Im grünen Klassenzimmer: Zum Apéro gibt es Lindenblätterpesto

Sie erfahren, weshalb Bäume zur Schule gehen, erschaffen aus Ästen, Blüten und Zapfen ein Kunstwerk, werden selbst zum Baum und lernen, was Hunde-Urin mit der Baumrinde macht: Im Grünen Klassenzimmer erleben Primarschülerinnen und -schüler aus der Region Bern die Natur mit allen Sinnen.

Text: Lisa Stalder

Eine Grundschulklasse geniesst den Unterricht im Freien. Das Angebot von Stadtgrün Bern ermöglicht es den Kindern, sich der Natur zu nähern, indem sie etwa mit Ästen und Blättern basteln oder sich spielerisch Wissen über Bäume aneignen.
© Caroline Krajcir/Lunax

In der Krone der Platane sind zwei Krähen aneinandergeraten. Sie flattern energisch mit den Flügeln, hüpfen von Ast zu Ast und krächzen ohne Unterlass. Unter der stattlichen Platane, die auf dem Tellplatz im Berner Breitfeldquartier steht, ist es hingegen noch ruhig. Judith Büsser ist gerade dabei, vor einem bunten Bauwagen 24 Sitzmatten in einem Kreis auszulegen. In Kürze wird es hier beim «Wildwechsel», einem mobilen Naturerlebnis-Zentrum, wuseln, wenn sich die Schülerinnen und Schüler der 3./4. Klasse aus dem nahen Schulhaus Breitfeld zur Naturpädagogin gesellen.

Ihr Unterricht findet an diesem Vormittag nicht wie gewohnt im Schulhaus, sondern im Grünen Klassenzimmer statt. So heisst das Angebot von Stadtgrün Bern, bei dem Primarschulklassen aus der Region zwei bis vier Mal über das Jahr verteilt die Natur erleben können. Dabei suchen die Kinder im stadt­nahen Wald nach Spuren von Fuchs, Reh und Ringelnatter, sie testen die heilende Wirkung des Spitzwegerichs nach einem Mückenstich oder untersuchen mit Kescher und Lupe Kleinstlebewesen in naturnahen Gewässern. Oft packen die Schul­kinder im Erlebnisgarten in der Berner Elfenau mit an und helfen – je nach Jahreszeit – beim Jäten, Mulchen, Kompostieren, Giessen und Ernten.

Auch Bäume gehen zur Schule
Für die 3./4. Klasse von Lehrerin Caroline Gilgen dreht sich an diesem kühlen Morgen im Mai alles um die Natur im eigenen Wohnquartier. Oder genauer: um die Stadtbäume, die wichtig für das Stadtklima und das Wohlbefinden der Menschen und zudem wichtige Lebensräume für kleine Säugetiere, Vögel und Insekten sind. Doch das alles wissen die Schülerinnen und Schüler noch nicht, als sie sich zu Judith Büsser in den Kreis setzen. Die Naturpädagogin gibt den Kindern verschiedene Hinweise zum gesuchten Lebewesen: An heissen Tagen spendet es Schatten, es putzt die Luft oder es gibt Nahrung für Mensch und Tier. Alle Kinder strecken die Hände in die Luft. Doch Judith Büsser hat noch einen weiteren Hinweis bereit: «Manche gehen zur Schule.» Einige Kinder runzeln die Stirn. «Hä, was? Mega komisch», flüstert jemand. Auch wenn die Vorstellung seltsam erscheinen möge: «Die meisten Bäume, die in der Stadt wachsen, stammen aus einer Baumschule», sagt Naturpädagogin Büsser. Dort würden sie auf ihr Leben als Stadtbaum vorbereitet, damit sie später auf der Münsterplattform, vor dem Bundeshaus oder im Rosengarten prächtig gedeihen könnten. «Wahrscheinlich waren die Bäume auf eurem Pausenplatz auch mal in der Schule.»

Beobachten, Entdecken, Erkunden

Nun geht es für die Klasse vom Tellplatz zur Markuskirche. Auf dem kurzen Spaziergang sind die Kinder aufgefordert, Sachen zu sammeln, die von Bäumen auf den Boden gefallen sind. Es kommen Äste, Samen, Blüten, Zapfen, Rindenstücke und jede Menge Blätter zusammen, mit welchen die Schülerinnen und Schüler auf einem Tuch einen Baum nachbilden. Der dickste Ast wird zum Baumstamm, Ästchen werden zu grossen Ästen, die Kinder verteilen die Blätter, Samen und Blüten. Während sie ihr Kunstwerk betrachten, legt Luzia einen stark verzweigten Ast an das untere Ende des Baumstamms. «Er hat ja noch keine Wurzel», sagt die 9-Jährige.

Es wird deutlich: Die Kinder befassen sich nicht zum ersten Mal mit dem Thema. Ein Eindruck, den die Klassenlehrerin bestätigt: «Wir haben im letzten Jahr das Thema Pflanzen erarbeitet, dieses Wissen können die Kinder nun abrufen.» Das sei eine ideale Ausgangslage, sagt Judith Büsser. Denn die verschiedenen Werkstätten des Grünen Klassen­zimmers sind so aufgebaut, dass sie die Themen des Schulfachs Natur, Mensch, Gesellschaft ergänzen – indem die Kinder direkt in der Natur beobachten, entdecken und erkunden. «Die Idee ist, dass die Kinder die Erlebnisse aus der Natur aufgreifen und ihre eigenen Nachforschungen dazu anstellen.»

Ein Ersatz für die Schulgärten

Doch warum gibt es das Grüne Klassenzimmer überhaupt? Nachgefragt bei Nik Indermühle, Projektleiter Natur und Ökologie bei Stadtgrün Bern: Entstanden ist das Grüne Klassenzimmer vor gut 20 Jahren. Damals wurden zahlreiche Schulgärten aufgehoben oder umgenutzt. Also suchte die damalige Stadtgärtnerei nach einer Möglichkeit, den Kindern die Natur weiterhin zugänglich zu machen. Und ging dabei ziemlich unkompliziert vor. So erhielt die Naturpädagogin Ursula Miranda, die noch heute im Grünen Klassenzimmer arbeitet, den Auftrag, «mal etwas auszuprobieren», wie Indermühle erzählt. Unter ihrer Federführung wurde auf einem Areal in der Elfenau der Erlebnisgarten aufgebaut.

Es war der Beginn eines Erfolgs­projekts. Seither sei das Angebot stetig ausgebaut worden. Mit dem Wunsch, der Bevölkerung auch die Stadtnatur näher zu bringen, entstand 2015 das Wildwechsel­projekt. Das mobile Naturerlebnis-Zentrum steht zwischen Mai und September immer in einem anderen Berner Quartier, um Naturwissen direkt vor der Haustür zu vermitteln. Der Wildwechsel richtet sich nicht nur an Schulklassen, sondern auch an Quartier­bewohnerinnen und -bewohner. Auf Rundgängen durch das Quartier erfahren Interessierte beispielsweise, dass es allein in der Stadt Bern über 600 Pilzarten gibt, wo es Eidechsen, Bergmolchen und Blindschleichen am wohlsten ist oder wie Krähen miteinander kommunizieren.

Der zehnjährige Emad konnte sich sogar an einen Ast hängen, ausgerüstet mit einem Klettergurt und einem Helm.
© Caroline Krajcir/Lunax

Die Rundgänge sind beliebt. Das erstaunt nicht, hat doch die Bedeutung der Stadtnatur in den letzten Jahren stark zugenommen. Zunehmend werden Massnahmen umgesetzt, um mehr Grünraum zu schaffen: Flächen werden entsiegelt, Dächer begrünt und urbane Gärten angelegt. Dass die Sensibilisierung zunehme, spüre auch das Grüne Klassenzimmer, sagt Indermühle. «Inzwischen ist es schwierig geworden, die grosse Nachfrage zu bewältigen.» Es können nicht mehr alle Klassen berücksichtigt werden, die sich anmelden.

Das muss die Schülerinnen und Schüler von Caroline Gilgen aber nicht kümmern. Sie sind gerade dabei, selbst zum Baum zu werden. In der Mitte mimen zwei Kinder den Baumstamm, während sich andere als Äste, Blätter und Früchte drumherum drapieren. Als Letztes folgt die Rinde, ein regelrechter Schutzschild für den Baum. Doch ihm droht Ungemach, denn: «Frau Büsser ist sehr verliebt», sagt die Naturpädagogin mit einem schelmischen Lachen. Sie zückt ein Sackmesser und tut so, als würde sie ein Herz in die aus Kindern bestehende Rinde ritzen – die ideale Eintrittspforte für Pilze, Bakterien und Krankheitserreger. Das bringt Schüler Emad auf eine Idee: «Ist es für den Baum eigentlich gut, wenn man ihn anpinkelt?» Das sei eine tolle Frage, sagt Büsser. Das sollte er lieber vermeiden, denn Urin enthalte Säure, die dem Baum schade. An manchen Bäumen seien unten am Stamm Verfärbungen zu erkennen. «Dann wissen wir, dass diese Bäume als Hunde-WC benutzt werden.» «Wäääähhh», tönt es von allen Seiten.

Natur lenken, um Gefahren zu vermeiden

Auf dem Weg zum Sempachspielplatz in der Nähe des Stadions Wankdorf bleibt Emilie unter einem Ahorn stehen. «Der hat überall so komische Knubbel», sagt sie und fährt mit ihrer Hand über den Stamm. Wie diese «Knubbel» entstehen, werden gleich Balz Obrecht und Reto Wirz erklären, die auf dem Spielplatz bereits auf die Klasse warten. Die beiden Männer sind Mitarbeiter des Baumkompetenz­zentrums von Stadtgrün Bern, das für die Pflege und den Schutz der rund 21 000 Bäume auf öffentlichem Grund verantwortlich ist. Nach Möglichkeit stellen sie ihre Arbeit im Grünen Klassenzimmer vor. Die «Knubbel» deuteten darauf hin, dass an dieser Stelle ein Ast abgesägt wurde, sagt Balz Obrecht. «Es ist eine Wunde, die wieder verheilt ist.»

Doch warum müssen die beiden denn überhaupt Äste absägen und manchmal Bäume fällen? «Eigentlich brauchen Bäume keine Pflege, die kommen gut ohne uns Menschen zurecht», sagt Obrecht. Aber im städtischen Gebiet, zwischen Häuserfassaden und Fahrleitungen, müsse der Mensch in die Natur eingreifen, damit sie nach seinen Vorstellungen wächst. Dies auch, um Gefahren zu verhindern. So werden abgestorbene Äste rausgeschnitten, damit sie bei einem Sturm nicht auf ein belebtes Trottoir runterfallen. «Auf einem Spielplatz müssen wir besonders gut zu den Bäumen schauen», sagt Wirz. Zum Schluss geben die Männer noch eine Kost­probe ihres Könnens: In Vollmontur klettert Obrecht behände entlang eines Seils auf die über 100-jährige Linde. Als er kopfüber in einem Ast hängt, steigt unten am Boden der 10-jährige Emad in einen Klettergurt, setzt sich einen Helm auf und reisst die Arme in die Luft: «Das mache ich später auch mal!»

Lindenblätterpesto ist fein

Während die beiden Baumpfleger ihr Material zusammenpacken, ist die Arbeit der Kinder noch nicht getan: Zum Abschluss stellen sie Linden­blätterpesto her. Dafür braucht es junge, frische Lindenblätter. Judith Büsser rät den Kindern, die Blätter gut anzuschauen. An manchen kleben Raupeneier, «die wollen wir lieber nicht in unserem Pesto haben». Während Hawar und Sophie die Blätter ganz klein schneiden, raffelt Aisha Käse. Giuseppe mörsert derweil Sonnenblumenkerne. Er wisse genau, wie das geht: «Ich habe das in einem Youtube-Video gesehen.» Am Schluss mischt Silas alle Zutaten mit etwas Salz, Pfeffer und Olivenöl und bestreicht mit der Paste kleine Brotscheiben. Es steht der finale Test an. Die Kinder greifen zu, manche nur zögerlich. «Das kann man wirklich essen?», will Max wissen. Ohne eine Antwort abzuwarten, schiebt er die Brotscheibe in den Mund. «Mega fein! Viel besser als das Pesto vom Coop.»

Mit dem Apéro im Bauch geht es zurück ins Schulhaus. Klassenlehrerin Caroline Gilgen schaut zufrieden auf den Morgen zurück: Sie schätze es jeweils sehr, die Schullektionen draussen zu verbringen. Die Kinder seien zufrieden, lachten viel. «Gemein­same Naturerlebnisse schaffen einen wunderbaren Kontrast zum Klassenzimmer und stärken den Zusammenhalt der Klasse.» Sie freut sich schon auf den nächsten Einsatz im Grünen Klassenzimmer. Dann heisst es für die Kinder: jäten, mulchen und ernten.

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Letzte Änderung 25.09.2024

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