Schutz und Nutzung austarieren: Mit vollem Einsatz für den multifunktionalen Wald

Der Schweizer Wald weckt viele Begehrlichkeiten. Das BAFU sorgt dafür, dass er seine Funktionen auch in Zukunft wahrnehmen kann: Menschen und Sachwerte vor Naturgefahren schützen, das Land mit dem Rohstoff Holz versorgen, Erholungsraum für die Bevölkerung und intaktes Ökosystem sein.

Text: Mike Sommer

Das BAFU setzt sich für ein ausgewogenes Verhältnis von Schutz und Nutzung der natürlichen Ressourcen ein, zum Beispiel beim Ökosystem Wald.

Im Pandemiejahr 2020 haben viele Menschen den Wald als Rückzugsort schätzen gelernt. Distanzregeln lassen sich dort problemlos einhalten. Ob einsamer Spaziergang oder gesellige Grillparty: Im Wald hat es Platz, dort fühlt man sich unbeobachtet oder geniesst die Ruhe und die reine Luft. Jogger und Bikerinnen, Reiterinnen und Hundebesitzer wissen das schon länger. So ist der stille Forst in den letzten Jahren und Jahrzehnten immer mehr zum beliebten und stark frequentierten Naherholungsraum geworden. Oft geht dabei vergessen, dass der Wald mehr ist als Kulisse für Freizeit- und Sportaktivitäten. Vor allem ist er Lebensraum für Pflanzen und Tiere und ein Ökosystem, das auf Störungen empfindlich reagiert. Auch ist der Wald nicht einfach Gemeingut, mit dem man tun und lassen kann, was man will. Grundsätzlich dürfen ihn zwar alle betreten, Beeren, Pilze und sogar Brennholz sammeln. Aber der Wald, der 31 Prozent der Fläche der Schweiz bedeckt, hat immer eine Eigentümerin oder einen Eigentümer. 29 Prozent des Waldes gehören rund 246 000 Privaten, 71 Prozent sind im Besitz von öffentlichen Institutionen wie Bund, Kantonen, politischen Gemeinden, Burger-, Bürger- oder Kirchgemeinden sowie Klöstern. Um ihren Wald zu pflegen und zu unterhalten, sind sie weitgehend auf Einnahmen aus der Holznutzung angewiesen.


Wälder - Einer der vielfältigsten Lebensräumen der Schweiz


Umfassende Betrachtungsweise

Wirtschaftsfläche, Ressourcenlieferant, Erholungsraum, Garant für Biodiversität, Sauerstoffproduzent, Wasserspeicher und -reiniger und vielerorts auch Schutz gegen Naturgefahren wie Lawinen, Steinschlag oder Überschwemmungen: Der Schweizer Wald muss vieles leisten. Die Aufgabe des BAFU ist es, dafür zu sorgen, dass er das auch in Zukunft tun kann. Wo aber positioniert sich die Waldbehörde im Spannungsfeld von Schutz-, Wohl­fahrts- und Nutzfunktion einerseits und den ökologischen Interessen andererseits? Michael Reinhard, Leiter der BAFU-Abteilung Wald, formuliert es so: «Wir sind die Interessensvertreter des multifunktionalen Walds. Eine einseitige Betrachtung wird dem Wald nicht gerecht.» Und auch nicht eine statische. Ändert sich das Klima oder gelangen infolge der Globalisierung fremde Schadorganismen ins Ökosystem, muss die Waldbewirtschaftung angepasst werden. Auch veränderte wirtschaftliche Rahmenbedingungen für die Holzbranche oder zunehmende Freizeitaktivitäten erzeugen Handlungsdruck. Wer sagt, was zu tun ist?

«Das Bundesgesetz über den Wald gibt uns den Weg vor», sagt Michael Reinhard. Darin ist der Grundsatz der nachhaltigen Bewirtschaftung festgeschrieben, und darin werden die Ziele in Bezug auf Schutz-, Wohl­fahrts- und Nutzfunktion definiert. Der Bund sorgt gemeinsam mit den Kantonen und den Waldeigentümerinnen und Waldeigentümern dafür, dass die Ziele erreicht werden. Bisweilen geraten verschiedene Interessen in Konflikt miteinander. Der Holzschlag etwa kann Schäden am Lebensraum Wald verursachen. «Aber im richtigen Mass hilft er dem Ökosystem, denn er fördert die Verjüngung des Waldes und schafft Lebensräume für bestimmte Arten», erklärt Reinhard. Die Bewirtschaftung muss deshalb dem naturnahen Waldbau Rechnung tragen, Kahlschläge sind von Gesetzes wegen verboten. Neben den gesetzlichen Vorgaben stützt sich das BAFU für die Ausrichtung seiner Waldpolitik auf wissenschaftliche Erkenntnisse. Im Rahmen des Landesforstinventars (LFI) erhebt der Bund periodisch den Zustand des Waldökosystems und stellt wichtige Datengrundlagen zur Verfügung. Auf dieser Basis können Entwicklungen beurteilt und Strategien angepasst werden.

Partnerschaftlich planen und finanzieren

Das wichtigste Instrument, mit dem das BAFU die gesetzlichen Vorgaben der Waldplanung und Waldbewirtschaftung durchsetzt, sind Programmvereinbarungen mit den Kantonen (PV Wald) nach dem Prinzip «Geld gegen Leistungen». In der aktuellen PV Wald stehen dafür jährlich 113 Millionen Franken zur Verfügung: 72 Millionen für die Schutzwaldpflege, 21 Millionen für Waldbewirtschaftungsmassnahmen, 20 Millionen für die Förderung der Biodiversität. Marco Vanoni, Bereichsleiter Schutzwald und Waldökologie im Amt für Wald und Naturgefahren des Kantons Graubünden, erklärt das Vorgehen: «Unser zentrales Instrument ist ein kantonaler Richtplan für den Wald, der Waldentwicklungsplan WEP2018+. Mit ihm und den daraus abgeleiteten Strategien definieren wir unsere Ziele, um die Vorgaben des Bundes zu erreichen.» Die konkreten Massnahmen, die der Kanton umsetzen will, meldet er beim BAFU an. In der PV Wald wird dann festgehalten, für welche Massnahmen der Bund Beiträge auszahlt.

Für die Schutzwaldpflege und die Verhütung oder Behebung von Waldschäden im Schutzwald sieht der Kanton Graubünden im Rahmen der aktuellen PV-Periode 24 Millionen Franken pro Jahr vor. 40 Prozent übernimmt der Bund, 40 Prozent der Kanton, und 20 Prozent übernehmen die Waldbesitzerinnen und Waldbesitzer.  Grössere Konflikte darüber, welche Massnahmen umzusetzen sind, gibt es laut Vanoni nicht: «Die Zielkonflikte zwischen Schutz vor Naturgefahren, Holznutzung, Freizeitnutzung und Ökologie wurden bereits im WEP2018+ bereinigt und die Lösungen behördenverbindlich festgelegt.» Zudem schreibe die PV Wald zwar gewisse Massnahmen zwingend vor, dem Kanton verbleibe aber ein Handlungsspielraum: «Wir können auch mal eigene Schwerpunkte setzen, müssen das aber gegenüber dem BAFU begründen.» 

Ob das Geld richtig verwendet wird, das der Bund für den multifunktionalen und nachhaltig bewirtschafteten Wald zur Verfügung stellt, wird kontrolliert. Marco Vanoni muss dafür sorgen, dass die Forstbetriebe im Kanton die vereinbarten Massnahmen korrekt umsetzen und dem BAFU Bericht erstatten. Leistungs- und Qualitätsindikatoren ermöglichen es zu beurteilen, ob die gesteckten Ziele erreicht wurden. So wird etwa die Wirkung von Massnahmen auf den Schutzwald an typischen Standorten im Gelände (Weiserflächen) über Jahrzehnte beobachtet. Das BAFU führt Stichproben vor Ort durch. Die Umsetzung der Waldpolitik nach dem Subsidiaritätsprinzip bewährt sich in der Praxis. «Bund, Kanton und Waldbesitzer haben klar definierte Aufgaben, stehen miteinander im ständigen Austausch und haben Planungssicherheit», sagt Marco Vanoni. «Darum haben die Waldbesitzer Verständnis für unsere Vorgaben, beispielsweise im Bereich der Ökologie.»

Holzbranche unter Druck

Mit Konflikten wird der Wald auch in Zukunft leben müssen. Für einzelne Akteurinnen und Akteure geht es bisweilen um existenzielle Fragen. Insbesondere die Schweizer Holzbranche hat einen schweren Stand. Das Lohnniveau in der Schweiz ist hoch, eine Holzproduktion im industriellen Massstab nicht möglich. Die Folge: Einheimisches Holz ist teuer, der Absatz schwierig. Darunter leidet die ganze Wertschöpfungskette von der Waldbesitzerin über den Forstbetrieb, die Sägerei und die Bauwirtschaft bis hin zum Endkunden. Sandra Burlet, Direktorin von Lignum, der Dachorganisation der Schweizer Wald- und Holzwirtschaft, sieht aber auch positive Tendenzen: «Auf politischer Ebene wächst die Bereitschaft, die Nutzung unserer Wälder zu unterstützen.»

Das Waldgesetz hält den Bund dazu an, die nachhaltige Holzproduktion und -verwertung zu fördern. Im Rahmen der Ressourcenpolitik Holz leistet dieser etwa Beiträge an innovative Projekte zur Entwicklung von neuen Verwertungsmethoden und Einsatzbereichen für einheimisches Holz. «Auch mit der Anpassung der Brandschutznormen und den Bestimmungen für das Beschaffungswesen hat der Bund die Rahmenbedingungen für Schweizer Holz verbessert», sagt Michael Reinhard vom BAFU. Dazu kommen Beiträge an Sensibilisierungsmassnahmen wie die Woodvetia-Kampagne von 2019. Lignum-Direktorin Burlet stellt fest: «Die Wahrnehmung von Schweizer Holz entwickelt sich positiv, und Bauen mit Holz liegt im Trend.» Michael Reinhard würde eine stärkere Holznutzung in den einheimischen Wäldern begrüssen: «Das Potenzial wird bei Weitem nicht ausgeschöpft. Dabei würde die Umwelt von einer besseren Nutzung unseres einheimischen Holzes profitieren.»
    

Der lange Weg zum modernen Waldgesetz

Hans Carl von Carlowitz prägte in seiner «Sylvicultura oeconomica» 1713 einen Begriff, der heute geradezu inflationär verwendet wird. Der sächsische Beamte plädierte für eine Forstwirtschaft, die eine «beständige und nachhaltende Nutzung» ermöglicht. Am Beispiel des Waldes lässt sich noch heute einfach erklären, was Nachhaltigkeit bedeutet: Nachhaltig ist seine Nutzung, wenn dem Wald nur so viel Holz entnommen wird, wie nachwächst.

Die Auswirkungen der Übernutzung wurden in der Schweiz im 19. Jahrhundert offensichtlich. Der seit dem Spätmittelalter stark gestiegene Bedarf an Brenn- und Bauholz hatte dazu geführt, dass viele Gebirgswälder ihre Schutzfunktion gegen Überschwemmungen, Rutschungen und Lawinen nicht mehr wahrnehmen konnten. Angesichts dieser Entwicklung übernahm der Bund die Oberaufsicht über die Wasserbau- und Forstpolizei. Das Bundesgesetz über die Forstpolizei im Hochgebirge (FpolG) von 1876 verpflichtete die Kantone, eigene Forstdienste aufzubauen. Es verankerte das Prinzip, dass jede Generation nur die «Zinsen» des Waldes – das nachwachsende Holz – abschöpfen darf, das «Kapital» – der Holzvorrat – aber unangetastet bleiben soll.

In der direkten Nachfolge des FpolG übernahm das Bundesgesetz über den Wald von 1991 (WaG) den Nachhaltigkeitsgedanken und baute ihn aus. 20 Jahre zuvor hatte die Schweizer Bevölkerung mit 93 Prozent Ja-Stimmen den Verfassungsartikel zum Umweltschutz angenommen. Damit war der Umweltschutz Bundesaufgabe geworden, was sich auch im WaG von 1991 niederschlug. Es hat wie sein Vorgänger im 19. Jahrhundert den Zweck, die Waldflächen zu erhalten und zu gewährleisten, dass der Wald seine «Schutz-, Wohlfahrts- und Nutzungsfunktion erfüllen kann». Darüber hinaus soll es aber auch «den Wald als naturnahe Lebensgemeinschaft schützen».

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Letzte Änderung 01.09.2021

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