Europäische Umweltagentur (EUA): «Die Zeit drängt!»

24.2.2021 - Die Europäische Umweltagentur (EUA) und ihr Netzwerk für Umweltinformation und -beobachtung (Eionet) haben ihre Strategie für den Zeitraum von 2021 bis 2030 erarbeitet. Nicolas Perritaz vom BAFU arbeitet eng mit der EUA zusammen. Im Gespräch geht er auf ihren neusten Umweltzustandsbericht ein und erläutert die Grundzüge der EUA-Strategie sowie die Massnahmen zur Reduktion der Umweltbelastung.

Interview: Cornélia Mühlberger de Preux

Nicolas Perritaz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der BAFU-Sektion Europa, Handel und Entwicklungszusammenarbeit in der Abteilung Internationales. Als Geograf mit Spezialgebiet Umweltingenieurwesen verfügt er über solide Erfahrungen im Bereich der Projektleitung und der internationalen Zusammenarbeit. Vor seiner Tätigkeit beim BAFU arbeitete er an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL) sowie bei der EUA in Kopenhagen, wo er sich mit den Themen Umweltgesundheit, nachhaltige Entwicklung sowie Umweltbeobachtung und -beurteilung befasste.
© Joël Jakob | BAFU

Ende 2019 ist der jüngste EUA-Bericht «Die Umwelt in Europa – Zustand und Ausblick 2020» erschienen. Welche neuen Erkenntnisse präsentiert er?
Nicolas Perritaz: Wie der alte Bericht von 2015 aufzeigte, liegt das Potenzial für Fortschritte nicht mehr in den eigentlichen Umweltthemen, sondern in den Sektoralpolitiken wie der Energie- oder der Verkehrspolitik. Auch vom Weg zu ökologischer Nachhaltigkeit war die Rede. Der neue Bericht spricht explizit von der Umgestaltung der gesellschaftlichen Systeme, die nötig ist, um bis 2050 die Vision einer nachhaltigen, kohlenstoffarmen Zukunft zu verwirklichen. Diese Umgestaltung betrifft unsere Produktions- und Konsummuster. Der Fokus richtet sich also nicht nur auf die Umwelt an sich, sondern auf das Fundament unserer Gesellschaft. Das ist fortschrittlich und greifbar. Neu ist auch, dass heute – im Unterschied zum bisherigen mittelfristigen Ausblick bis 2030 – die Ziele der Europäischen Union (EU) bis 2050 berücksichtigt werden.

Welches sind die grossen ökologischen Herausforderungen des kommenden Jahrzehnts?
Bei der Lektüre des Berichts war ich beeindruckt, mit welcher Deutlichkeit das unbekannte Ausmass, die Komplexität und die noch nie da gewesene Dringlichkeit der aktuellen ökologischen Herausforderungen hervorgehoben werden. Der Biodiversitätsverlust in Europa schreitet mit alarmierendem Tempo voran, die Folgen des Klimawandels treten immer deutlicher zutage, und unser übermässiger Ressourcenverbrauch ist offensichtlich. Die Umwelt befindet sich an einem Kipppunkt. Drei internationale wissenschaftliche Berichte erhärten diesen Befund: Gemäss dem Bericht des Weltklimarates IPCC darf der weltweite Temperaturanstieg nicht mehr als 1,5 Grad Celsius betragen. Der Weltbiodiversitätsrat IPBES warnt vor dem rasanten Artensterben, und schliesslich macht das International Resource Panel IRP des UNO-Umweltprogramms auf die bedrohliche Übernutzung der natürlichen Ressourcen aufmerksam. Das kommende Jahrzehnt bietet ein begrenztes Zeitfenster, um diese Trends umzukehren. Die Zeit drängt. Der EUA-Bericht ist ein dringender Appell an die Länder Europas – darunter auch die Schweiz – sowie an ihre Regierungen und politisch Verantwortlichen, die Bemühungen zur Erreichung der mittel- und langfristigen Umweltziele zu verstärken, damit sich irreversible Schäden verhindern lassen.

Der Anteil erneuerbarer Energien muss gemäss EUA weiter gesteigert werden.
© EUA

Sie zeichnen ein eher düsteres Bild. Gibt es Grund zur Hoffnung?
Europa hat in verschiedenen Sektoren Fortschritte erzielt. Die Luft- und die Wasserqualität haben sich gesamthaft verbessert, die Treibhausgasemissionen sind leicht gesunken. Die Entsorgung von Abfällen, namentlich von Kunststoffabfällen, wurde optimiert. Deutliche Verbesserungen sind bei der Effizienz des Ressourceneinsatzes und bei der Kreislaufwirtschaft zu verzeichnen. Vielversprechende technologische Innovationen setzen sich durch, und es werden gemeinschaftliche Initiativen lanciert. Die EU handelt entschlossener, namentlich dank dem Ende 2019 präsentierten «European Green Deal». Auf politischer Ebene ist ein Elan zu verspüren. Dies zeigt sich an den Wahlerfolgen der Grünen und an der Klimabewegung. In der Öffentlichkeit wächst das Bewusstsein, dass die Zukunft nachhaltiger werden muss.

Die Klimabewegung hat dafür gesorgt, dass die Bedeutung von Nachhaltigkeitsthemen im öffentlichen Bewusstsein wächst.
© ky

Welches sind die Schwerpunkte der EUA-Strategie 2021–2030?
Wir haben fünf Schwerpunkte definiert: 1. Biodiversität und Ökosysteme, 2. Gesundheit und Umwelt, 3. Klimawandel, und zwar sowohl in Bezug auf Anpassung als auch hinsichtlich Vermeidungsstrategien, 4. Ressourcennutzung und Kreislaufwirtschaft sowie 5. Trends, Perspektiven und Antworten in Sachen nachhaltige Entwicklung. Nun müssen wir entscheiden, an welchen Hebeln oder in welchen Schlüsselbereichen wir ansetzen. Es sind Fragen, die unseren Alltag unmittelbar betreffen: Wie gestalten wir unsere Mobilität, wie ernähren wir uns, wie wohnen wir, wie viel Energie verbrauchen wir? Ein weiterer entscheidender Punkt ist die nachhaltige Finanzwirtschaft. Wir dürfen keine umweltschädigenden Vorhaben mehr subventionieren. Investitionen und Vermögensanlagen müssen so kanalisiert werden, dass die globale Erwärmung 1,5 Grad Celsius nicht übersteigt, Ressourcen nicht übernutzt werden und der Verlust an biologischer Vielfalt gestoppt wird. Nicht zuletzt muss die Strategie den Aufbau einer soliden Wissensgrundlage für die Unterstützung der Politik und für die Information der breiten Bevölkerung gewährleisten, damit sich die Herausforderungen des kommenden Jahrzehnts meistern lassen.

Wie genau soll das gehen?
Auf zahlreichen Gebieten braucht es neue, ehrgeizigere Regeln. In den Bereichen Klimaschutz, Biodiversität, Kreislaufwirtschaft und Chemikalien etwa sind die heutigen Vorgaben ungenügend. Aber es geht auch um einen wirksamen und effizienten Vollzug der bestehenden Umweltvorschriften. Die Gesetze sind gut, aber aus verschiedensten Gründen werden sie zuweilen mangelhaft umgesetzt. Zudem muss jedes politische Handeln nachhaltig sein, sei es auf kommunaler, regionaler, nationaler oder europäischer Ebene. Das heisst, dass es für jeden Politikbereich zwingend Nachhaltigkeitsziele braucht – angefangen bei der Finanzplanung über die Bildung bis hin zum Verkehr. Sehr wichtig ist auch, dass Umweltschutzvorschriften weltweit garantiert und durchgesetzt werden. Hier ist die multilaterale Zusammenarbeit matchentscheidend. Und schliesslich muss diese Transformation sozial ausgewogen erfolgen. Niemand darf aussen vor gelassen werden. Die Corona-Krise hat deutlich gezeigt, wie gross die bestehenden Ungleichheiten sind.

Wo steht die Schweiz im Vergleich mit den übrigen europäischen Ländern?
In den 1980er-Jahren war die Schweiz in Sachen Umweltgesetzgebung führend. Inzwischen aber hinkt sie Europa in gewissen Bereichen hinterher. Wir stehen alle vor den gleichen Problemen. Die Mitgliedschaft in der EUA schafft einen gewissen Ansporn für die Suche nach gemeinsamen Lösungen. Die Schweiz darf sich nicht auf ihren Lorbeeren ausruhen. In gewissen Themenbereichen wie Wasser, Klima oder Lärm können wir aber profundes Fachwissen einbringen. Das ist unsere Stärke.

EUA-Mitarbeitende am Sitz in Kopenhagen.
© EUA

Welche Rolle hat das BAFU bei der Zusammenarbeit mit der EUA?
Eine Umweltbehörde muss laufend gezielte, zweckmässige und verlässliche Informationen bereitstellen und online verfügbar machen. Konkret muss das BAFU Fakten und Trends für die Schweiz erheben, Umweltbeobachtungsnetze betreiben und harmonisierte Daten an Europa und die EUA liefern, aber auch an weitere internationale Organisationen wie die Wirtschaftskommission für Europa der Vereinten Nationen (UNECE), die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP). Derzeit betreuen wir rund 20 prioritäre Datenflüsse – so etwa in den Bereichen Luftqualität, Treibhausgase, Biodiversität, Wasser, Lärm und industrielle Umweltbelastung. Wir ­müssen unser Indikatorensystem aktualisieren, in regelmässigen Abständen thematische Beurteilungen und einen Umweltbericht erstellen, diese Informationen der breiten Öffentlichkeit verfügbar machen und die Politik mit sachdienlichen Angaben versorgen.Als nationaler Verantwortlicher für die Beziehungen zur EUA arbeite ich eng mit 25 Fachleuten im BAFU zusammen.

Dank dem Beitritt zur EUA haben wir heute uneingeschränkt Zugang zu den Daten der EUA und zum europäischen Netzwerk für Umweltinformation und Umweltbeobachtung (Eionet). Ein weiterer Nutzen ist die Einbindung in das informelle europaweite Netz der Leitenden Leiter nationaler Agenturen für Umweltschutz (EPA-Netzwerk). Es bietet Raum für vertiefte Diskussionen über den Vollzug der Umweltschutzgesetzgebung sowie über weitere aktuelle Themen, etwa die planetaren Belastbarkeitsgrenzen oder Plastikmüll in den Ozeanen sowie in unseren Seen und Flüssen. Im Bereich Lärm hat die Schweiz die Themenführerschaft inne. So haben wir eine Methode zur Ermittlung der Lärmbelastung der Bevölkerung entwickelt.

Was macht die EUA?

Die Europäische Umweltagentur (EUA) hat den Auftrag, eine deutliche und messbare Verbesserung der Umwelt in Europa zu unterstützen und damit eine nachhaltige Entwicklung zu fördern. Dazu stellt sie aktuelle, zielgerichtete, relevante und zuverlässige Informationen für politische Akteure und die Öffentlichkeit bereit. Zu den derzeit 32 Mitgliedern der EUA zählen die 27 EU-Mitgliedsstaaten sowie Island, Liechtenstein, Norwegen, die Schweiz und die Türkei. Als Folge des Brexits ist Grossbritannien nicht mehr Mitglied der EUA. Im Rahmen des Eionet-Netzwerks kooperiert die EUA zudem mit den sechs Ländern des Westbalkans.

Die wichtigsten Anspruchsgruppen der EUA sind die Europäische Kommission, das Europäische Parlament, der EU-Rat und die Mitgliedsländer der EUA. Neben dieser Kerngruppe von Akteuren der europäischen und nationalen Politik arbeitet die EUA mit weiteren EU-Institutionen zusammen und unterhält Kontakte zu anderen Interessengruppen im Umweltbereich. Dazu gehören etwa Nichtregierungsorganisationen, Wissenschafts- und Hochschulkreise, Unternehmen und Denkfabriken. Auch die Öffentlichkeit ist eine wichtige Zielgruppe der EUA. Die EUA strebt einen Dialog mit ihren Kunden und Zielgruppen an, um deren Informationsbedarf richtig einschätzen zu können und um sicherzustellen, dass die von ihr bereitgestellten Informationen auch verstanden und genutzt werden. Sie erarbeitet Bewertungen und Informationen in Form von Berichten, Briefings und Artikeln und stellt Pressematerial sowie eine Reihe von Onlineprodukten und -diensten bereit. Das Themenspektrum reicht vom Zustand der Umwelt über aktuelle Entwicklungen und Belastungen, massgebliche wirtschaftliche und soziale Faktoren und die Wirksamkeit politischer Massnahmen bis hin zur Ermittlung künftiger Trends, Perspektiven und Probleme anhand von Szenarien und anderen Methoden.

Seit 1995 gibt die EUA alle fünf Jahre einen Bericht über den Zustand und die Entwicklung der Umwelt in Europa heraus. 2019 ist die sechste Ausgabe erschienen. Die Schweiz ist der EUA und dem Eionet-Netzwerk im Jahr 2006 beigetreten und hat bereits zum dritten Mal am Bericht mitgewirkt.

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Letzte Änderung 24.02.2021

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