Überblick: Das Glas Wasser ist erst halb voll

Die Schweiz hat beim Schutz ihrer Gewässer einiges erreicht. Jetzt gilt es, neue Herausforderungen anzugehen. Vor allem in den kleinen Fliessgewässern besteht noch grosser Handlungsbedarf; ihre Situation ist kritisch. Das Problem ist jedoch erkannt, und auf politischer Ebene werden Massnahmen zur Sicherung oder Verbesserung der Wasserqualität diskutiert. Manche davon sind bereits angelaufen.

Text: Kaspar Meuli

Halb volles Glas
© Eisenhans - Fotolia

Vom Reporter der «Tagesschau» bis zur Journalistin des «Journal du Jura» reisten im Sommer 2016 zwei Dutzend Medienleute an den Fluss Limpach im bernisch-solothurnischen Grenzgebiet, um über das Wohlergehen von Schweizer Flüssen und Bächen zu berichten. An einer der Messstellen der Nationalen Beobachtung Oberflächengewässerqualität NAWA präsentierte das BAFU die Resultate einer grossangelegten Untersuchung zum Gewässe rzustand. Die Bilanz war durchzogen: Erfreulicherweise habe die Belastung mit Phosphor und Nitrat abgenommen, erfuhren die Medien, doch die Mikroverunreinigungen in den Gewässern würden an Bedeutung gewinnen, und deren biologischer Zustand weise zum Teil «erhebliche Defizite» auf. Dementsprechend war das Echo in den Medien. «20 Minuten» etwa titelte: «Den Schweizer Bächen und Flüssen geht es schlecht». Der Artikel löste in der Online-Ausgabe der Gratiszeitung eine Lawine von zum Teil heftigen Kommentaren aus. Die Tonlage schwankte zwischen genervt («Dieses Gejammer haben wir langsam satt!») bis zu analytisch («Das hat auch mit verfehlten politischen Anreizen zu tun.»).

Schäumende Bäche sind verschwunden

Das Interesse der Öffentlichkeit am Zustand der Gewässer zeigt, dass den Menschen in der Schweiz ihre Bäche, Flüsse und Seen wichtig sind. Die Bevölkerung fühlt sich durch Wasserfragen offensichtlich persönlich angesprochen. Allerdings macht sie sich, wie eine Untersuchung des Wasserforschungsinstituts Eawag zeigt, ein allzu positives Bild des Gewässerzustands. Über 80 Prozent der Befragten erachten die Wasserqualität in der Schweiz als uneingeschränkt «sehr gut» oder als «gut». Erstaunlich ist diese Einschätzung nicht, denn die Bilder von schäumenden Bächen und algenverseuchten Seen, welche die Schweiz noch in den 1980er- Jahren aufrüttelten, sind längst verschwunden. Die schweizerische Gewässerschutzpolitik ist eine Erfolgsgeschichte. Dank grosser Investitionen, mit denen ab 1950 ein praktisch flächendeckendes Netz von Abwasserreinigungsanlagen (ARAs) entstand, werden heute viele Schmutz- und Schadstoffe von den Gewässern ferngehalten.
«Diese Leistungen sind unbestritten, und wir können stolz darauf sein», sagt Yael Schindler von der Sektion Wasserqualität des BAFU. «Doch obwohl der schweizerische Gewässerschutz das Ziel möglichst naturnaher Bäche und Flüsse verfolgt, sind heute viele Gewässer weit von diesem Zustand entfernt.» Bei der Analyse des Gewässerzustands sei deshalb ein «differenzierter Blick» gefragt, so die Gewässerspezialistin. Viele Wasserlebewesen reagieren beispielsweise auf die Belastung mit Mikroverunreinigungen viel empfindlicher als wir Menschen. Die Bedingungen für diese Tiere und Pflanzen sind schlecht, und ihr Überleben ist mancherorts gefährdet. Was aber nicht heissen will, dass Baden in Flüssen und Seen unsicher wäre. «Die Sache ist vielschichtiger», gibt Yael Schindler zu bedenken.

Grundwasser mit Hahn
Grundwasser
© BAFU Archiv

Gewässer sind zum Teil mit Umweltgiften belastet

Zurück an den Ortstermin am Limpach. Sein Zustand ist aus ökologischer Sicht kritisch. Der unscheinbare, nicht eben idyllische Limpach zeigt gemäss NAWA-Monitoring ein ähnliches Bild wie viele der Bäche im Schweizer Mittelland. Bezogen auf die ganze Schweiz, belegen die NAWA-Untersuchungen, dass die Belastung mit Nährstoffen in kleinen und mittleren Bächen und Flüssen punktuell immer noch zu hoch ist, obwohl heute weniger Nitrat und vor allem weniger Phosphor in die Oberflächengewässer gelangen, als vor dem Bau des ARA-Netzes. Mit Umweltgiften belastet sind die Gewässer vor allem, wenn sie Pestizide aufnehmen. Problematisch sind auch zu viele Nährstoffe aus der Landwirtschaft oder ungenügend verdünntes gereinigtes Abwasser. Dieses Wasser ist zwar von den herkömmlichen Schmutz- und Schadstoffen gereinigt, enthält aber immer noch Mikroverunreinigungen. Dabei handelt es sich unter anderem um Rückstände von Pestiziden, Medikamenten, Kosmetikprodukten oder Holzschutzmitteln. So weit der Blick auf Bäche und Flüsse, doch wie steht es um die Wasserqualität der Schweizer Seen? Auch bei diesen ist die Belastung mit Nährstoffen stark zurückgegangen. Allerdings sind einzelne von ihnen in Gebieten mit intensiver Viehmast noch immer allzu stark mit Phosphor belastet. Das gilt zum Beispiel für den Baldegger- und den Zugersee. Phosphor führt zu starkem Wachstum von Algen. Nach ihrem Absterben wird beim Abbau viel Sauerstoff verbraucht, der den Seen in der Folge fehlt und zu einer Verarmung der Artenvielfalt führt. Als Gegenmassnahme werden verschiedene Gewässer künstlich belüftet – zum Teil seit Jahrzehnten. «Rund die Hälfte der grössten Seen erfüllt die gesetzlichen Vorgaben zum Sauerstoffgehalt nicht», sagt Gewässerspezialistin Yael Schindler.

Baden ist bedenkenlos möglich

Allen Defiziten zum Trotz ist «die hygienische Wasserqualität der Schweizer Seen und Flüsse sehr gut», wie das BAFU in seinen Informationen zur Badewasserqualität festhält. Das bedeutet, dass die Belastung der Badegewässer mit krankheitserregenden Keimen gering ist. Zu Recht also baden wir Sommer für Sommer mit grösstem Vergnügen in Bodensee, Aare und Lago Maggiore – und dies oft mitten in der Stadt. Ausländische Besucher trauen bei diesem Anblick ihren Augen nicht. Die Charles River Conservancy etwa, eine Organisation, die sich zum Ziel gesetzt hat, «urban swimming» in Boston zu ermöglichen, schrieb nach einer Studienreise in die Schweiz: «Aus dieser Erfolgsgeschichte können wir lernen, was es braucht, um eine amerikanische Premiere zu schaffen: einen Charles River, der sauber genug ist für Fische und für eine Rückkehr des öffentlichen Schwimmens.» Neben dem Zustand von Seen und Flüssen ist die Qualität des Grundwassers von unmittelbarer und grosser Bedeutung für die Schweiz. Verborgen im Untergrund, ist es unsere wichtigste Trinkwasserressource – mehr als 80 Prozent davon werden aus Grundwasser gewonnen. Im Gegensatz zu Flüssen und Bächen ist dieses von Natur aus durch intakten Boden relativ gut geschützt und besitzt eine «insgesamt gute Qualität», wie die landesweit repräsentativen Daten der Nationalen Grundwasserbeobachtung NAQUA zeigen.

Lebenswichtige und verletzliche Ressource

Beim genauen Hinschauen zeigen sich auch hier Probleme. «Substanzen, die besonders langlebig und gleichzeitig sehr mobil sind, können auch bis ins Grundwasser gelangen», sagt Miriam Reinhardt, die in der Sektion Hydrogeologische Grundlagen des BAFU für die Grundwasserqualität verantwortlich ist. So finde man hauptsächlich in Ballungsräumen und landwirtschaftlich intensiv genutzten Gebieten Spuren von Fremd- und Schadstoffen im Grundwasser. «Vor allem Rückstände von Düngemitteln und Pestiziden gelangen durch den Boden ins Grundwasser und beeinträchtigen die Wasserqualität nachhaltig», stellt die Koordinatorin des NAQUA-Monitorings fest. Landesweit sind die Werte von Nitrat oder von Pestizidrückständen an rund 30 Prozent der NAQUA-Messstellen signifikant erhöht. Und auch die Siedlungsentwässerung hinterlässt lokal unübersehbare Spuren im Grundwasser. Zum Beispiel, wenn über die Kläranlagen Rückstände einzelner Arzneimittel in die Fliessgewässer und von dort bis ins ufernahe Grundwasser gelangen. Für punktuelle Einträge von chlorierten Kohlenwasserstoffen sind dagegen meist Altlasten verantwortlich. Deren Sanierung ist gesetzlich vorgeschrieben und stellt ein Mehrgenerationenprojekt dar. Da sich Grundwasser im Gegensatz zu Bächen und Flüssen nur langsam erneuert, werden Verunreinigungen kaum oder nur sehr langsam abgebaut. «Umso wichtiger ist es», so Miriam Reinhardt, «problematische Substanzen frühzeitig zu erkennen und das Grundwasser nach dem Vorsorgeprinzip bestmöglich vor dem Eintrag von Fremdstoffen zu schützen.» Der Schweizer Gewässerschutz hat viele seiner Ziele erreicht. Doch was ist zu tun, damit diese Geschichte auch erfolgreich weitergeschrieben wird? Handlungsbedarf besteht vor allem in zwei grossen Bereichen. Einerseits müssen wir etwas gegen die Mikroverunreinigungen aus den dicht besiedelten Gebieten tun. Andererseits geht es um die Rückstände von Pestiziden und Düngemitteln, die direkt oder indirekt über Drainagen von den Feldern in Flüsse und Bäche eingetragen werden. «Bei den Mikroverunreinigungen aus den dicht besiedelten Gebieten liegt der Weg bereits klar vor uns», erklärt Yael Schindler. «Das Parlament hat beschlossen, die Abwasserreinigungsanlagen technisch so aufzurüsten, dass sich diese Belastungen zu einem grossen Teil eliminieren lassen.» Ziel ist, mehr als die Hälfte des Schweizer Abwassers mit einem weiter gehenden Verfahren zur Elimination von Mikroverunreinigungen zu behandeln. Dazu werden in den kommenden Jahren die wichtigsten Anlagen ausgebaut. Deutlich schwieriger sieht die Situation bei den Pflanzenschutzmitteln aus. Um zu verhindern, dass kleinere und mittlere Bäche und Flüsse stark belastet werden, braucht es grosse Anstrengungen in der Landwirtschaft. Aus diesem Grund wurde ein Aktionsplan zur Risikoreduktion und zur nachhaltigen Anwendung von Pflanzenschutzmitteln erarbeitet. Um die Risiken von Pflanzenschutzmitteln massgeblich einzudämmen, ist eine Vielzahl von Massnahmen gefragt.

Die Herausforderungen

Handlungsbedarf gibt es auch beim Schutz unserer wichtigsten Trinkwasserressource, dem Grundwasser. Weil die Siedlungsentwicklung weitgehend ungebremst voranschreitet, kommen Grundwasserfassungen immer stärker unter Druck . Und schliesslich müssen wir auch dafür sorgen, dass die Infrastruktur unterhalten wird, die uns mit Trinkwasser versorgt – und unser Abwasser beseitigt. Die Investitionen in das Innenleben des Wasserschlosses Schweiz gewissermassen.Bloss nützen all diese Anstrengungen zur Verbesserung der Qualität des Wassers wenig, wenn nicht auch die Lebensräume aufgewertet werden. Ein von Pestiziden befreiter Bach bleibt für Tiere und Pflanzen eine lebensfeindliche Umgebung, wenn er durch ein Betonkorsett eingeengt ist. Darum sollen unter anderem bis Ende dieses Jahrhunderts 4000 Kilometer Fliessgewässer revitalisiert werden – eine Herkulesaufgabe. Und noch einen Aspekt gilt es zu beachten: die Folgen des Klimawandels. Er wird sich mit grosser Wahrscheinlichkeit negativ auf die aquatischen Ökosysteme auswirken. Auch vor diesem Hintergrund müssen unsere Bäche, Flüsse und Seen naturnäher und damit widerstandsfähiger werden. «Nur in gutem Zustand können die Gewässer all ihre Funktionen erfüllen», erklärte BAFU-Direktor Marc Chardonnens den am Limpach versammelten Medienleuten. «Sei es als Trinkwasserlieferanten, als Naherholungsgebiete für die Bevölkerung oder als Lebensräume für Pflanzen und Tiere.»


Wasserqualität

Die Gesundheit unserer Flüsse, Bächeund Seen – oder mit anderen Worten, der ökologische Zustand unserer Gewässer – hängt von mehreren Faktoren ab. Einer davon ist die Wasserqualität, dem dieses umwelt-Dossier gewidmet ist. Darunter werden «stoff liche Einträge» in die ober- und unterirdischen Gewässer verstanden. Der Schutz vor Verunreinigungen steht beim Grundwasser, unserer wichtigstenTrinkwasserressource, im Vordergrund. Zusätzlich zur Wasserqualität wirken sich zwei weitere Bereiche auf die Gewässerbiologieaus: Lebensraum sowie Wasser- und Geschiebeführung. Der Lebensraum vieler Gewässer ist durch Verbauungen stark beeinträchtigt. Ein gesundes Gewässerbraucht aber auch genügend Wasser und Geschiebe. Vor allem die Wasserkraftnutzung wirkt sich negativ auf diese Aspekte aus. In ihrer Kombination haben die drei Bereiche positive oder negative Folgen für das Wohlergehen von Flora und Fauna.


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Letzte Änderung 15.02.2017

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