Im Dialog: «Die grösste Herausforderung ist nicht die Abfalltrennung, sondern die Vermeidung von Abfällen»

Für die 18-jährige ehemalige Klimaaktivistin Lila Gonzenbach ist Abfalltrennung eine Selbstverständlichkeit. Jean-Paul Schindelholz, 58, ist seit Jahren in der Entsorgungsbranche tätig und teilt viele ihrer Ansichten. Ein Austausch.

Interview: Stéphanie De Rouguin

Lila Gonzenbach und Jean-Paul Schindelholz sitzen auf einer Steinmauer
© Marco Zanoni/Lunax/BAFU
Lila Gonzenbach
© Marco Zanoni/Lunax/BAFU

Lila Gonzenbach

ist 18 Jahre alt, lebt in Genf und bereitet sich zurzeit auf die Matura vor. Während des Klimastreiks vor drei Jahren engagierte sie sich sehr aktiv und verbrachte danach ein Jahr in Deutschland und zwei Monate in Spanien. Sie macht sich nach wie vor viele Gedanken zum Klimaengagement.

Jean-Paul Schindelholz
© Marco Zanoni/Lunax/BAFU

Jean-Paul Schindelholz

ist 58-jährig, gelernter Gartenbauingenieur und arbeitet seit über 18 Jahren in der Abfallbranche. Er leitet das Entsorgungsunternehmen STRID, das für 62 Gemeinden im nördlichen Waadtland (80 000 Einwohnerinnen und Einwohner) zuständig ist. Ausserdem ist er Präsident von COSEDEC (Coopérative romande de sensibilisation à la gestion des déchets), einer Genossenschaft, die Aufklärungsarbeit rund um das Thema Abfallwirtschaft betreibt, sowie der Écomanif AG, die Lösungen anbietet, um Einweggeschirr mit wiederverwendbarem Geschirr zu ersetzen.

In welchem Alter haben Sie angefangen, Abfall zu trennen und wer hat Sie dazu gebracht?

Jean-Paul Schindelholz: Das habe ich bereits als kleines Kind gemacht. Ich bin auf dem Land aufgewachsen, dort war das Recyceln von Papier und Glas schon vor 50 Jahren üblich. Ein Lastwagen fuhr durch das Dorf und sammelte das Altpapier ein. Dann wurde das Papier von Mitarbeitenden gewogen und wir bekamen dafür Geld. So verdienten wir Kinder unser Taschengeld.

Lila Gonzenbach: Ich kann nicht genau sagen, wann ich angefangen habe, mich dafür zu interessieren. Das war einfach Teil meiner Erziehung. Ich bin auch immer wieder erstaunt darüber, dass es nicht überall selbstverständlich ist. In der Schule landen sehr viele PET-Flaschen in den Abfalleimern. Abfalltrennung ist nicht für alle Menschen ein Reflex.

Welche Abfallarten sind Ihrer Meinung nach am schwierigsten zu entsorgen und warum?

LG: Aus meiner Sicht sind das die Verbundverpackungen, deren Bestandteile getrennt behandelt werden müssen. Und im weiteren Sinne auch ganze Geräte, die man Stück für Stück zerlegen müsste, um die Einzelteile dann wiederverwenden zu können.

JPS: Als Fachmann stelle ich immer wieder fest, dass organische Abfälle am wenigsten getrennt werden. Man könnte meinen, dass die Verwertung dieser Abfälle relativ simpel und das Prinzip dahinter bekannt ist. Aber offenbar ist das Sammeln von Biomüll für viele Menschen immer noch umständlich. Trotz aller Aufklärungsbemühungen bleibt die Sammelquote unverändert. Ansonsten stimme ich Lila in Bezug auf die Verbundmaterialien zu. Es liegt jedoch nicht an Einzelpersonen, hier Lösungen zu finden, sondern am Design von Produkten. Die Wiederverwertbarkeit sollte schon im Design berücksichtigt werden.

In der Schweiz werden heute 52 Prozent der Haushaltsabfälle wiederverwertet. Ist das in Ihren Augen viel? Warum ist die Recy­clingquote nicht höher?

JPS: Das Interpretieren der Statistiken ist schwierig. In den nordischen Ländern werden vorgeblich 95 Prozent der Abfälle recycelt, und die Stadt San Francisco behauptet von sich, Weltmeisterin in der Abfallverwertung zu sein, wobei sie aber die energetische Verwertung miteinbezieht, also wenn Abfall verbrannt und die Wärmeenergie genutzt wird. In der Schweiz erreichen wir die gleichen Zahlen. So gesehen können wir mit dem bestehenden System zufrieden sein.

LG: Diese Zahlen sagen mir nicht viel. Ich würde mir eher Gedanken darüber machen, wie viel Abfall wir produzieren. Ist das verhältnismässig?

JPS: Das ist tatsächlich die einzige Frage, die wir uns stellen müssen. Die gesamte Abfallpolitik der Schweiz basiert leider auf der Abfalltrennung und -verwertung. Dabei besteht derzeit die grösste Herausforderung darin, überhaupt weniger Abfall zu produzieren. Unsere Politik sollte vielmehr bei den Kaufentscheidungen ansetzen, was einen kompletten Paradigmenwechsel bedeuten würde. Mit der Abfalltrennung machen wir uns selbst etwas vor: Wir denken, dass wir problemlos konsumieren können, da wir den Abfall später ja trennen und recyceln. Doch dies ist nicht länger der relevante Punkt – es gilt, die Abfallmenge zu reduzieren.

Mit 700 Kilogramm Abfall pro Person und Jahr gehört die Schweiz tatsächlich zu den grössten Verursachern von Abfall weltweit. Dennoch: Könnten wir mehr recyceln oder wiederverwerten?

JPS: Wie Lila bereits sagte, gibt es tatsächlich Materialien, wie Verbundverpackungen, die nicht recycelt werden können, weil sie nicht dafür konzipiert wurden. Heute ist ein Ökodesign notwendig, um vermehrt wiederverwerten zu können. Aber dafür braucht es natürlich geeignete Anlagen. Ausserdem dürfen die Umweltkosten des Recyclings nicht höher sein als jene für die Herstellung der Materialien.

In erster Linie geht es also darum, weniger Abfall zu produzieren. Aber wie lässt sich eine Person oder ein Unternehmen davon überzeugen, sich entsprechend zu verhalten?

LG: Häufig ist ein abgepacktes, fertig zubereitetes Gericht praktischer als Lebensmittel, die sie zu Hause selbst kochen müssen. Das liegt an unserem heutigen Lebensrhythmus: Die Zeit fürs Essen wird leicht geopfert. Vielleicht sollte man die derzeitigen Prioritäten hinterfragen und zusätzlich Hersteller davon überzeugen, ihre Lebensmittel anders zu verpacken. Könnte dies durch Vorschriften oder Steuern geschehen?

JPS: Alle grossen multinationalen Unternehmen behaupten heutzutage, dass sie Massnahmen zur Reduktion von Verpackungsmaterialien ergreifen. Diese Sichtweise ist neu, und das ist durchaus ermutigend. Aber vergessen wir nicht, dass es noch andere schädliche Abfälle gibt. Elektronische Geräte benötigen Bodenschätze, deren Vorkommen begrenzt sind, und deren Entsorgung ist ebenso problematisch wie die von Verpackungen. Und der Kleiderkonsum in der Schweiz beläuft sich auf ganze 14 Kilogramm pro Kopf und Jahr. Die Secondhand-Kultur ist in unserem Land noch wenig verbreitet.

Was sind Ihre Tipps und Tricks als Privatpersonen, um weniger Abfall zu produzieren?

JPS: Bevor ich etwas kaufe, frage ich mich, ob ich es wirklich brauche. Und ich versuche, möglichst viel aus zweiter Hand zu kaufen. Kann man heute ohne Smartphone leben? Vermutlich nicht. Aber man muss sicherlich nicht immer das neuste Modell haben.

LG: Das sehe ich auch so. Vor jedem Kauf sollte man sich fragen, ob es sich dabei um einen Luxus, eine Bequemlichkeit oder eine Notwendigkeit handelt. Wir alle haben eine Art moralischen Kompass oder einen inneren Richtungsweiser, der uns bei solchen Entscheidungen leiten kann. Ich habe mir zum Beispiel angewöhnt, Lebensmittel unverpackt zu kaufen. Karotten müssen nicht alle dieselbe Grösse haben und perfekt in eine Schale passen.

JPS: Was mich heutzutage am meisten schockiert, ist die Lebensmittelverschwendung. Für viele Menschen in meinem Alter ist es unvorstellbar, Lebensmittel wegzuwerfen. Das war damals einfach Teil unserer Erziehung.

Abfall in der Schweiz: Daten und Zahlen

Die Schweizer Abfallberge steigen: Zwischen 1970 und 2013 hat sich die Abfallproduktion hierzulande mehr als verdoppelt, von 309 auf 707 Kilogramm Hausmüll pro Person und Jahr.

Die Idee, Abfall zu trennen und wiederzuverwerten wurde in der Schweiz im Jahr 1983 mit dem Umweltschutzgesetz eingeführt. Darin waren die Grundprinzipien festgelegt: Abfälle sollen möglichst umweltverträglich sein und wiederverwertet werden, heisst es darin, aber auch in der Schweiz entsorgt werden, wenn dies sinnvoll ist und die Bedingungen es erlauben.

Über zwanzig Jahre lang regelte die Technische Verordnung über Abfälle (TVA) die Bewirtschaftung der verschiedenen Müllsorten in der Schweiz. Am 1. Januar 2016 wurde die TVA vollständig überarbeitet und heisst seitdem «Verordnung über die Vermeidung und die Entsorgung von Abfällen» (VVEA). Sie legt den Schwerpunkt auf die Begrenzung, die Reduktion und das gezielte Recycling von Abfällen. Die Kantone haben die Aufgabe, Siedlungsabfälle wie Glas, Karton, Metalle, Grünabfälle und Textilien getrennt zu sammeln und bestmöglich zu recyceln.

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Letzte Änderung 15.03.2023

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