Gemeinsam vorbeugen: Die Schweiz wappnet sich gegen Naturgefahren

Die Schweiz hat aus vergangenen Naturkatastrophen gelernt und ihr Risikomanagement auf einen hohen Stand gebracht. Mit dem Klimawandel kommen nun aber neue Herausforderungen auf unser Land zu. Um die Risiken auch in Zukunft in einem akzeptablen Mass halten zu können, setzt der Bund verstärkt auf Partnerschaftsprojekte mit Versicherungen.

Text: Nicolas Gattlen

Das BAFU löst Probleme vorausschauend und in Partnerschaft mit einer Vielzahl von Akteurinnen und Akteuren - zum Beispiel beim Schutz vor Naturgefahren.

«Durch Schaden wird man klug», sagt der Volksmund. Und es scheint, dass wir umso lernwilliger sind, je höher und geballter der Schaden ausfällt. Es waren Katastrophen wie der Brand von Glarus im Jahr 1861, die gravierenden Hochwasser und Erdrutsche von 1910 oder die Hochwasser von 1987 und 2005, welche die Entwicklung des Versicherungsschutzes und der Naturgefahren-Prävention in der Schweiz vorangetrieben haben – bis hin zum heutigen integralen Risikomanagement, das neben Schutzbauten auch planerische und organisatorische Massnahmen umfasst und alle relevanten Stellen einbezieht. «Die Schweiz hat aus den vergangenen Katastrophen Lehren gezogen und ihr Risikomanagement auf ein hohes Niveau gehoben», bilanziert Paul Steffen, Vizedirektor des BAFU und in dieser Funktion auch zuständig für die Abteilung Gefahrenprävention.


Karte Oberflächenabfluss

Hinweis: Die Karte ist sehr detailliert und kann verschoben und in der Grösse angepasst werden.


Die unterschätzten Risiken

Eine grosse Herausforderung bleiben jene Naturgefahren, deren Risiken von der Gesellschaft und Politik – auch mangels Katastrophenerfahrung – oft unterschätzt werden. Dazu zählen Erdbeben (rund 90 Prozent der Gebäude in der Schweiz sind nicht erdbebensicher und nur knapp 10 Prozent gegen Erdbebenschäden versichert), aber auch der sogenannte Oberflächenabfluss. Damit wird Wasser bezeichnet, das bei starken oder langanhaltenden Niederschlägen nicht mehr im Boden versickern kann. Wenn es dann, dem Gefälle folgend, in Gebäude oder Garagen eindringt, richtet es oft beträchtliche Schäden an. Bei Starkniederschlägen ist der Oberflächenabfluss für bis zu 50 Prozent der Hochwasserschäden in der Schweiz verantwortlich; im letzten Jahrzehnt verursachte er Kosten von jährlich 50 bis 70 Millionen Franken. Tendenz: steigend. «Es ist also wichtig, dass wir auch bei dieser Naturgefahr möglichst gut vorbeugen», erklärt Paul Steffen. «Dazu braucht es die Zusammenarbeit zwischen der öffentlichen Hand und den Versicherungen.» 

Gemeinsame Präventionsarbeit 

Aus einer solchen Kooperation ist 2018 die «Gefährdungskarte Oberflächenabfluss Schweiz» hervorgegangen. Die Erarbeitung der Karte erfolgte als Public Private Partnership (PPP-)Vorhaben des BAFU, des Schweizerischen Versicherungsverbandes (SVV) und der Vereinigung der kantonalen Gebäudeversicherungen (VKG) und gilt als Pionierleistung. Aus der Karte geht hervor, auf welchen Wegen das Wasser typischerweise abfliesst und wo es sich aufstauen kann. Damit erhalten Eigentümerinnen, Bauherren, Planungs- und Architekturbüros, Baubehörden und viele weitere Beteiligte eine Grundlage, die ihnen hilft, die Gefahr frühzeitig zu erkennen und Schäden zu verhindern. In Abstimmung mit dem Bund engagieren sich die Versicherungen auch bei der Sensibilisierung der Bevölkerung und der Betroffenen. 2017 lancierten die Verbände SVV und VKG zusammen mit dem Hauseigentümerverband (HEV), dem Ingenieur- und Architektenverein (SIA), den Kantonalbanken und dem Gemeindeverband (SGV) die Präventionsplattform schutz-vor-naturgefahren.ch. Die Plattform bietet für Bauherrschaften und Planende konkrete Tipps, wie sich ein Gebäude mit wenig Aufwand schützen und wie sich «viel Leid vermeiden» lässt. Auch ein regelmässig aktualisierter «Naturgefahren-Check» steht zur Verfügung: Mit wenigen Klicks lässt sich herausfinden, welche Gefahren an einer Adresse drohen – etwa Murgang, Lawine, Sturm oder Oberflächenabfluss (zwei Drittel der Gebäude in der Schweiz können davon betroffen sein!).

Video: Strategien zum Schutz vor Überschwemmungen

Das neue «Anstupsen»

Beim Schutz vor Naturgefahren liegt es an den Bauherren und Eigentümerinnen, Eigenverantwortung zu übernehmen und Vorsorge zu betreiben. Die Versicherer bieten ihnen Beratungen an, manche unterstützen den Objektschutz zudem mit finanziellen Beiträgen. Um die Bereitschaft zur Vorsorge zu erhöhen, werden vermehrt auch neue Kommunikationsinstrumente wie das «nudging» (dt. Anstupsen) eingesetzt. Im Unterschied zu monetären Anreizen oder herkömmlichen Informationskampagnen zielen «nudges» nicht auf das Denken, sondern auf intuitive Prozesse. So werden Hausbesitzerinnen und -besitzer beispielsweise mit einem bildhaften Worst-Case-Szenario konfrontiert, was stärker zu bewegen vermag als die Bekanntgabe der Eintretenswahrscheinlichkeit eines Schadenereignisses. Oder man weist sie auf den Anteil der Bauten in der Nachbarschaft hin, der gegen Oberflächenabfluss gerüstet ist – im Wissen, dass sich der Mensch gerne an der Nachbarschaft orientiert. 

Von Bedeutung im Kampf gegen Naturgefahren sind auch Forschung und Lehre. Swiss Re etwa unterstützt nebst internationalen Forschungszusammenarbeiten auch Lehrgänge an der ETH Zürich, beispielsweise zum Thema «Atmosphäre und Klima». Die Mobiliar finanziert an der Universität Bern eine Professur für Klimafolgenforschung sowie das Mobiliar Lab für Naturrisiken. Mit der «Forschungsinitiative Hochwasserrisiko – vom Verstehen zum Handeln» ergänzt das Lab die traditionelle Hochwasserforschung um die Aspekte Schäden und Schadensprävention. Untersucht wird etwa, welchen Einfluss die Bauweise der Gebäude im Zusammenspiel mit Parametern wie Wassertiefen und -geschwindigkeit auf das Schadenspotenzial hat. 

Vorbeugen ist günstiger 

Warum die Versicherungsindustrie auch in die Prävention investiert, erklärt Tamara Soyka, Leiterin Naturgefahren für Europa, Osten und Afrika (EMEA) bei Swiss Re: «Die Versicherung springt dort ein, wo Schäden für den Einzelnen nicht mehr tragbar sind. Um die Prämien möglichst tief zu halten, sind die Versicherer interessiert daran, Schäden mit präventiven Massnahmen zu verhindern oder zu begrenzen.»  

Insbesondere Erdbeben und Hochwasser haben in der Schweiz ein enormes Schadenspotenzial: «Das Hochwasserereignis von 2005 hat Schäden in der Höhe von rund 3 Milliarden Franken verursacht», sagt Tamara Soyka. «In unseren Modellen ist ein derartiges Ereignis mit einer Wiederkehrperiode von rund 50 Jahren aber noch nicht ein Worst-Case-Szenario für die Schweiz. Bei Hochwasser-Ereignissen mit einer 100-jährigen Wiederkehrperiode rechnen wir mit Schäden von 4,5 Milliarden Franken.» Und selbst das sei noch nicht der schlimmstmögliche Fall. 

Klimawandel erhöht Risiken

Insgesamt zählen aber nicht nur Jahrhundertereignisse, sondern auch die Summe der kleinen und mittelgrossen Ereignisse. Swiss Re rechnet damit, dass mit dem Klimawandel die Hochwasserrisiken insgesamt zunehmen. «Bis dato lässt sich für die Schweiz noch kein kausaler Zusammenhang zwischen dem Klimawandel und dem Schadensverlauf herstellen», sagt Tamara Soyka. Es sei auch äusserst schwierig, aus dem Schadensverlauf einen einzelnen Faktor wie das Klima zu isolieren. «In Anbetracht der fortschreitenden Siedlungsentwicklung, der stetigen Wertezuwächse und der Auswirkungen des Klimawandels, die in den ­Klimaszenarien CH2018 des National Centre for Climate Services (NCCS) beschrieben werden, könnte eine Zunahme der Schadenssummen resultieren.» 

Je nach Szenario wird mit einer Erwärmung in der Schweiz von 0,7 bis 1,9 Grad Celsius (mit effektiven Klimaschutzmassnahmen) oder von 2 bis 3,3 Grad Celsius (ohne diese Massnahmen) bis 2060 gerechnet. In beiden Szenarien sind aufgrund der höheren Temperaturen und des veränderten Niederschlagsregimes häufigere Starkniederschläge zu erwarten. «Die Schweiz sollte sich schon heute darauf vorbereiten», sagt Tamara Soyka. «Wir Rückversicherer und die Versicherungen bieten dazu Hand.»

Resilienz stärken

Auch das NCCS setzt sich dafür ein, dass die Schweiz über eine robuste Resilienz verfügt, dass sie also fähig ist, sich an die Störungen, die der Klimawandel mit sich bringt – ob andauernde Belastungen oder akute Schocks –, erfolgreich anzupassen. Als Netzwerk des Bundes koordiniert das NCCS die Erarbeitung und Verbreitung von Wissensgrundlagen für die Anpassung an den Klimawandel. Daran beteiligt sind acht Einheiten des Bundes (Bundesämter wie das BAFU und Forschungseinrichtungen) sowie acht Partner (darunter der Schweizerische Versicherungsverband).



«Der Klimawandel stellt unsere Gesellschaft vor grosse Herausforderungen», sagt BAFU-Vizedirektor Paul Steffen. «Die Risiken durch Naturgefahren nehmen zu. Um sie auch künftig auf einem akzeptablen Mass halten zu können, braucht es das Zusammenspiel aller Kräfte. Sämtliche Akteure müssen ihre Verantwortung übernehmen, dazu zählen auch die privaten Unternehmen, Hausbesitzerinnen und Mieter.»

Das Vorsorgeprinzip

Der Leitspruch «Vorbeugen ist besser als heilen» ist eine Alltagsweisheit, aber auch der zentrale Leitgedanke des schweizerischen Umweltrechts. Denn vorausschauendes Planen und Handeln ist langfristig kostengünstiger als eine spätere Behebung der Schäden bzw. Reduktion der Belastungen. Gemäss dem Vorsorgeprinzip ist jede potenziell schädliche oder negative Umwelteinwirkung auf ein Minimum zu beschränken oder ganz zu vermeiden – auch wenn kein wissenschaftlicher Nachweis der Schädlichkeit vorliegt. Zum Einsatz kommt das Vorsorgeprinzip etwa in der Umweltverträglichkeitsprüfung, in der Verpflichtung zur vorsorglichen Begrenzung von Emissionen im Immissionsschutz oder in der allgemeinen Sorgfaltspflicht im Gewässerschutz. Der Vorsorgegedanke ist auch im Wasserrecht zentral. Die Kompetenz zum Erlass von Bestimmungen zur «Abwehr schädigender Einwirkungen des Wassers» (Hochwasserschutz) ist die älteste bundesrechtliche Komponente des Wasserrechts.

Weiterführende Informationen

Kontakt
Letzte Änderung 01.09.2021

Zum Seitenanfang

https://www.bafu.admin.ch/content/bafu/de/home/dokumentation/magazin/magazin2021-2/magazin2021-2-dossier/gemeinsam-vorbeugen-die-schweiz-wappnet-sich-gegen-naturgefahren.html