bei der langfristigen Sicherung der Ressource Wasser. Insbesondere durch die Ausweitung der Siedlungsgebiete sind viele Trinkwasserfassungen und ihre Schutzzonen aufgehoben worden, oder sie sind gefährdet, weil Verkehrsträger oder Abwasserleitungen den Schutzzonenbereich durchlaufen.
Martin Sager: Das stimmt. Viele Fassungen befinden sich in Konkurrenz zu Siedlungen, Verkehrswegen, Gewerbe- und Industriebetrieben oder zur Landwirtschaft. Mit dem wachsenden Siedlungsdruck nehmen die Nutzungskonflikte zu. Und wo ökonomische Interessen überwiegen, wird auch mal eine Fassung geopfert. Das geht umso einfacher, wenn Schutzzonen nicht oder nicht rechtskräftig ausgeschieden sind. Hinzu kommt, dass bei nicht rechtskonform ausgeschiedenen Schutzzonen die Qualität des Trinkwassers bisweilen nicht mehr oder nur noch mit grossem Aufwand gewährleistet werden kann.
Droht der Schweiz bald ein Trinkwasserengpass?
Michael Schärer: So schnell wird uns das Trinkwasser nicht ausgehen. Aber wir sollten die Probleme heute angehen und nicht erst, wenn die Lage bereits angespannt ist. Das NFP 61 hat aufgezeigt, dass die Nutzungskonflikte für die Zukunft der Trinkwasserversorgung der kommenden Jahrzehnte bedeutender sind als die Folgen des Klimawandels.
Martin Sager: Es ist ein schleichender Prozess, was die Sache umso tückischer macht. In der Öffentlichkeit und der Politik ist das Thema Ressourcenschutz noch nicht angekommen.
Wie kann die Politik Gegensteuer geben?
Michael Schärer: Der Bund hat die dazu nötigen Werkzeuge längst erarbeitet. Planerische Instrumente zur Sicherung der Trinkwasserressourcen existieren in der Gewässerschutzgesetzgebung, nun müssen sie aber auch in die Raumplanung integriert werden. So können mögliche Zielkonflikte frühzeitig angegangen werden. Wenn Wasservorkommen und Versorgungsanlagen in Richtplänen berücksichtigt werden, kann man sie besser gegen Nutzungskonflikte und Risiken sichern. Auch Wasserressourcen-Nutzungsplanungen können einen wichtigen Beitrag leisten.
Heinz Habegger: Vielerorts wird immer noch versucht, konkurrierende Nutzungen durch technische Massnahmen oder mit gefährlichen Kompromissen aneinander vorbeizubringen. Sinnvoller wäre, die Nutzungen so weit wie möglich zu entflechten. Dazu bedarf es einer sorgfältigen Analyse der Wasservorkommen, der verschiedenen Interessen am entsprechenden Standort sowie der demografischen und wirtschaftlichen Entwicklungen. In der Wasserstrategie des Kantons Bern wurden zum Beispiel die Wasserfassungen in drei Kategorien eingeteilt, in überregionale, regionale und lokale. Gebiete mit grossen Grundwasservorkommen sollten gut geschützt sein, während in anderen Gebieten, die für die Versorgungssicherheit weniger wichtig sind, andere Nutzungsansprüche im Vordergrund stehen können.
Martin Sager: Die rechtlich-planerische Sicherung der Trinkwasserressourcen garantiert aber noch nicht, dass die Versorgung mit qualitativ hochwertigem Trinkwasser gewährleistet ist. Ebenso wichtig ist der Schutz des Quell-, Grund- und Oberflächenwassers. Und hier gibt es Handlungsbedarf. So fordert unser Verein beispielsweise ein Verbot von wassergefährdenden Stoffen in den beiden inneren Schutzzonen. Betroffen wären davon lediglich 1,2 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche.
Heinz Habegger: Die Landwirtschaft steht ganz klar in der Pflicht. Wir Siedlungswasserwirtschaftler fühlen uns um die Früchte unserer Arbeit gebracht, wenn über die Oberflächengewässer Nährstoffe, Pflanzenschutzmittel und Antibiotika ins Grundwasser gelangen.
Die revidierte Gewässerschutzverordnung erlaubt nun, dass für die wichtigsten Substanzen, die in die Oberflächengewässer gelangen, ökotoxikologisch begründete Grenzwerte festgelegt werden. Und bei unterirdischen Gewässern gilt für Herbizid- und Biozidwirkstoffe ein Maximalwert von 0,1 Mikrogramm pro Stoff und Liter. Wird damit der Gewässerschutz ausreichend gestärkt?
Heinz Habegger: Wir begrüssen die neue Verordnung sehr. Nun muss sie aber auch vollzogen werden. Der Schweizer Gewässerschutz ist eine Erfolgsstory. Doch wir dürfen nicht nachlassen. Wie schnell sich die Situation ändern kann, zeigt das Beispiel Deutschland, wo im Zuge der Energiewende mehr Energie-Mais angepflanzt wurde, was höhere Düngergaben und Nitratgehalte im Grundwasser mit sich brachte. Wenn andere Interessen anstehen, kann das Wasser schnell aus dem Fokus geraten. Das darf nicht passieren.
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Letzte Änderung 06.04.2021