Migration von Insekten: Schmetterlinge mit Fernweh

Weltweit begeben sich jedes Jahr Billionen von Insekten auf Wanderschaft. Erst langsam beginnt die Wissenschaft die ökologischen Zusammenhänge dieses Phänomens zu verstehen. Ein wichtiger Forschungsstandort befindet sich auf dem Col de Bretolet, wo die Schweizerische Vogelwarte seit gut 50 Jahren eine Station betreibt.

Text: Mirella Wepf

Marco Thoma fängt Schmetterlinge
Wer trägt die Verantwortung für Umweltbelastungen im Ausland?
© sda-ky

Ende Februar und Anfang März kehren die ersten Zugvögel aus ihren Winterquartieren im Süden zurück. Der breiten Öffentlichkeit ist jedoch kaum bekannt, dass im März auch Schmetterlinge wie der Admiral (Vanessa atalanta) die Alpen überqueren. Dieser zarte «Sommervogel» ist relativ häufig und dank seiner schwarzen Flügel mit orangen Streifen und weissen Flecken leicht erkennbar. Im Spätsommer kann man ihn oft unter Obstbäumen entdecken, denn Fallobst gehört dann zu seinen wichtigsten Nahrungsquellen. Pflaumen und Zwetschgen mag er besonders gern.

Reise in Etappen

Marco Thoma vom Institut für Ökologie und Evolution der Universität Bern hat das Wanderverhalten des Admirals in den letzten Jahren untersucht. Im Herbst fliegen Millionen dieser Wanderfalter in Richtung Südeuropa. Die Migrationsbewegung beginnt Ende August – mit einem Höhepunkt gegen Ende September und Anfang Oktober. Laut Marco Thoma handelt es sich dabei um die Nachkommen derjenigen Falter, die im Frühling vom Süden her kamen. Dort können die Tiere der Kälte im Norden ausweichen und sich im Winterquartier fortpflanzen. Im darauffolgenden Frühling sind es dann wiederum die Nachkommen der Herbstzieher, welche nach Norden aufbrechen. «Man nennt dies Generationenwanderung, weil jede Generation nur einen Teil der Reise unternimmt», erklärt der Insektenforscher.

Wie beim Vogelzug lagen die genauen Reiserouten der Insekten für die Wissenschaft lange im Dunkeln. Doch schon seit den 1960er-Jahren ist bekannt, dass der Col de Bretolet im Unterwallis auch für Insekten einen wichtigen Korridor bildet. Der Gebirgspass an der Grenze zwischen der Schweiz und dem französischen Département Haute-Savoie liegt auf 1923 Metern über Meer. Hier werden seit 1953 zwischen Juli und Oktober bis zu 20 000 Vögel gefangen, um sie zu beringen und ihr Zugverhalten zu erforschen. Lanciert hat diese Forschungs­arbeiten die Organisation Nos Oiseaux. Seit 1958 leitet nun die Schweizerische Vogelwarte die Beringungsstation. Vögel und Insekten nutzen auch andere Pässe, aber auf dem Col de Bretolet steht den Forschenden dank der Netze und Unterkünfte die nötige Infrastruktur für ihre Untersuchungen zur Verfügung.

Der 1995 verstorbene Insektenforscher Jacques Aubert, der in Lausanne früher das kantonale Zoologie-Museum leitete, erfuhr von Ornithologen, dass sie auf dem Bretolet-Pass auch deutlich sichtbare Insektenwanderungen beobachten konnten. Nach ersten Vorstudien liess er dort eine Beobachtungshütte bauen und führte während fast 16 Jahren Forschungsprojekte durch. Er konzen­trierte sich dabei vor allem auf das Migrationsverhalten von Schwebfliegen (Syrphidae) und Nachtfaltern, wie zum Beispiel der Gammaeule (Autographa gamma) oder des Windenschwärmers (Agrius convolvuli).

Gaukler in grosser Höhe

Eine damals noch an der Universität Bern angesiedelte Forschungsgruppe griff die Arbeit von Jacques Aubert im Jahr 2015 wieder auf. Die «Insect Migration & Ecology Research Group» wurde vom australischen Insektenwissenschaftler Myles Menz sowie von Marco Thoma gegründet. 2016 konnten die beiden Biologen nachweisen, dass auch Admirale den Col de Bretolet als Reiseroute nutzen und dabei mit einer Geschwindigkeit von bis zu 20 Kilometern pro Stunde fliegen. Um dies herauszufinden, fingen sie mit einem Team von rund 30 Personen auf dem benachbarten Pass Col de la Croix rund 5000 Admirale ein und markierten sie. Auf dem Col de Bretolet versuchten sie die ausgesetzten Schmetterlinge dann mit Erfolg wieder einzufangen. Doch einfach war diese Aufgabe nicht: «Den Fang eines markierten Insekts feierten wir jeweils wie einen Lottogewinn!», erinnert sich Myles Menz.

Radar und Internetportale

Anders als Jacques Aubert, der seinerzeit Schwebfliegen markierte, um mehr über ihr Zugverhalten zu erfahren, arbeiten Forscherinnen und Forscher heute manchmal auch mit speziell entwickelten Radargeräten. Marco Thoma wählte für seine Arbeit noch eine weitere Forschungsmethode: Citizen Science. Er rief Interessierte dazu auf, ihm über geeignete Online-Portale sämtliche Beobachtungen von Admiralen – sei es als Falter, Raupen oder Eier – zu melden. Dafür arbeitete er mit mehr als 40 Meldestellen in 21 Ländern zusammen. Für Beobachtungen aus der Schweiz waren dies das Portal von info fauna, ornitho.ch der Schweizerischen Vogelwarte und die App NaturaList von Biolovision.

Diese Datensammlung ermöglicht es, die Wanderbewegungen des Admirals in bislang nicht gekannter Auflösung über weite Teile Europas zu verfolgen. Zudem lässt sich das Vorkommen dieser Schmetterlingsart in Abhängigkeit der Umweltbedingungen untersuchen. Insgesamt sind Marco Thoma mehr als eine halbe Million Meldungen übermittelt worden – zusammengetragen von Tausenden Beobachterinnen und Beobachtern. «Die gesammelten Daten zeigen eine klare Nord-Süd-Bewegung der Admirale innerhalb Europas mit Anzeichen, dass Skandinavien im Frühling sprunghaft besiedelt wird», zieht Marco Thoma eine erste Zwischenbilanz. Ausserdem zeichne sich im Vergleich zu Daten aus den 1990er-Jahren eine Verschiebung der Überwinterungsgrenze nach Norden ab. «Es ist naheliegend, dass dies mit höheren Wintertemperaturen in Verbindung steht» erklärt der Insektenforscher. Eine umfassende Analyse dazu ist allerdings bislang noch nicht erfolgt. Einen speziellen Rekord verzeichnete gemäss Marco Thoma übrigens ein Admiral, der auf seiner Reise den Gipfel der Jungfrau in einer Höhe von 4000 Metern überflog.

Distelfalter schlägt Monarch

Ebenfalls als rekordverdächtiger Langstreckenzieher gilt der Distelfalter (Vanessa cardui). Anders als der Admiral – sein naher Verwandter – ist er auf dem Col de Bretolet jedoch selten zu beobachten: Der Distelfalter zieht von Skandinavien bis in die Winterquartiere südlich der Sahara. Dabei legt die Schmetterlingsart mehr Kilometer zurück als der weltbekannte Amerikanische Monarch (Danaus plexippus). Auch Distelfalter reisen in mehreren Generationen. Auf ihrer Route scheinen sie die Alpen mehrheitlich eher links und rechts zu umfliegen – eine Strategie, die auch bei manchen Vogelarten zu beobachten ist. Um die Routen der Distelfalter zu ergründen, haben internationale Forschungsteams die Flügel und Gewebe der Schmetterlinge auf Wasserstoff-Isotope untersucht. Deren Zusammensetzung zeigt an, in welchem Gebiet ein Insekt aufgewachsen ist.

Vom Distelfalter weiss man mittlerweile, dass er über einen inneren Sonnenkompass verfügt. Dies gilt vermutlich auch für andere tagaktive Arten. «Nachtfalter orientieren sich vermutlich eher am Magnetfeld der Erde und an visuellen Reizen – wie etwa der Horizontlinie», erklärt Myles Menz. Die Erforschung des Orientierungssinns von Insekten stehe allerdings noch ganz am Anfang.

Deutlicher Rückgang von Schwebfliegen

Der Biologe hat sich in seinen Forschungsarbeiten vor allem auf Schwebfliegen konzentriert. Diese Zweiflügler sind nebst den Bienen die zweitwichtigsten Bestäuber von Pflanzen. Eine im Frühling 2020 publizierte Untersuchung über die Befruchtung von 105 weltweit relevanten Nahrungspflanzen zeigt, dass Schwebfliegen mehr als die Hälfte davon besuchen und damit als Befruchter einen Wert von über 300 Milliarden Dollar pro Jahr generieren.

Insgesamt gibt es rund 6000 bekannte Schwebfliegenarten. In der Schweiz kommen etwa 450 vor; ein Dutzend davon zählt zu den migrierenden Arten – so etwa die Mistbiene (Eristalis tenax) oder die Hainschwebfliege (Episyrphus balteatus). Auf dem Col de Bretolet fängt Myles Menz die Schwebfliegen unter anderem mit einem selbst gebauten Fangzelt von rund zwei Metern Höhe und vier Metern Breite. Es handelt sich dabei um eine Rekonstruktion der Falle von Jacques Aubert. Vergleicht man die Anzahl der gefangenen Insekten von damals mit den aktuellen Zählungen, so zeigt sich, dass heutzutage deutlich weniger Schwebfliegen in die Falle gehen. «Dies ist vermutlich auf die Intensivierung der Landwirtschaft in den 1970er- und 1980er-Jahren zurückzuführen», mutmasst Myles Menz. Aktuellere Datenreihen, die er selbst und andere Schweb­fliegenforschende in den letzten Jahren erhoben haben, deuteten aber glücklicherweise darauf hin, dass die Population derzeit nicht weiter zurückgehe.

Nährstoff- und Pollentransport

Gemeinsam mit einem internationalen Forschungsteam hat Myles Menz 2019 mithilfe von Radarmonitorings aufgezeigt, dass jedes Jahr bis zu vier Milliarden Schwebfliegen zwischen Grossbritannien und dem europäischen Kontinent hin- und herpendeln. Die Wissenschaftler haben ausgerechnet, dass sich mit jeder dieser Reisen auch tonnenweise Nährstoffe hin- und herbewegen, und dass die Tiere dabei Milliarden von Pollenkörnern transportieren. Die ökologischen Zusammenhänge dieser beeindruckenden Leistung sind noch nicht abschliessend geklärt. «Wir arbeiten im Moment daran, entsprechende Zahlen für die Schweiz zu ermitteln», erklärt Myles Menz.

Im Winter 2021 kehrte der Wissenschaftler wegen eines Jobangebots an der James-Cook-Universität in Queensland nach Australien zurück. Er will die Forschungsarbeiten auf dem Bretolet-Pass jedoch fortführen. «Grundsätzlich ist es sinnvoll, die Insektenbeobachtung auf dem Col de Bretolet als Ergänzung zum allgemeinen Biodiversitätsmonitoring in der Schweiz weiterzuführen», meint Jan von Rönn, der die Beringungszentrale der Schweizerischen Vogelwarte leitet. «Die Vogelwarte würde ein solches Vorhaben im Rahmen ihrer Möglichkeiten gerne unterstützen.»

Zu entdecken gäbe es auf dem Col de Bretolet mit Bestimmtheit noch einiges. «Wir wissen, dass hier unter anderem jedes Jahr Tausende von Windenschwärmern vorbeiziehen, ebenso einige Libellenarten und der Totenkopfschwärmer (Acherontia atropos)», sagt Myles Menz. Letzterer ist ein seltener Nachtfalter, der sich mit Vorliebe von Honig ernährt und bei Bedrohung laute quietschende Töne von sich gibt. Bekannt geworden ist das fast handtellergrosse Tier durch den Oscar-gekrönten Hollywood-Thriller «Das Schweigen der Lämmer». Über seine Lebensweise im wahren Leben weiss man indes noch längst nicht alles.

Langfristige Trends der Biodiversität aufzeigen

Das BAFU ist gesetzlich verpflichtet, die landesweite Entwicklung der Biodiversität zu beobachten. Zu diesem Zweck lancierte das Amt 2001 das Programm Biodiversitätsmonitoring Schweiz (BDM). Das BDM ist ein langfristiges Umweltbeobachtungsprojekt, vergleichbar mit dem Landesforstinventar (LFI), der Nationalen Daueruntersuchung der Fliessgewässer (NADUF) oder der Nationalen Bodenbeobachtung (NABO).

Auf einem dichten Netz an vordefinierten Stichprobenflächen wird im Rahmen des BDM schweizweit die langfristige Entwicklung der Artenvielfalt ausgewählter Pflanzen- und Tierarten erhoben. Der Fokus liegt dabei nicht in erster Linie auf Naturschutzgebieten, sondern auf der Entwicklung von häufigen und verbreiteten Landschaften, in denen ein Grossteil unserer Bevölkerung lebt.

Im Bereich Insekten werden Tagfalter und Gewässerinsekten wie Steinfliegen, Köcherfliegen und Eintagsfliegen genauer beobachtet. Die regelmässigen Erhebungen zeigen insbesondere im Mittelland grosse Defizite. Zudem besteht eine Tendenz zur Vereinheitlichung der natürlichen Lebensräume, was einem Verlust an biologischer Vielfalt gleichkommt.

Webdossier_insekten DE_grafik01

Wie geht es unseren Schmetterlingen?

17.09.2019 – Sie kündigen den Sommer an und sorgen für Farbtupfer in unserem Leben. Doch der Artenreichtum dieser Tagfalter ist auch in der Schweiz bedroht. Insbesondere die seltenen, spezialisierten Arten leiden unter dem anhaltenden Verlust an Magerwiesen und Feuchtgebieten. Auf dem Vormarsch hingegen sind die Generalisten und die «Klima-Profiteure».

Weiterführende Informationen

Kontakt
Letzte Änderung 24.02.2022

Zum Seitenanfang

https://www.bafu.admin.ch/content/bafu/de/home/dokumentation/magazin/magazin2022-1/migration-von-insekten-schmetterlinge-mit-fernweh.html