Schutzwaldpflege: Die Zusammenarbeit im Gelände ist entscheidend

1.9.2021 - Wenn Geröll, Totholz und ganze Bäume den Abfluss behindern, wird auch ein kleiner Bach schnell zur grossen Gefahr. Schutzwälder helfen, die Risiken zu minimieren. Kürzlich hat der Bund seine Vorgaben zur Pflege der Schutzwälder an Fliessgewässern aktualisiert. Umsetzen müssen sie die Forst- und Wasserbauverantwortlichen im Gelände.

Text: Mike Sommer

«2013 war ein Schlüsselerlebnis, alle waren sich einig, dass wir in Zukunft enger zusammenarbeiten müssen» – Forstingenieur Beat Fritsche.
© Ephraim Bieri | Ex-Press | BAFU

Anfang Juni 2013 verursachten tagelange Starkniederschläge vielerorts im Alpenraum grosse Schäden. In der Schweiz hatte der Kanton Appenzell Ausserrhoden mit rund 5 Millionen Franken die schweizweit zweithöchsten Kosten zu tragen. Zahlreiche Gemeinden meldeten Unwetterschäden – grösstenteils als Folge von Erdrutschen und Überschwemmungen. Beat Fritsche, Oberförster in der kantonalen Abteilung Wald und Naturgefahren, erinnert sich: «Am Mattenbach in der Nähe von Heiden etwa gab es zahlreiche Rutschungen, die grosse Mengen Geröll und Holz ins Bachbett beförderten. Schwemmholz in einem Tobel hat ein gefährliches Potenzial. Es kann sich an engen Stellen, unter Brücken oder vor Durchlässen verfangen und das Wasser aufstauen.» Als Folge davon können benachbarte Gebiete überflutet werden und Geröll sowie Schwemmholz auf Wiesen, Strassen, Schienen oder sogar in den Siedlungsraum gelangen. Dabei spricht man von einer Übersarung.

Handlungsbedarf erkannt

«2013 war ein Schlüsselerlebnis», sagt Forstingenieur Beat Fritsche, «alle waren sich einig, dass wir in Zukunft enger zusammenarbeiten müssen – Wald- und Wasserbauverantwortliche, Förster und Waldbesitzer.» Die Aufgabe ist im Kanton Appenzell Ausserrhoden mit seinen zahlreichen schwer zugänglichen Tobeln umfangreich. Der Wald wird hier vielerorts nicht oder kaum bewirtschaftet, weil Holzschlag und Pflegemassnahmen aufgrund der schwierigen Erschliessungssituation sehr anspruchsvoll sind. Die Schutzwaldpflege ist oft nur mit dem Einsatz von Helikoptern möglich und entsprechend teuer. Dadurch sammelt sich viel Totholz an. Kurzfristig mussten die Waldverantwortlichen im Appenzeller Hügelland nach 2013 zuerst einmal die Gerinne vom Schwemmholz befreien, um die Gefahr für die weiter unten liegenden Infrastrukturen und Siedlungen zu bannen. «Eine viel langfristigere Herausforderung ist hingegen die Pflege der Schutzwälder im Gerinnebereich, um ihre Schutzfunktion zu verbessern», sagt Beat Fritsche.

Überalterte Baumbestände sind oft instabil, die Bäume können bei Wind oder Nassschnee leichter umfallen und grosse Lücken hinterlassen, in denen der vegetationsarme Boden ungeschützt ist. Dies sind ideale Voraussetzungen für Rutschungen, die wiederum grössere Schneisen in den Wald reissen und Geschiebe sowie Holz in den Bach transportieren.

Nachhaltig statt kurzzeitig maximal

Gerinneschutzwälder werden in zwei Zonen eingeteilt. Der höher gelegene Gerinneeinhang ist der Bereich, aus dem Bäume, Totholz und Geschiebe bis hinunter in den Bach stürzen oder gleiten können. Deshalb sollte die Vegetation hier bestmöglich vor Gefahrenprozessen wie Erosion, Rutschungen, Steinschlag oder Lawinen schützen. Angestrebt wird ein natürliches Baumartenspektrum. Ein weiteres Ziel ist die stete Verjüngung des Baumbestandes: Indem einzelne grosse Bäume gefällt werden, entstehen kleine Lücken mit genügend Lichteinfall, damit hier junge Bäume aufkommen können. Kurzfristig und auf kleinen Flächen ist die Schutzwirkung des Waldes dadurch zwar etwas reduziert, langfristig wird sie aber grossflächig sichergestellt. «Die Schutzwirkung soll so hoch wie möglich sein, ohne dass sie an Nachhaltigkeit einbüsst», betont Benjamin Lange von der Sektion Rutschungen, Lawinen und Schutzwald beim BAFU. Kompromisse sind auch beim Totholz nötig. Alle im Schutzwald herumliegenden Äste und Stämme wegzuräumen, würde nicht nur grosse Kosten verursachen, sondern auch die ökologischen Funktionen des Waldes schmälern. Wenn es die Sicherheit nicht gefährdet, werden nämlich auch Anliegen der Biodiversität berücksichtigt. Die Herausforderung besteht also darin, nur das Totholz zu entfernen, das ins Bachbett gelangen und dort für Schäden sorgen könnte.

Feinarbeit im Gelände

Besonders anspruchsvoll ist die Pflege des Schutzwaldes in der tiefer gelegenen Zone in unmittelbarer Nähe des Bachs. Im Prozessbereich von Murgang und Hochwasser ist die Vegetation gelegentlich den Kräften des hoch gehenden Bachs oder einer Mure ausgesetzt. Dabei werden Totholz und instabile Bäume weggeschwemmt und können bei der nächsten Engstelle den Abfluss durch Verklausung blockieren. Wie lassen sich solche Gefahren erkennen und wirkungsvoll vorbeugen? «Im Prozessbereich eines Gerinnes ist es wichtig, die Verhältnisse im Gelände genau zu erkunden», sagt Benjamin Lange. «Das sollten die Forst- und die Wasserbauverantwortlichen gemeinsam tun.» Wie ist der Bach genau beschaffen, wie gross ist seine Transportkapazität, wo könnte sich eine Verklausung bilden? In die Beurteilung müssen zahlreiche Faktoren einfliessen. «Kann ein bestimmter Baum bei einem Hochwasser mitgerissen werden, oder ist er so stabil, dass er stehen bleibt und das Ufer vor Erosion schützt?», fragt Benjamin Lange. «Könnte Holz leicht mitgerissen werden? Und wenn ja, entsteht dadurch eine Gefahr für Menschen und Infrastrukturen? Solche Fragen vermögen die Fachleute für Wald und Wasserbau nur vor Ort zu beantworten.»

Eingespielte Teamarbeit

Im Kanton Appenzell Ausserrhoden ist diese Zusammenarbeit gut eingespielt. Beat Fritsche und die Wasserbauverantwortlichen in der Verwaltung haben ihre Büros Tür an Tür. Gemeinsam sind sie im Frühjahr jeweils zwei Tage im Gelände, um sich die Gerinneschutzwälder genauer anzusehen. «Wir kennen die heiklen Gewässer und erhalten auch immer wieder aktuelle Hinweise von Förstern, Waldbesitzern oder Wasserbauverantwortlichen der Gemeinden», sagt Beat Fritsche. «Wenn wir dringenden Handlungsbedarf erkennen, starten wir ein forstliches Schutzwald-Pflegeprojekt.» Dabei wird festgehalten, welche Massnahmen die Schutzwirkung des Waldes verbessern sollen. Für die Detailplanung ist in der Regel die Revierförsterin bzw. der Revierförster zuständig. Nach Abschluss des Projekts gibt es eine Abnahme, bei der wiederum Beat Fritsche, eine verantwortliche Person des kantonalen Wasserbaus und bisweilen auch eine Vertretung der Gemeinde zugegen ist.

Auch eine Wirkungskontrolle findet statt. Allerdings nicht bei jedem einzelnen Projekt, sondern mithilfe der sogenannten Weiserflächen. Dabei handelt es sich um elf vom Kanton ausgeschiedene Schutzwaldflächen von jeweils etwa einer Hek­tare – pro Naturgefahr und Waldstandortgruppe eine. An ihnen lässt sich modellhaft überprüfen, ob die Massnahmen die erwartete Wirkung auf den Waldzustand und die Schutzfunktion entfalten. Die Wirkungskontrolle ist ein wichtiger Bestandteil der Schutzwaldbewirtschaftung, weil mit den Lehren daraus der Schutzwald zunehmend wirksam gepflegt werden kann.

Das Urteil der Praxis

Kürzlich hat der Bund seine Vorgaben zur Pflege der Schutzwälder an Fliessgewässern aktualisiert. Die neuen Anforderungen hat er in enger Zusammenarbeit mit der Praxis und der Wissenschaft erarbeitet. Im August 2020 bildete das sogenannte Anforderungsprofil «Gerinneprozesse» den Schwerpunkt der Sommertagung der Gebirgswaldpflegegruppe (GWG) im Zürcher Oberland. Rund 60 Forst- und Wasserbauverantwortliche sowie Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen diskutierten die neuen Anforderungen im Rahmen von Begehungen im Gelände, konnten Fragen stellen und auch Kritik einbringen. Nach letzten Anpassungen tritt das Dokument 2021 in Kraft. Beat Fritsche beurteilt es positiv: «Das neue Anforderungsprofil ist auf dem heutigen Stand des Wissens. Es gibt der Auseinandersetzung mit der Situation vor Ort einen höheren Stellenwert und fördert insbesondere die Zusammenarbeit der Waldverantwortlichen mit dem Wasserbau. Unsere Erfahrungen im Kanton Appenzell Ausserrhoden zeigen, dass dies der richtige Weg ist.»

Was ein Schutzwald leisten muss

Unter Federführung des BAFU hat der Bund – im Rahmen des Projekts SilvaProtect-CH – 2008 eine Methode entwickelt, um Schutzwälder methodisch einheitlich zu erfassen. Basierend auf der dabei entstandenen Modellierung der Naturgefahrenprozesse haben die Kantone in der Folge ihre Schutzwälder bestimmt: Rund 50 Prozent der Waldfläche der Schweiz schützt vor Naturgefahren. Dabei wird unterschieden zwischen Wäldern, die vor Gerinneprozessen wie Übersarung und Murgängen, vor Rutschungen und Lawinen oder vor Steinschlag schützen sollen. Für jeden dieser Prozesse wurde die Beschaffenheit des Waldes für eine optimale und andauernde Schutzwirkung definiert. 

Diese Zielzustände bestehen für verschiedene Naturgefahren und Waldstandorttypen – so zum Beispiel für Rutschungen in einem Buchenwald oder für Lawinen in einem Fichtenwald. Festgelegt sind sie in der vom Bund erarbeiteten und verbindlichen Vollzugshilfe «Nachhaltigkeit und Erfolgskontrolle im Schutzwald» (NaiS). Kürzlich hat das BAFU nun das Anforderungsprofil «Gerinneprozesse» erarbeitet und dabei die Erfahrungen aus der Praxis und die neusten Erkenntnisse der Forschung einfliessen lassen. Gegenstand dieses Teils der Vollzugshilfe sind Wälder entlang von Bächen und Flüssen, von denen die hauptsächliche Gefahr für Geschiebe- und Schwemmholzeinträge in die Gewässer ausgeht – also Wälder wie diejenigen an den steilen Hängen am Mattenbach bei Heiden (siehe Haupttext). Im Wasserschloss Schweiz sind Gerinneschutzwälder weitverbreitet, im Kanton Appenzell Ausserrhoden trifft diese Kategorie auf 62 Prozent aller Schutzwälder zu.

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Letzte Änderung 01.09.2021

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