Interview: «Wirtschaftswachstum ist kein Naturgesetz»

Die Physikerin und Professorin für Ökologische Ökonomie Julia Steinberger erforscht zusammen mit zwei Kollegen den Weg in die Postwachstumsgesellschaft. Wie funktioniert eine Wirtschaft ohne Wachstum? Was wäre der erste Schritt in diese Richtung?

Interview: Brigitte Wenger

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Die Naturwissenschaftlerin ist in der Region Genf aufgewachsen und hat am Massachusetts Institute of Technology (MIT) Physik und Mathematik studiert. Seit 2020 lehrt sie als Professorin für Ökologische Ökonomie an der Universität Lausanne. Als Leitautorin hat sie am 6. Sachstandsbericht des Weltklimarates IPCC mitgeschrieben. Ihre Forschung hat sie zur Aktivistin gemacht. Dass Steinberger sich 2022 für «Renovate Switzerland» auf die Strasse klebte, wurde zum Teil kritisiert. Das gehöre sich nicht für eine Professorin. Sie selbst findet, Forschung und Aktivismus schliessen sich nicht aus. Steinberger lebt in der Schweiz und in England, ist verheiratet und Mutter eines Sohnes.

Julia Steinberger, wie sähe eine Welt nach der Wachstumsgesellschaft aus?

Idealerweise ist sie bunt und lebendig, voller Kultur und Kreativität: Menschen, die Gemeinschaften, aber keine Luxusgüter brauchen, um zufrieden zu sein. Energie, die aus ressourcenarmen Quellen stammt. Eine saubere Umwelt, ein gut ausgebautes Gesund­heitswesen, Gleichberechtigung auch zwischen den Ländern des Nordens und des Südens. Und eine demo­kratische Gesellschaft, die weniger vom Markt beeinflusst ist.

Sie haben gemeinsam mit zwei Forschern aus Barcelona vom Europäischen Forschungsrat ERC zehn Millionen Euro für das Projekt «Post-Growth Deal» erhalten. Noch nie wurde so viel Geld in die Postwachstumsforschung investiert. Steht dieser Betrag für Hoffnung oder Verzweiflung?

Manche sehen ihn als Richtungswechsel der Politik, dass die EU jetzt in Richtung Postwachstum geht. Ich sehe das nicht unbedingt so. Ich glaube, die Finanzierung des Projekts bedeutet, dass die Postwachstumsforschung akzeptiert ist und ein riesiges Feld an Möglichkeiten bietet. Zehn Millionen Euro ist viel Geld, das ist schön und gut. Man muss aber auch sehen, dass die vielen anderen Ökonominnen und Ökonomen viel mehr zur Verfügung haben.

Wie erforschen Sie die Postwachs­tums­gesellschaft – eine Gesellschaft, die es vielleicht nicht geben wird?

Meine Aufgabe im Projekt «Post-Growth Deal» ist es, Versorgungs­systeme zu modellieren: Welche Ressourcen kann der Planet bereitstellen und wie viele Ressourcen brauchen wir? Wir erfassen das heutige System so gut wie möglich, verstehen Abhängigkeiten und Ungleichheiten. In diesem Modell können wir dann Faktoren verschieben: Was passiert, wenn wir die Ungleichheit ändern? Die Konsummuster? Was, wenn Technologien effizienter werden? Gleichzeitig untersuche ich die Umweltverschmutzung der Ressourcennutzung: Warum ist der Wohnungsbau heute ökologisch nicht nachhaltig? Der Verkehr? Die Lebensmittelproduktion? Wir wollen verstehen, wie wir diese Versorgungssysteme gerechter und ökologisch nachhaltiger gestalten können.

Sie forschen auch an der grossen Entkopplungsfrage: Wie schaffen wir es, dass mehr Wohlstand nicht auf Kosten der Umwelt geht? Ist das möglich?

Ja, die Entkopplung von Wohlstand und Umweltverschmutzung ist möglich – aber nicht im aktuellen Wirtschafts­system. Es stimmt, das Wachstum hat uns Wohlstand gebracht. Aber wenn wir nur weit genug in der Geschichte zurückgehen dann sehen wir, dass Menschen auch sehr gut leben können, ohne die Umwelt auszubeuten. Die Frage ist: Wo ging es schief? Ich denke: bei den Anfängen des Kapitalismus und der Kolonialisierung. Unsere heutige Wirtschaft häuft Reichtum an. Anderes wird dabei zerstört: der soziale Zusammen­halt, der lebenswerte Planet.

Was muss man sich unter Wohlstand überhaupt vorstellen – Swimmingpools für alle?

Nein. Wohlstand bedeutet, dass unsere essenziellen Bedürfnisse befriedigt sind. Wohlstand bedeutet eine funktionierende Gesundheits­versorgung, soziale Gemeinschaften, nicht diskriminiert zu werden, in der Lage zu sein, Lebenspläne zu verwirklichen. Ein gutes Leben bedeutet nicht, immer glücklich zu sein. Es ist kein Urlaubsprospekt. Es ist wichtig, Begriffe zu definieren, damit alle über dasselbe sprechen.

Dann definieren Sie bitte den Begriff Wachstumsgesellschaft.

Wir leben in einer Gesellschaft, die auf Wachstum ausgerichtet ist: mehr Wirtschaftstätigkeit, mehr Gewinne, begleitet von mehr Material-, Energie- und Landverbrauch sowie sozialer Ungleichheit. Warum? Weil Wachstum die Wirtschaft stabilisiert. Wenn ein Unternehmen in eine Krise gerät, entlässt es Mitarbeitende, verliert Vertrauen und zieht die ganze Wirtschaft in eine Negativ­spirale. Um das zu verhindern, muss der Kuchen – der Markt – immer grösser werden. Nur so können Unternehmen Gewinne machen, ohne andere in den Bankrott zu treiben.Und was ist dann Postwachstum?Hier sind Wirtschaft und Wachstum entkoppelt, der Ressourcenverbrauch liegt innerhalb der planetaren Grenzen und die Menschen leben einen Wohlstand, der die Umwelt nicht ausbeutet.

Sie erforschen, wie wir das erreichen könnten. Was wäre der erste Schritt?

Wir müssen radikal umdenken – die Wirtschaft braucht eine komplett neue Struktur. Wir müssen begreifen, dass Wirtschaftswachstum kein Naturgesetz ist. Im Moment trifft der Markt die Entscheide für uns.

Welche Bedeutung hat ein Land wie die Schweiz in diesem Prozess? 

Gerade die Schweiz spielt eine viel grössere Rolle im heutigen System, als wir zugeben möchten. Mit unserem Überkonsum, dem Finanzsektor, der in fossile Brennstoffe und zerstörerische Industrien investiert, und der Rolle als globaler Rohstoffdrehscheibe sind wir längst nicht so sauber, wie wir es gerne wären. Dabei könnte die Schweiz Vorreiterin sein. Wir haben innovative Universitäten, viel Geld und sehr gut ausgebildete Arbeitskräfte. Wir könnten neue effiziente und umweltschonende Technologien stärker forcieren und zeigen, dass sie funktionieren.

Was kann ich persönlich tun?

Tun Sie sich mit anderen Menschen zusammen. Sie können Dinge in Ihrer Familie ändern. Sie können mit Ihren Freunden debattieren, sich in der Nachbarschaft für mehr Wohlstand und weniger Umweltverschmutzung einsetzen. Seien Sie kreativ und lassen Sie sich nicht entmutigen.

Können Sie nachvollziehen, dass viele Menschen Angst vor dem Ende des wirtschaftlichen Wachstums haben, weil sie es als Bedingung für den Wohlstand ansehen?

Ich glaube, heute gibt es einiges, wovor man sich fürchten muss – aber unsere Wirtschaft umzugestalten ist viel einfacher als acht Milliarden Menschen bei einer Erwärmung von anderthalb Grad zu ernähren, geschweige denn bei drei Grad, auf die wir uns derzeit zubewegen. Ich habe kürzlich mit einem dänischen Speck­könig darüber gesprochen, dass wir dringend weniger Fleisch essen sollten. Das sah er natürlich gar nicht so. Dann habe ich ihn gefragt: Was wäre, wenn es wirklich, wirklich wichtig wäre? Und er sagte: Ja, klar, dann würde ich sofort mit der Fleischproduktion aufhören, kein Problem. Daran sieht man: Menschen begreifen die Dringlichkeit nicht. Jetzt mag es so aussehen, als würden wir viel von den Menschen verlangen. Aber in ein paar Jahren werden wir uns wünschen, wir hätten viel mehr getan.

So aber scheint es extrem schwierig, sogar fast unmöglich, dass wir den Weg in die Postwachstums­gesellschaft schaffen. Warum sollen wir es trotzdem versuchen?

Manche Kämpfe sind es wert, gekämpft zu werden, auch wenn man nicht glaubt, dass man sie gewinnen kann. Mensch sein bedeutet, dass man nicht aufgibt, wenn etwas wichtig ist. Deshalb lohnt sich dieser Kampf.

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Letzte Änderung 03.04.2024

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