In jeder Ausgabe von «die umwelt» äussert sich in dieser Kolumne eine Persönlichkeit zum Thema «Meine Natur». Ausgabe 2/2022.

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Haben Sie schon mal einen Drachen gesehen? Ich meine einen richtigen, sich bewegenden, grollenden Drachen? Nun, ich sehe sie fast jeden Tag bei der Arbeit. Sogar von zu Hause aus kann ich sie sehen, sofern sie einen guten Tag haben und sich nicht hinter Wolkenbänken verstecken. Es sind nämlich wunderschöne, scheue Wesen, die sich nicht in den Vordergrund drängen.
Ich arbeite seit fast sechs Jahren vollberuflich als Bergführerin. Meine Wurzeln liegen im Saanenland, auf knapp 1000 Metern über Meer. Mein Vater hat mich bereits im Alter von vier Jahren mit einem Seil um den Bauch mit in die Berge genommen. Von da an gab es kein Halten mehr: Ich verbrachte jede freie Minute in den Bergen, bis ich 2015 die Ausbildung zur Bergführerin begann. Seitdem begleite ich Menschen in die Berge. Diese zu den Menschen zu bringen, wäre schwierig. Wichtig ist einfach, dass Menschen und Berge zueinander finden. Denn es sind nicht nur wir, die die Berge verändern, sondern sie verändern auch uns. Der schönste Teil meiner Arbeit besteht darin zu sehen, wie Menschen dankbarer werden, ein bisschen Demut lernen, eigene Grenzen überschreiten – und vor allem wieder neugierig werden und sich umschauen.
Und wer sich gut umschaut und einen offenen Geist hat, der wird sie auch sehen: die Gletscherdrachen. Bevor man sie zu Gesicht bekommt, spürt man ihren Atem: Der kalte Gletscherwind, der nahe am Boden, wie ein unsichtbarer Fluss, das Tal hinunterfliesst. Je näher man ihnen kommt, desto spärlicher wird die Vegetation. Die Landschaft ist öde, sie wirkt lebensfeindlich. Und doch sieht man Moospolster mit winzigen, leuchtend rosafarbenen Blumen, kleine Spinnen und manchmal sogar einen verirrten Schmetterling. Und dann, nach der letzten Geröllmoräne, sieht man ihn: Träge liegt der enorme Körper des Gletscherdrachens im Tal, eingebettet zwischen steilen Felswänden und umgeben von vereisten Berggipfeln.
Er scheint zu schlafen. Doch wenn man mit den Steigeisen auf der Oberfläche seiner zerschundenen Haut kratzt, hört man es tief drinnen im Eis knacken und knurren. Wie ein Mensch, der einen schlechten Traum hat, bewegt sich der Drache manchmal ruckartig. Dann brechen häusergrosse Eisstücke ab und fallen mit ohrenbetäubendem Lärm eine Felswand hinunter. Wer nicht aufpasst, fällt in einen seiner dunklen, tiefen Schlünde. Er wirkt furchteinflössend und gefährlich, dieser Gletscherdrache. Und doch sind es die Menschen, die eine grössere Gefahr für diese gewaltigen Wesen darstellen. Denn die Gletscherdrachen sind vom Aussterben bedroht. Und für mich fühlt es sich an, als wenn ich einem Freund beim Sterben zusehen muss.
Letzte Änderung 01.06.2022