Wie schaffen wir die Transformation hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft? Ist das 1,5-Grad-Ziel illusorisch, gelingt es uns als Gesellschaft, unsere Umweltfussabdrücke zu verkleinern? Auf diese grossen Fragen sucht die Transformationsforscherin Ilona Otto von der Universität Graz nach Antworten und Lösungen.
Gesellschaftliche Transformation: «Die stärksten Argumente sind nicht wirtschaftlich, sondern moralisch»
Text: Roland Fischer

© Tzivanopoulos/Uni Graz
Ilona Otto, Transformationsforschung, was ist das überhaupt? Wo ist diese wissenschaftlich verortet?
Ziemlich zwischen den Disziplinen. An manchen Instituten liegt der Schwerpunkt eher auf der technischen Seite, an manchen auf der sozialwissenschaftlichen. Mein Hintergrund ist in Soziologie und Ressourcenökonomie, in meiner Gruppe gibt es aber auch Physikerinnen und Klimatologen.
Ist Transformation eher passiv zu verstehen, als Anpassung an letztlich unvermeidliche Umwälzungen, oder doch aktiv, als selbstgewählter gesellschaftlicher Wandel?
Es geht uns schon um die «Human Agency», also um das menschliche Handeln und die Wirksamkeit als Gesellschaft. In gewissem Sinn führen wir mit dem Klimawandel gerade ein grosses gesellschaftliches Experiment durch, und natürlich geht es da auch um Anpassung. Aber unsere Anpassungsfähigkeit wird eben rasch kleiner, wenn wir nichts tun und einfach weitermachen wie bisher.
Welche Hebel gibt es denn?
Da gibt es keine einfache Antwort. Klar müssen wir möglichst rasch aus den fossilen Brennstoffen aussteigen, aber sie sind überall. Wir sind in gewissem Sinn abhängig von ihnen. Zudem widerspiegelt die Ressourcenfrage gesellschaftliche Ungleichheiten, das ist vielleicht überhaupt das grösste Problem: Es sind die privilegierten Gruppen, die von der günstigen Fossilenergie profitieren, diejenigen, die sehr mobil sind, grosse Häuser haben und viel konsumieren.
Bedeutet eine wirksame Klimapolitik also ein Angriff auf Privilegien?
Auch, aber es ist wiederum komplexer. Beispielsweise gilt als selbstverständlich, dass Kerosin für die Luftfahrtindustrie verbilligt ist, während Landwirtinnen und Landwirte dagegen protestieren, höhere Dieselpreise zu bezahlen. Das ist wie vieles andere sehr widersprüchlich, und das verunsichert. Es sind nicht nur die Entscheidungsträgerinnen und -träger und Businessleader, die ihr gewohntes Leben behalten wollen. Auch die anderen Leute wollen nicht, dass ihr Lebensstandard gefährdet wird. In unsicheren Zeiten sehnt man sich nach Vertrautem, und das bedeutet: weiterkonsumieren wie gehabt. Allerdings wächst gerade bei den Jüngeren die Überzeugung, dass es weniger um Konsum geht, sondern zum Beispiel um Beziehungen.
Weniger Arbeit, mehr Wohlstand
Könnte die Reduktion der Erwerbsarbeitszeit bei der gesellschaftlichen Transformation helfen? Das an der Universität Bern angesiedelte Forschungsprojekt «Zeit als neuer Wohlstand: Reduktion der Erwerbsarbeit zur Förderung suffizienter Lebensstile?» will dazu Antworten finden. Laut dem Co-Projektleiter Christoph Bader zeigen verschiedene Studien, dass eine Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit die Umwelt schont. Ob eine Reduktion der Erwerbszeit gewünscht sei, könne nur über eine gesellschaftliche Debatte geklärt werden: «Das widerspiegelt letztlich, was uns als Gesellschaft wichtig ist», sagt Bader. «Der berühmte britische Ökonom John Maynard Keynes meinte 1930, dass in der heutigen Zeit 15 Stunden Arbeit zur Deckung unserer Bedürfnisse reichen würden.
Ein Forschungsteam der New Economics Foundation schlägt eine 21-Stundenwoche vor, die Sozialdemokratische Partei der Schweiz eine 35-Stundenwoche.» Bader sieht die Transformation hin zu weniger Erwerbsarbeitszeit idealerweise als ein Zusammenspiel aller gesellschaftlichen Akteure. Veränderte Wertorientierungen wie bei der Generation Z sowie die Tatsache, dass arbeitsbezogener Stress in der Schweiz jährlich rund 6,5 Milliarden Franken koste, verlangten ohnehin nach angepassten Arbeitszeitmodellen und Arbeitsbedingungen. «Arbeitgebende sind da ebenso in der Pflicht wie die Politik, um diese Entwicklungen mit geeigneten Rahmenbedingungen zu fördern und zu fordern.»
Sie haben zu sogenannten sozialen Kippmomenten geforscht, also entscheidenden Wenden. Wie sehen diese aus?
Wir haben in verschiedenen Gebieten mögliche Tipping Points identifiziert. Im Finanzsystem kann man dafür sorgen, dass sich Investitionen in Projekte mit fossilen Brennstoffen nicht mehr lohnen. In Städten kann man klimafreundliches Bauen fördern. Aber auch andere Bereiche wie die Werbung hätten das Potenzial, mit wenig Aufwand die Gesellschaft nachhaltig zu verändern.
Mit wenig Aufwand viel verändern – ist das realistisch?
Ja, das besagt das Pareto-Prinzip. Es beschreibt, dass 80 Prozent eines Effekts von nur 20 Prozent Ursache herrühren. Davon liessen wir uns für eine kürzlich publizierte Arbeit inspirieren. Es braucht nicht zwingend Mehrheiten, um etwas zu bewegen. Tatsächlich haben wir deutliche Hinweise dafür gefunden, dass es zuweilen reicht, 25 Prozent der Gesamtbevölkerung im Boot zu haben, um einen sozialen Kipppunkt zu erreichen. Dann kann eine grosse Minderheit schnell in eine Mehrheit «um-kippen». Solche positiven Kippmomente sind bei Transformationsprozessen von grosser Bedeutung. Sie werden auch in den nächsten «Global Tipping Points Report» einfliessen, der im November 2025 an der COP30, der UN-Klimakonferenz in Brasilien vorgestellt wird.Nun gibt es durchaus historische Beispiele erfolgreicher gesellschaftlicher Transformationen.
Können wir aus diesen etwas lernen?
Unbedingt, beispielsweise aus der Abschaffung der Sklaverei. Es ging da weniger um wirtschaftliche, sondern um moralische Fragen. Man kann das nämlich auch so betrachten: Sklaven waren Energiequellen. Hörte die Sklaverei auf, als fossile Energiequellen aufkamen? Nein, man hielt am System fest, unter anderem, weil die Sklaven billiger waren. In der Folge begann sich eine Gegen-bewegung zu formieren. Das Hauptargument: Es sei nicht richtig, seinen Wohlstand auf dem Leiden anderer zu gründen. Als diese moralische Bewegung genug Kraft entwickelt hatte, änderte sich die Situation tatsächlich sehr schnell. Auch der Klimawandel verursacht Leid.

Kopenhagen: Auf klimaneutralem Kurs
Schon weit fortgeschritten im gesellschaftlichen Diskurs ist die Stadt Kopenhagen. Sie hat 2009 als Gastgeberin der 15. UN-Klimakonferenz angekündigt, klimaneutral werden zu wollen. 15 Jahre später lässt sich festhalten: Kopenhagen ist gut auf Kurs, dank einer Vielzahl von Umwelt- und Kompensationsmassnahmen. Als Beispiel: Die Hälfte der Einwohnerinnen und Einwohner nutzt das Velo, es gibt extrabreite Radwege und Expressrouten. Fast 70 Prozent aller Wege in der Stadt werden inzwischen mit dem Velo, ÖV oder auch zu Fuss zurückgelegt. Das beeindruckt auch den Schweizer Botschafter Mauro Reina: «Vielleicht beeinflusst von der Situation in meinem früheren Einsatzland Kuba, war ich seit meinem ersten Tag in Kopenhagen beeindruckt davon, wie weit fortgeschritten die öffentliche Politik und das private Verhalten in der nachhaltigen Entwicklung sind.» Auch andere dänische Städte gehen mit gutem Beispiel voran.
Ein grosses Projekt in Aalborg hat einen Schweizer Bezug: Die dänische Grossstadt will jährlich 160 000 Tonnen CO2-Emissionen reduzieren, indem sie grossindustrielle Wärmepumpen einsetzt, die die Energie des Meerwassers zur Wärmeerzeugung nutzen. Die Kernelemente des Systems, drei ölfreie Motor-Kompressor-Einheiten, liefert MAN Energy Solutions in Zürich. Botschafter Reina: «Im Königreich Dänemark ist sicherlich noch nicht alles perfekt, insbesondere in der Landwirtschaft, die nach wie vor die Umwelt stark belastet. Aber die Richtung stimmt und es herrscht ein breiter Konsens für mehr Nachhaltigkeit in Politik und Bevölkerung.»
Aber ist potenzielles Leiden in der Zukunft nicht weniger greifbar als ein gesellschaftlicher Missstand, der uns konkret vor Augen geführt wird?
Es geht nicht bloss um Zukünftiges. Klimamigration zum Beispiel passiert hier und jetzt. Ich höre häufig von meinen Studierenden, dass sie keine Kinder wollen, weil sie sich des Leids schon so bewusst sind.
Was können wir tun, damit der Pessimismus nicht gewinnt und wir auch beim Klima zu positiven Kipppunkten kommen?Wir brauchen global wirksame, positive Narrative. Wenn wir uns das Leben im Jahr 2050 vorstellen sollen, dann ist da derzeit eine Leerstelle: Es gibt kaum Kinderbücher, kaum Filme darüber. Aber wenn wir uns diese Zukunft nicht vorstellen können, dann können wir sie auch nicht politisch gestalten.
Stattdessen erzählen wir uns immer wieder dystopische Geschichten. Warum?
Dass Krisenerzählungen attraktiver sind, liegt wohl an der Funktionsweise unseres Gehirns, das hat mit Aufmerksamkeit zu tun. Doch wenn die Gefahren und Probleme überwältigend sind, dann warte ich ab und tue nichts. Hilfreicher kann da Wut sein, oder auch Enthusiasmus. Das bringt einen zum Handeln, das treibt neue Bewegungen wie die Klimajugend an.
Wie sehen Sie die Rolle der Technologie?
Ich glaube nicht an technische Wunder, die alle Probleme lösen. Ressourcenabbau im Weltall, nukleare Fusion – das werden nicht die Lösungen sein, wenigstens nicht in den nächsten Jahren. Umgekehrt glaube ich aber auch nicht an ein Zurück-zu-den-Wurzeln. Uns stehen einige sehr nützliche Technologien zur Verfügung, diese sollten wir auch einsetzen. Wie nutzen wir ihr Potenzial am besten – und am gerechtesten? Das müssen wir dringend besser erforschen. Wir brauchen auf jeden Fall Utopien, die auch Technologie beinhalten, zum Beispiel eine konsequente Kreislaufwirtschaft, die schon im Design sämtlicher Produkte angelegt ist.
Zum Schluss noch: Kommt der Schweiz im klimabedingten Transformationsprozess eine besondere Rolle zu? Unser Land ist zwar klein und ein politisches Leichtgewicht, aber eine bedeutende Drehscheibe für Rohstoffe und ein globaler Finanzplatz.
Das bringt uns zurück zur Frage der Moral. Teil des Problems ist ja, dass man mit seinem Geld in einen sicheren Finanzhafen fliehen kann. Das Kapital geht gern dahin, wo es ungestört und unreguliert ist. Es wäre sicher ein guter Schritt, diese Finanzflüsse transparent zu machen. Und darauf hinzuwirken, dass sie dahin fliessen, wo sie weniger klimaschädigende Wirkung haben.
Letzte Änderung 25.09.2024