Kleine Fliessgewässer: Idyllisch plätschernde Lebensadern

Bäche und Flüsse sind aus ökologischer Sicht besonders wertvoll. Für manche Tiere und Pflanzen stellen sie gar den wichtigsten Lebensraum dar. Und die kleinen Fliessgewässer reagieren ganz besonders empfindlich auf Belastungen durch menschliche Aktivitäten, wie eine Tour durch den Kanton St. Gallen zeigt.

Text: Kaspar Meuli

Inhalt Bach
Die Biologin Verena Leib beprobt den Hörlenbach in der Nähe von St. Gallen. Die Steinfliegenlarven, die sie dabei unter anderem findet, sind Zeichen einer sehr guten Wasserqualität.
© Markus Forte, Ex-Press/BAFU

Ein Lächeln huscht über Vera Leibs Gesicht. «Da geht mir das Herz auf», sagt die Biologin, greift sich eine grosse Steinfliegenlarve aus dem Netz und setzt sich das Tierchen auf die Hand. «Manchmal vergesse ich ganz, dass es so etwas gibt.» Wir befinden uns in einem Wald keine 15 Autominuten von St. Gallen entfernt. Angenehm kühl ist es an diesem Sommermorgen, und auf dem sanft dahinplätschernden Bach, in dem wir stehen, spielen Sonnenstrahlen. Vera Leib, die Spezialistin für kleine Fliessgewässer im Amt für Umwelt und Energie des Kantons St. Gallen, hat den quicklebendigen Hörlenbach erst vor Kurzem entdeckt. Meistens hat sie es nicht mit Vorzeigegewässern zu tun, sondern mit Problemfällen. Und davon gibt es genug. Rund fünfzig Mal im Jahr werden dem Schadendienst ihres Amtes Gewässerverschmutzungen gemeldet, nicht selten auch Fischsterben. Die wichtigsten Ursachen für die Schadensfälle liegen bei Industrie- und Gewerbebetrieben, landwirtschaftlichen Tätigkeiten oder auf den Strassen. Viele Verschmutzungen werden allerdings gar nicht gemeldet. Und einen weiteren wichtigen Grund für den schlechten Zustand von Bächen, nämlich die Belastung durch Mikroverunreinigungen, entdecken auch noch so aufmerksame Fischer und Spaziergängerinnen nicht. Doch davon später.

Seltene Lebewesen – gesunder Bach

Nun setzt die Biologin zu einem zweiten Fangzug an. Sie legt ihr Netz auf der Sohle des Hörlenbachs aus, bewegt mit ihrem rechten Fuss einen Stein, scheucht so die Wasserlebewesen auf und hebt dann die Beute sorgfältig aus dem Wasser. «Zuerst denkt man immer, man finde nichts, aber beim genaueren Hinsehen zeigt sich sofort, dass sich etwas bewegt.» Tatsächlich. Im Fanggut, das Vera Leib in eine Laborschale geschüttet hat, entdeckt sie weitere Steinfliegenlarven, etwa einen Zentimeter lang, hellbraun gefärbt und mit den charakteristischen Schwanzfäden ausgestattet. Die Gewässerspezialistin ist mehr als zufrieden: «Wenn ich sehr grosse Larven dieser Art finde, kann ich mit Sicherheit sagen, die Wasserqualität eines Bachs war während der letzten Jahre gut.» Der Grund für eine derart präzise Aussage: Die Larven der Steinfliege wachsen während einer Zeitspanne von bis zu drei Jahren im Wasser heran, und sie reagieren sehr empfindlich auf Verschmutzungen. Genau deshalb eignen sie sich, wie die anderen wirbellosen Wassertiere – auch Makrozoobenthos genannt – als Indikatoren für den biologischen Zustand eines Gewässers. Am aussagekräftigsten für Vera Leibs Beurteilungen sind neben der Steinfliege die Eintagsfliege, die Köcherfliege und der Flohkrebs. Die Biologin dokumentiert das Vorkommen und die Häufigkeit dieser Arten in regelmässigen Abständen, vor allem in Gebieten mit hohem Nutzungsdruck, und bildet so die mehr oder weniger gute Befindlichkeit der St. Galler Bäche ab. Kombiniert mit den chemischen Untersuchungen der Gewässer ergibt sich daraus folgendes besorgniserregendes Bild: 35 von 50 untersuchten Bächen im Kanton zeigen erhebliche Mängel punkto Qualität und erfüllen die Anforderungen der eidgenössischen Gewässerschutzverordnung nicht – ganz im Unterschied zu den grossen Bächen und Flüssen, deren Qualität in St. Gallen gut ist.

Kanton SG: Qualität der St. Galler Bäche ist oft ungenügend

Defizite von Öffentlichkeit kaum bemerkt

Wie eine schweizweite Untersuchung im Auftrag des BAFU zeigt, unterscheidet sich der Zustand der kleinen Bäche stark. Von solchen in naturnahem Zustand bis zu überaus stark beeinträchtigten findet sich die gesamte Bandbreite. Die Hälfte der untersuchten Bäche, so das Ergebnis von über 700 Ma­krozoobenthos-Untersuchungen, befindet sich in einem ungenügenden Zustand. Am grössten sind die Defizite in intensiv genutzten Regionen mit viel Siedlung, Landwirtschaft und Verkehr. «Der Zustand vieler Bäche ist bedenklich und wird in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen», erklärt Christian Leu, der Leiter der Sektion Wasserqualität im BAFU. Allzu schlecht bekannt sei auch, welch wichtige Rolle die Bäche spielten. Sie machen nicht nur drei Viertel des 65 000 Kilometer langen liessgewässernetzes der Schweiz aus, sie sind aus ökologischer Sicht auch besonders wertvoll. Für manche wirbellosen Wassertiere stellen sie gar den wichtigsten Lebensraum dar. Aber auch viele Fische nutzen sie zum Laichen, Heranwachsen und als Rückzugsraum, in den sie sich bei Hochwasser oder nach Verschmutzungen grösserer Gewässer zurückziehen können. Sterben nach solchen Störungen Fische oder kleinere Gewässertiere in den Hauptgewässern aus, ist eine Wiederbesiedlung nur dank intakter Seitenbäche möglich. Bäche erfüllen nicht nur grundlegende ökologische Funktionen, sie reagieren auch besonders empfindlich auf Belastungen. Und die sind in kleinen Fliessgewässern etwa durch Pestizidrückstände besonders hoch. Der Grad der Verschmutzung schwankt allerdings je nach Ort und Zeit stark. Am problematischsten ist die Situation, wenn Pflanzenschutzmittel nach einem starken Regen direkt vom Feld in einen Bach gelangen. Dann treten bei den Mikroverunreinigungen Konzentrationsspitzen auf, die um ein Vielfaches höher sind als in Flüssen. «Im stark genutzten Mittelland kann eine Vielzahl der Bäche ihre wichtigen natürlichen Aufgaben nicht mehr erfüllen», bilanziert ­Christian Leu und zieht einen Vergleich mit dem Sandoz-Unfall in Schweizerhalle, der die Menschen in der Schweiz vor 30 Jahren aufrüttelte und verschiedene Massnahmen zur Verbesserung der Wasserqualität des Rheins auslöste. «Heute finden in unserem Land fast täglich kleinere und grössere Verschmutzungen statt, die im Kleinen ähnlich schwerwiegende Folgen für unsere Bäche haben. Es ist an der Zeit, etwas gegen diesen Missstand zu unternehmen.» Denn längst ist klar, wie sich die stoffliche Belastung senken lässt. Bei Abwasserreinigungsanlagen (ARAs) existieren dafür technische Massnahmen, doch diese leiten das gereinigte Wasser praktisch ausschliesslich in mittlere und grosse Gewässer. Zur Verbesserung der Wasserqualität der kleinen Gewässer hingegen braucht es eine ganze Palette von Massnahmen.

Naturnahe Bäche besser schützen

«Eine zentrale Voraussetzung für die Umsetzung dieser Massnahmen», sagt Christian Leu, «ist, dass wir uns der Verantwortung gegenüber diesem wichtigen Lebensraum bewusst werden und entsprechend handeln.» Allerdings nicht nur beim Umgang mit Chemikalien, sondern auch, indem wir den kleinen Gewässern den Raum geben, den sie brauchen, um ihre vielfältigen Funktionen wahrzunehmen. Wichtig sei auch, sich nicht nur auf die Gewässer in schlechtem Zustand zu konzentrieren. Es müssten konsequent auch diejenigen Bäche geschützt werden, die sich noch in naturnahem Zustand befänden. Vor dem Hintergrund dieser Fakten ist der Hörlenbach in den Hügeln oberhalb von St. Gallen ein richtiger Glücksfall. Er schlängelt sich nicht nur idyllisch durch Mischwald und Grasland, er ist auch aus biologischer Sicht intakt. Bei unserer Beurteilungstour findet Vera Leib nur Tierchen, die für gesundes Wasser sprechen. Und auch die einfachen chemischen und physikalischen Messungen, die sie direkt vor Ort ausführt, bestärken den Befund: «Wir haben es hier wirklich mit einem wunderbaren Bächlein zu tun.» Doch weshalb geht es dem Hörlenbach im Unterschied zu anderen Bächen eigentlich so gut? Die Antwort lässt sich so zusammenfassen: Der Bach ist noch jung, wir befinden uns nur wenige Hundert Meter unterhalb der Quelle, er fliesst vor allem durch den Wald, und in seinem Einzugsgebiet liegt bloss ein einziger Bauernhof.

Rote Würmer im Sickerkanal

Wir ziehen unsere Gummistiefel aus, steigen ins Auto und fahren mit der Biologin zu unserem zweiten Ortstermin. Er liegt im Rheintal ganz im Osten des Kantons. Genauer bei Diepoldsau, der einzigen Schweizer Gemeinde auf der rechten Flussseite des Alpenrheins. Das kleine Gewässer, das uns Vera Leib zeigen will, gehört zu ihren Sorgenkindern und trägt nicht einmal einen richtigen Namen. Schnurgerade zieht sich der «Sickerkanal rechts» entlang von grossen Maisfeldern und Kunstwiesen dahin, eingezwängt zwischen Betonmauern und einer mit Brettern beplankten Sohle. Im St. Galler Rheintal wird an vielen Orten intensiv Landwirtschaft betrieben, denn die ehemaligen Moorflächen sind topfeben und fruchtbar. Wegen des hohen Grundwasserspiegels muss der Boden allerdings mithilfe von Drainageleitungen entwässert werden. Die Biologin marschiert auf eine Stelle zu, an der eines der Entwässerungsrohre in den Kanal mündet, und deutet auf rote Farbflecken im Wasser: Ansammlungen von Schlammröhrenwürmern, die sich blitzschnell in ihre Röhrenbehausungen zurückziehen, sobald sie sich gestört fühlen. Doch die Gewässerspezialistin packt ihr Netz gar nicht erst aus, die Indikatoren für die Wasserqualität sind von blossem Auge sichtbar. «Die roten Spuren sind ein klares Zeichen für eine Verschmutzung», erklärt sie. «In sauberen Bächen kommen diese Würmer nie so massiv, sondern nur vereinzelt vor.» Messungen haben ergeben, dass der Sicker­kanal mit Ammonium-Stickstoff belastet ist. Die vorgefundenen Konzentrationen liegen deutlich über dem Grenzwert. Der schädliche Stoff ist Bestandteil von Gülle und kann über die Drai­nageleitungen direkt ins Gewässer gelangen.

Schnelles und entschiedenes Handeln gefragt

Bei ihren Touren über Land kommt die Gewässerspezialistin oft mit Leuten ins Gespräch, und dann betont sie jeweils die ökologische Bedeutung der kleinen Gewässer. «Ich versuche immer, die Leute zu sensibilisieren und ihnen aufzuzeigen, welche Folgen der unsorgfältige Umgang mit Gülle oder Abwasser haben kann.» Doch bei offensichtlichen Verstössen gegen gesetzliche Vorschriften sei es nicht mit gutem Zureden getan, dann greife der Kanton auch hart durch. Weil die Zeit drängt. Vera Leib ist überzeugt, dass wir alle schnell und entschieden handeln müssen, um die unzähligen belasteten Bäche zu dem zu machen, was sie eigentlich sein sollten: wichtige Lebensräume der Schweiz für Flora und Fauna. Gefordert ist das Handeln von Privatpersonen, die zur Belastung mit Mikroverunreinigungen beitragen, wenn sie mit Giften nicht sorgsam genug umgehen. Oder auf dem Bau, wenn schädliches Betonwasser bedenkenlos in einen Bach geleitet wird. Und handeln müssen natürlich auch die Bauern und Bäuerinnen. «Mit einer guten und sorgfältigen Pflanzenschutz- und Düngepraxis», weiss die Biologin, «können die Landwirte viel für die kleinen Bäche bewirken.»

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Letzte Änderung 15.02.2017

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