«Das Töten von Tieren ist begründungspflichtig»

Die Ethik hat zum Ziel, für alle nachvollziehbar zu begründen, warum bestimmte Handlungen zulässig sind und andere nicht. Bei der Nutzung, Erhaltung und Förderung der Biodiversität werden ständig Entscheidungen für oder gegen bestimmte Arten oder Individuen getroffen. Ethiker Klaus Peter Rippe erklärt, wo man Güterabwägungen vornehmen sollte und wie sie hergeleitet werden können.

Interview: Gregor Klaus

Klaus Peter Rippe ist Professor für Praktische Philosophie an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe und seit mehreren Jahren deren Rektor. Zudem ist er Präsident der Eidgenössischen Ethikkommission für die Biotechnologie im Ausserhumanbereich (EKAH).
© zVg

In der Schweiz wird fast jeder Quadratmeter Land in irgendeiner Form genutzt: als Kuhweide, als Acker, als Strasse, als Wohnraum, als Erholungsgebiet, als Skipiste. Ständig bestimmen wir, welche Tiere und Pflanzen wo überhaupt noch leben dürfen. Ist das ethisch vertretbar?

Klaus Peter Rippe: Wir leben und handeln in der Landschaft und verändern dadurch die Lebensbedingungen anderer Organismen. In der Regel entscheiden wir nicht bewusst darüber, welche Arten und welche Biodiversität verbleiben. Geschieht dies unbewusst, müsste die Frage daher lauten, ob man von einer moralischen Schuld sprechen kann. Wir können ja gar nicht anders, als die Umwelt zu gestalten. Allerdings müssen wir immer die Auswirkungen unseres Handelns im Auge behalten. 

Wenn wir eine Wiese überbauen, ist das aber doch sehr wohl beabsichtigt. 

Die Absicht ist es, ein Haus zu bauen, und nicht, Tiere und Pflanzen zu töten.

Müssten wir nicht vorher schauen, ob da eine sehr seltene Art lebt?

Die Frage ist oft, ob wir so weit gehen sollten oder so weit gehen können. Ist die Anwesenheit seltener Arten bereits erfasst, sieht es anders aus.

Tagtäglich werden Tiere und Pflanzen, die nicht systemrelevant oder sogar lästig sind, beseitigt oder getötet. Unsere Wortwahl spricht da Bände: Im Garten unterscheiden wir Blumen von Unkräutern, Nützlinge von Schädlingen, und im Naturschutzgebiet stehen einheimische Arten den eingeführten Pflanzen und Tieren gegenüber. Haben Arten wie die nervige Distel, die gefrässige Spanische Wegschnecke und der gebietsfremde Waschbär einen moralischen Wert?

Wir müssen grundsätzlich vorsichtig sein mit Bezeichnungen wie Schädling, Nützling oder invasiv. Wir drücken Arten viel zu schnell einen Stempel auf. Es gilt, den Blickwinkel zu vergrössern. Nicht alles, was auf der Welt ist, darf von Menschen einfach benutzt werden. Hier kann die Ethik helfen, indem sie selbstverständliche Dinge hinterfragt und die Chance bietet, unser Handeln zu überdenken.

Im Naturschutz gibt es ständig Güterabwägungen. Bestimmte Arten werden auf Kosten anderer Arten geschützt. So werden Waschbären getötet, um bestimmte Amphibien und bodenbrütende Vögel zu erhalten.

Hierbei wird davon ausgegangen, dass es eine festgelegte einheimische Artenvielfalt gibt. Der Waschbär gilt in dieser Vorstellung als Fremder. Wir müssen zunächst sorgfältig abklären, ob der Waschbär und andere sogenannt gebietsfremde Arten überhaupt zu einer signifikanten Veränderung der Biodiversität führen. Und selbst wenn er ein Problem für andere Arten ist, stellt sich die Frage, ob diese Veränderung negativ zu bewerten ist und verhindert werden muss. Die Welt des Lebendigen verändert sich ständig. Wenn die Veränderung von Ökosystemen als schlecht eingestuft wird, dann wäre die Evolution etwas Schlechtes. 

Sollte man also lieber funktionierende Ökosys­teme schützen als einzelne Arten?

Ich habe das Gefühl, dass dieser Ansatz wichtiger ist, auch wenn man sich zunächst fragen muss, was denn ein funktionierendes System überhaupt ist. Tatsache ist, dass Ökosysteme keine Konstanten sind, sie verändern sich laufend. Man kann nicht sagen: Genau so muss es aussehen, und alle Arten einer bestimmten Artenliste müssen darin vorkommen. 

Aber wenn die Gesellschaft zum Schluss kommt, dass sie lieber eine bestimmte Vogelart fördert als den nordamerikanischen Waschbären, dann ist es doch okay, wenn der Waschbär abgeschossen wird?

Wir müssen zuerst darüber nachdenken, welche Werte uns leiten sollen. Mithilfe der Werturteile kommen wir dann zu Handlungsanleitungen. Wenn wir hypothetisch sagen, wir müssen Waschbären töten, weil sie die Eier einer seltenen Vogelart fressen, stellt sich die Frage, was wir mit einheimischen Arten tun, die dasselbe machen. Sie sehen: Oft ist es wichtig, die Sache langsamer anzugehen, einen Schritt zurückzutreten, um einen grösseren Blickwinkel zu gewinnen und erst dann Massnahmen zu ergreifen. Wenn wir Arten einen Stempel aufdrücken, ist das meist ein «Diskussionsabbrecher». Dann hat man die Guten und die Bösen identifiziert und kann sich zurücklehnen. Das ist wie in einem schlechten Western. 

Kann man überhaupt eine moralische Pflicht gegenüber einer Art haben?

Ich gehöre zu den Ethikern, die das Individuum in den Vordergrund stellen. Wenn wir eine moralische Pflicht haben, dann gegenüber einzelnen Tieren, nicht aber gegenüber Arten. Denn:  Eine Art ist etwas Abstraktes. Wenn ein Waschbär einen Vogel frisst, habe ich eine Wahl zwischen zwei Individuen. Dann kommen Werte ins Spiel. In jedem Fall muss der Abschuss eines Waschbären gut begründet werden. Meist heisst es: Er kommt von einem anderen Kontinent. Ob das eine ausreichende Begründung ist, muss genau angeschaut werden. Dass er seit 80 Jahren in Europa lebt, reicht erstaunlicherweise nicht aus, dass wir ihn als einheimisch erklären. In Hessen lebte der Waschbär bereits, bevor ich geboren wurde.

Die Jagd steht immer wieder im Zentrum von ethischen Diskussionen. Wann ist sie moralisch in Ordnung und wann nicht? 

Dazu gibt es verschiedene Stimmen aus der Ethik. Manche lehnen jede Form der Tötung ab. Ich gehöre zu denen, die der Meinung sind, dass das Töten von Tieren begründungspflichtig ist. Selbst bei meinen Katzen kann ich mir eine Situation vorstellen, bei der ich zum Tierarzt gehe, um sie einzuschläfern – dann nämlich, wenn sie ohne Aussicht auf Besserung leiden. Aber ich brauche eine ausreichende Begründung! Es nur zu machen, weil ich zwei neue Katzen will, reicht nicht. Gegenüber wilden Tieren habe ich meiner Ansicht nach keine so hohe Verpflichtung wie gegenüber meinen Katzen. Was also ist die Begründung, etwa einen Hirsch zu schiessen? Wenn es für eine Trophäe ist, ist das keine Begründung, sondern ein subjektiver Wunsch. Das ist aus ethischer Sicht kein Grund, ein anderes Wesen zu töten. 

Aber wäre es in Ordnung, wenn wir die Population ausdünnen, um die Waldverjüngung und damit die Leistungen des Waldes zu erhalten? 

Auch da müssen wir mit den Argumenten vorsichtig sein. Reicht es wirklich aus, zu sagen, dass wir ausdünnen, damit jemand einen wirtschaftlichen Nutzen aus dem Wald holen kann? Aber wenn die Wildpopulation Ökosystemfunktionen verunmöglicht, könnte das ein Grund sein, einzelne Individuen zu schiessen. Wir Menschen müssen aber immer gut überlegen, ob das Ökosystem tatsächlich gefährdet ist. Das ist eine schwierige Diskussion. Der interdisziplinäre Austausch zwischen Naturwissenschaft und Ethik ist hierbei sehr wichtig. Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftler liefern die Daten darüber, ob ein Ökosystem in Zukunft kollabiert oder nicht, Ethikerinnen und Ethiker bringen die besten verfügbaren Wertaussagen ein. So können gute Diskurse entstehen. 

Zoos greifen per se in das Leben von Tieren ein. Es wird oft argumentiert, dass es den Tieren in Zoos besser geht als in der Wildnis, wo es keine medizinische Versorgung gibt und oft nicht genügend zu fressen. 

Die Frage, wann es einem Tier gut geht, ist eine komplizierte. Zu einem guten Tierleben gehören meiner Ansicht nach Freude und Zufriedenheit, zu einem schlechten Tierleben Leid, Frustration und Langeweile. Die Tiere in Zoos leben im Durchschnitt länger, aber das heisst nicht, dass es ein gutes Leben ist. Die Frage lautet hier: Wie schaffen wir es, dass Wildtiere in Gefangenschaft keine Langeweile und keinen Stress empfinden, sondern Freude? Es hängt auch davon ab, von welchem Zoo wir reden und wie die Qualität der Tierhaltung ist. Natürlich kann auch ein Leben in der Wildnis ein schlechtes Leben sein. Deshalb müssen wir hier vorsichtig sein und von Fall zu Fall entscheiden. 

Wird die Ethik gehört? 

Es kommt immer dann sehr gut, wenn sich die Leute auf die Diskussionen einlassen und mitdenken. Es gibt aber auch solche, die von uns einfach ihre Überzeugungen bestärkt haben wollen. Und es gibt diejenigen, die definitive und nicht mehr bezweifelbare Antworten von uns erwarten. Die muss man, wie in jeder anderen Wissenschaft auch, enttäuschen.

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Letzte Änderung 01.12.2021

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