In jeder Ausgabe von «die umwelt» äussert sich in dieser Kolumne eine Persönlichkeit zum Thema «Meine Natur». Ausgabe 1/2022.
Ich schaue meine Winterwanderfotos durch, Route für Route kommen die Erinnerungen zurück. Als wir von Effretikon nach Wetzikon gingen, glitzerte der Schnee, als seien wir im Engadin; wir waren erfreut, so agglonah die Agglo praktisch vergessen zu dürfen. Gegen Ende tranken wir am Pfäffikersee einen Schnaps, den P. dabei hatte. Als wir in den Freibergen unterwegs waren, wollte uns die starke Bise fast umbringen; im Wald bei Le Noirmont machten wir mit blauen Fingern in einer geschützten Senke ein Feuer und brieten Würste.
Als ich mit den Schneeschuhen einen Emmentaler Graben erkundete, fand ich die Einsamkeit beklemmend; schliesslich kehrte ich um, weil ein sehr steiler Hang nach Schneebrett aussah. Als wir nach Marthalen im Zürcher Weinland wanderten, kamen wir an einem vom Biber geschaffenen Neo-Urwald vorbei mit umgestürzten Bäumen und gefrorenen Wasserlachen; und gleich darauf passierten wir ein paar Männer vor einer Hütte, Jäger wohl, die grad den Frühschoppen nahmen. Als ich oberhalb von Heiden im Appenzellerland im tiefen Schnee beim abgelegenen Chindlistein anlangte, einem geheimnisumwitterten Treffpunkt früherer Menschen, berührte ich den rauen Stein und war irgendwie ergriffen. Als ich in Klosters aus dem Zug stieg, waren mir die vielen Skifahrerinnen und Skifahrer zu viel; Gott sei Dank strebten sie alle der Seilbahn zu, während wir den gespurten Weg hinab nach Serneus, Saas und Küblis unter die Füsse nahmen.
Als wir von Küssnacht nach Luzern hielten, schockierte uns grad zu Beginn die Lieblosigkeit, mit der der Rigihang verbaut ist. Als ich im Goms bei grosser Kälte in ein Wäldchen kam, lag vor mir auf dem Weg ein toter, beinhart gefrorener Schneehase. Und als ich bei Agno im Malcantone am Luganersee flanierte, erblickte ich den Monte Caslano und dachte wieder an das Wunder der Christrosen, die wir dort ein Jahr zuvor im Februar hatten blühen sehen. Seit vielen Jahren wandere ich jede Woche ein oder zwei Mal. Die Natur macht mir fast immer Freude, macht mir auch einmal Angst, die Natur macht mich froh und macht mich dort, wo sie eingeschränkt und beeinträchtigt ist, traurig. Die Natur ist ein Gefühlsreflektor. Die Natur ist Möglichkeit zur Selbsterkenntnis. Die Natur, dieses grosse bedrohte Luxusgut unserer Zeit, ist für uns Menschen ein Spiegel, in dem wir uns erkennen als mal verletzliche, mal souveräne und mal rücksichtslose Geschöpfe.
Letzte Änderung 24.02.2022