Wie die Ethik Zielkonflikte entwirrt

Bei Umweltfragen treffen unterschiedliche Interessen und Grundsätze aufeinander, die sich manchmal gegenseitig auszuschliessen scheinen. Um diese Zielkonflikte anzugehen, bietet die Ethik eine nützliche, ergänzende Sichtweise, indem sie die zugrundeliegenden moralischen Prinzipien und die Interessenabwägungen verdeutlicht. Der Umgang mit dem Boden ist ein treffendes Beispiel dafür.

Text: Daniel  Saraga

Dürfen wir weiterhin Böden überbauen, oder müssen wir die vielfältigen Funktionen der Böden für unsere Nachkommen sichern?

Was soll man mit einem Kartoffelfeld anfangen? Es für die Nahrungsherstellung nutzen oder eine Bahnlinie hindurch führen? Soll es der Kiesgewinnung dienen oder der Natur überlassen werden? Entscheidungen über die Art der Nutzung (oder Nicht-Nutzung) eines Bodens sollten mit grosser Sorgfalt getroffen werden, handelt es sich doch um eine nicht erneuerbare Ressource. Ein Stück Land zuzubetonieren, ist auf der Zeitskala der Gesellschaft eine unumkehrbare Handlung: Bis sich eine Erdschicht von einem Meter Dicke gebildet hat, dauert es 10 000 Jahre. «Mit Boden können wir nicht verschwenderisch sein», sagt Ruedi Stähli von der Sektion Boden des BAFU. «Trotzdem wurde dieser Fakt bis vor Kurzem oft ignoriert. Der Boden mag ständig da sein, aber wir würdigen ihn kaum eines Blickes.»

Vielfältige Funktionen 

«Mit Boden umzugehen, bedeutet, sich zwischen dessen vielen Funktionen entscheiden zu müssen», erklärt Andreas Bachmann, Ethikspezialist beim BAFU. So kann der Boden der Biodiversität ein natürliches Umfeld wie eine Wiese oder ein Moor bieten, als Wasserfilter eine regulierende Funktion übernehmen oder auch Biomasse, etwa Holz, Nutzpflanzen oder Futter, produzieren. Zu diesen umweltbezogenen Funktionen kommen jene im sozioökonomischen Bereich hinzu: als Träger von Infrastrukturen (Gebäude oder Verkehrswege), als Rohstoffspeicher (Wasser, Kies, Gas, geothermische Energie) oder als Archiv (Natur- und Kulturgeschichte). 

Diese verschiedenen Funktionen stehen im Spannungsfeld unterschiedlicher gesellschaftlicher und politischer Ziele. Die wirtschaftliche Entwicklung etwa beruht auf dem Bevölkerungs-, Produktions- und Verkehrswachstum. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit für den Bau von Gebäuden und Verkehrswegen. Seit 2017 ist die Ernährungssicherheit in der Verfassung verankert und fördert so die landwirtschaftliche Nutzung von Böden. Für die Biodiversität, deren Schutz ebenfalls in der Verfassung festgeschrieben ist, müssen natürliche Lebensräume erhalten werden. Damit lassen sich auch die ökologischen Leistungen des Bodens gewährleisten, etwa das Filtern von Wasser oder die Bindung von CO2, welche für die Verlangsamung der Klimaerwärmung unabdingbar ist.

«Solche Spannungen zwischen dem Schutz und der Nutzung einer Ressource sind typisch für viele Umweltthemen», sagt Felix Walter, Co-Autor des Syntheseberichts zum Nationalen Forschungsprogramm «Nachhaltige Nutzung der Ressource Boden» (NFP 68). «Beim Boden schliessen sich diese Verwendungszwecke oft gegenseitig aus, denn Veränderungen am Boden lassen sich nicht rückgängig machen. Über die Vorrangstellung eines Ziels zu entscheiden, ist Sache der Gesellschaft und vor allem der Politik.»

Die ethische Herangehensweise kann helfen, die Sachlage klarer zu sehen. Gemäss einer Analyse zu den Bodenfunktionen des Comité d’Ethique des BAFU müssen prioritär die ökologischen Funktionen des Bodens bewahrt werden. Diese Schlussfolgerung ist kein Resultat einer ökozentrischen Sichtweise, die der Biodiversität einen inhärenten Wert zuschreibt (siehe auch Interview ab S. 8–11). «Auch das ist ein möglicher Ansatz, wäre aber für unsere Analyse nicht sachdienlich», erklärt Andreas Bachmann, einer der Autoren. «Unsere Analyse steht in einem bestimmten Kontext, und wir müssen politisch und gesellschaftlich akzeptable Argumente anführen. Aus diesem Grund haben wir eine anthropozentrische Herangehensweise gewählt – die menschliche Gesellschaft und ihre Bedürfnisse stehen im Mittelpunkt. Diese Positionierung ist aus Sicht der Ethik genauso plausibel und zulässig wie ein ökozentrischer Ansatz, der auf dem inhärenten Wert der Ökosystem-Vielfalt beruht.»

An morgen denken

Es ist vor allem der Gedanke an die nachfolgenden Generationen, aus dem sich die ethische Notwendigkeit zur Erhaltung von Naturboden ableitet: «Es liegt in unserer Verantwortung, eine Umwelt zu hinterlassen, mit der künftige Generationen ihre Grundbedürfnisse und ihre Ansprüche erfüllen können», führt Andreas Bachmann aus. «Da der Verlust ökologischer Bodenfunktionen in der Regel endgültig ist, verlangt die Ethik, sie zu erhalten.»

Die Analyse des Comité d’Ethique berücksichtigt die beiden Hauptströmungen der Ethik: den sogenannten utilitaristischen Ansatz, bei dem sich unsere Entscheidungen an den Folgen orientieren sollen, und den deontologischen Ansatz, bei dem Entscheidungen hinsichtlich grundlegender moralischer Prinzipien bewertet werden.

Laut der utilitaristischen Analyse sind alle Bodenfunktionen – bis vielleicht auf die Archivfunktion – für die Bedürfnisse der Gesellschaft gleich wichtig. Manche Arten der Bodennutzung, insbesondere die Überbauung des Bodens, bedeuten für den Boden jedoch unumkehrbare Veränderungen: Ein zubetonierter Boden kann später nicht mehr in Ackerland oder in eine Fläche umgewandelt werden, die Wasser filtert oder Raum für Biodiversität bietet. Andererseits verhindert der Erhalt der ökologischen Bodenfunktionen nicht, dass der Boden später zubetoniert oder zur Kiesgewinnung verwendet werden kann. Auf dieser Asymmetrie basiert die Schlussfolgerung, dass Naturboden geschützt und die heutige Geschwindigkeit der Zubetonierung reduziert werden muss.

Ein weiteres zentrales Argument ist, dass die Bedürfnisse der nachfolgenden Generationen unmöglich präzise vorherzusagen sind und darum auch nicht in die utilitaristische Bilanz einfliessen können. «Es ist also unsere Verantwortung gegenüber künftigen Generationen, ihnen die grösstmögliche Auswahl verschiedener möglicher Bodennutzungen zu bieten», erläutert Andreas Bachmann. «Das heisst, wir müssen den Boden mit den meisten Funktionen, vor allem umweltbezogenen Funktionen, schützen.»

Anderer Ansatz, gleiches Fazit

Der deontologische Ansatz gelangt zu einem ähnlichen Schluss – aber mit anderen Überlegungen. Gemäss diesem sind die fünf Bodenfunktionen (Archivierung ausgenommen) notwendig für die Erfüllung der Grundbedürfnisse der Bevölkerung wie etwa des Zugangs zu Trinkwasser, Nahrung und Unterkunft. Detailliertere Fragen wie das wünschenswerte Mass an Ernährungssouveränität, das als politische Angelegenheit betrachtet wird, werden ausgeklammert.

Allerdings schliesst dieser Ansatz ebenfalls die Verantwortung zwischen den Generationen als Grundsatz mit ein. Das Fazit: Multifunktionaler Boden soll geschützt werden, vor allem aufgrund seiner natürlichen Funktionen und teilweise auch im Hinblick auf die Rohstoffgewinnung.

Ein anderer heikler Punkt ist, dass Boden – im Gegensatz zu zwei anderen wesentlichen Gemeingütern, nämlich Luft und Wasser – unbeweglich ist und ge- und verkauft werden kann. Im Prinzip hat die Eigentümerin oder der Eigentümer das Recht, nach eigenem Gutdünken über die Nutzung zu entscheiden. Aus ethischer Sicht ist jedoch klar, dass dieses Recht im Interesse des Gemeinwohls eingeschränkt werden kann.

Netto-null-Verbrauch bis 2050

Die Ethikanalyse floss auch in die Ausarbeitung der Bodenstrategie der Bundesämter für Umwelt, für Landwirtschaft und für Raumentwicklung ein. Im Mittelpunkt dieser 2020 vom Bundesrat verabschiedeten Strategie stehen die Reduktion des Bodenverbrauchs und der Schutz des Bodens, die Berücksichtigung der Bodenfunktionen in der Nutzungsplanung und die Wiederherstellung degradierter Böden. Sie gibt als ambitioniertes Ziel vor, den Bodenverbrauch bis 2050 auf netto null zu reduzieren. Der Bodenverbrauch, etwa für Bauvorhaben, ist weiterhin möglich. Gehen dabei aber Bodenfunktionen verloren, müssen diese an einem anderen Ort durch Bodenaufwertung kompensiert werden.

«Es wird schwierig sein, die Funktion degradierter Böden bei der derzeitigen Geschwindigkeit des Bodenverbrauchs wiederherzustellen», glaubt Felix Walter, Co-Autor des Syntheseberichts NFP 68. «Die Kompensation kann nur funktionieren, wenn der Verbrauch stark eingeschränkt wird.» Steht die Bodenstrategie im Widerspruch zum Wirtschaftswachstum? «Ich denke nicht», sagt der BAFU-Ethikspezialist Andreas Bachmann. «Die Bodenstrategie ist mit einer liberalen Politik vereinbar. Je früher wir den Bodenverbrauch drosseln, desto mehr wirtschaftlichen Spielraum werden wir haben. Aus ethischer Sicht geht es hier aber nicht um die Verteidigung einer politischen Position, sondern vielmehr um die klare und verständliche Darlegung ethischer Argumente.»

Weiterführende Informationen


Bodenstrategie Schweiz

Bodenstrategie_Cover_fuerWeb

Für einen nachhaltigen Umgang mit dem Boden. 2020


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Letzte Änderung 01.12.2021

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