Das Grundwasser lebt – Entdeckt: die ungeahnte Artenvielfalt im Grundwasser

Tief im Untergrund bietet das Grundwasser Lebensraum für eine erstaunliche Vielfalt an Organismen – viele davon noch unbekannt. Zu den häufigsten Arten gehören die Flohkrebse, die eine zentrale Rolle für die Reinheit des Wassers spielen. Nun hat ein Forschungsteam die einzigartige Artenvielfalt im Schweizer Grundwasser ans Licht gebracht.

Text: Clément Etter

Hölloch im Muotatal
Das Hölloch im Muotatal im Kanton Schwyz ist das zweitlängste Höhlensystem Europas. Auch hier tummelt sich eine Vielfalt an spannenden Organismen im Wasser.
© Urs Moeckli | Schweiz Tourismus

Was wissen Sie über unser Grundwasser? Wussten Sie etwa, dass sich darin eine Vielfalt verschiedener Tierarten verbirgt? Einige davon, wie die Flohkrebse, sind für Wasserökosysteme unverzichtbar – und dennoch kaum bekannt. Nun hat das Forschungsteam von Florian Altermatt am Wasserforschungsinstitut Eawag diese Tiere genauer untersucht.

Flohkrebse, auch Amphipoden genannt, sind eine Ordnung von garnelenähnlichen Krebstierchen, die nur wenige Millimeter gross sind. Sie leben häufig in Seen und Flüssen, kommen aber auch im Grundwasser vor. Die winzigen Tierchen übernehmen in vielerlei Hinsicht eine wichtige ökologische Rolle, etwa in der Nahrungskette, weil sie organisches Material wie Laub zersetzen, oder indem sie das Wasser reinigen.

Zudem geben die Flohkrebse als Bioindikatoren Aufschluss über die Umweltqualität – dies könnte man sich zunutze machen, um die Qualität des Grundwassers als Lebensraum zu überwachen. Viel weiss man allerdings noch nicht über diese potenziell nützlichen Organismen. «Der Zugang zum Lebensraum Grundwasser ist schwierig, darum gibt es nur wenige Daten darüber», erklärt Florian Altermatt, Professor für Aquatische Ökologie an der Universität Zürich und Forschungsgruppenleiter an der Eawag. «Häufig geht dieser Teil der Biodiversität schlicht vergessen, weil er nicht sichtbar ist.» Dabei sei er einzigartig. Zusammen mit den Fischen sind die Grundwasserflohkrebse in der Schweiz die Gruppe mit dem höchsten Grad an Endemismus. Das bedeutet, dass die Arten nur an einem bestimmten Ort vorkommen. Bei den Amphipoden liegen diese Gebiete in den Voralpen oder im Höhlensystem Hölloch im Kanton Schwyz. Durch die Forschungsarbeiten an der Eawag in den letzten Jahren weiss man nun, welche Flohkrebsarten wo genau in der Schweiz vorkommen. Zuvor gab es diese Daten nicht.

Ebenfalls zum ersten Mal wurden verschiedene Pilotstudien zur Vielfalt der Grundwassertierwelt im Mittelland durchgeführt. Die Forschenden sammelten und untersuchten Wasserproben aus Höhlen, Schächten und anderen unterirdischen Wassersystemen. Auf diese Weise liessen sich über 40 Arten identifizieren, davon fast die Hälfte im Grundwasser. Sie wurden alle in einem Buch mit dem Titel «Amphipoda» festgehalten. Einige Arten, die unter anderem mit der Hilfe von Höhlenforschenden in Höhlen entdeckt worden waren, kannte die Wissenschaft bisher noch nicht. Laut den Forschenden sind mindestens vier der registrierten Arten endemisch, man findet sie also weltweit nur gerade in der Schweiz. Umso wichtiger ist es, diese Tiere zu erhalten.

Die Verantwortung, Flohkrebse zu erhalten

Amphipoden sind schützenswert, da sind sich alle einig. Das Gewässerschutzgesetz bildet die rechtliche Grundlage für den Schutz und den Erhalt der ökologischen Integrität der Grundwassersysteme. «Es ist generell wichtig, die Flohkrebse zu kennen und zu untersuchen, denn sie sind Teil unseres natürlichen Erbes», sagt Stephan Lussi, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim BAFU in der Sektion Ökologische Infrastruktur. «In Zukunft wird es auch wesentlich sein, unsere Forschung auf die unterirdischen Bereiche zu konzentrieren und nicht nur auf die Oberfläche so wie heute noch», ergänzt Florian Altermatt vom Wasserforschungsinstitut Eawag. «Wir haben eine grosse Verantwortung für den Erhalt dieser Arten. Einige davon sind schon sehr alt: Sie haben die letzte Eiszeit in der Schweiz überlebt.»

Das Grundwasser ist erstaunlich dicht bevölkert

Vielfach zirkulieren im Untergrund grosse Wassermengen, etwa in den felsigen Karsthöhlen und in anderen rissigen Strukturen. Dieses Grundwasser ist nicht nur die grösste Trinkwasserquelle der Schweiz, es bietet wie die Seen und die Flüsse auch Lebensraum für zahlreiche Amphipodenarten und andere Wirbellose. Allerdings unterscheiden sich die Arten, die sich dort finden, stark von jenen, die an der Oberfläche leben: Im Grundwasser haben die Flohkrebse weder Augen noch eine Pigmentierung, sondern sind durchsichtig, da es dort kein Licht gibt. Ihr Stoffwechsel und ihre Fortpflanzungsrate sind wegen der Kälte und der begrenzteren Ressourcen reduziert, darum ist ihre Populationsdichte häufig kleiner. Allerdings haben die unterirdischen Arten einen Vorteil: Sie können bis zu zehn Jahre alt werden, dagegen leben ihre oberirdischen Verwandten nur etwa ein Jahr. Das Grundwasser ist quasi ein geschützter Lebensraum, der vor Veränderungen der Aussenwelt abgeschirmt ist. So haben sich die dort heimischen Organismen unter stabilen und gleichbleibenden Bedingungen entwickelt. Dies könnte sie aber wiederum gefährden, sollte sich ihr Lebensraum plötzlich rasch verändern.

In der Pilotstudie machten die Flohkrebse die Mehrheit der im Grundwasser gesammelten Tiere aus. Aber auch viele andere Arten wurden entdeckt, etwa Wasser­asseln, Schnecken, Insekten wie Fliegen und Käfer aber auch Springschwänze und Spinnen.

Anfällig gegenüber Veränderungen

Gerade die Flohkrebse reagieren besonders empfindlich auf ihre Umwelt. Verschmutzungen, das Aufkommen nicht einheimischer Arten oder gar jegliche Veränderung in ihrem Habitat haben Auswirkungen und können ihre Vielfalt beeinträchtigen. Besonders die oberirdischen Wassersysteme haben einen erheblichen Wandel durchlaufen. «In den grossen Flüssen und Seen wie dem Genfersee oder dem Bodensee hat sich die Zusammensetzung der Flohkrebse vollkommen verändert, da über die Verbindung zwischen der Donau und dem Rhein sowie mit dem Schwarzen Meer andere Amphipodenarten eingewandert sind», sagt Florian Altermatt. «Vor vierzig Jahren fand man fast nur einheimische Arten, nun aber sind diese weitgehend durch invasive Arten verdrängt.»

Dagegen sind die Populationen der Wirbellosen in den Gewässern in Waldgebieten relativ intakt. In landwirtschaftlichen und städtischen Regionen jedoch ist die Zusammen­setzung der Wasserfauna oft gestört – und die Vielfalt sowie die Anzahl der Wirbellosen sinken. Laut den Forschenden hängt das häufig mit Düngemitteln und Pestiziden zusammen. «Für das Grundwasser gibt es noch keine Langzeitdaten, die zeigen könnten, ob sich der Lebensraum verschlechtert hat», sagt Altermatt. «Aber eine unserer jüngsten Studien zeigt, dass die Nutzung des Bodens in den Populationen der Flohkrebse und auch in jenen anderer Grundwasser­tiere sichtbar ist – und dass diese Populationen die jeweilige Nutzung quasi widerspiegeln. Wie bei den Oberflächengewässern beobachten wir auch im Grundwasser: Im Vergleich zu Waldgebieten ist in landwirtschaftlichen Regionen die Zusammensetzung der Flohkrebspopulationen verändert und die Artenvielfalt reduziert.»

Ein neuer Ansatz, um Organismen zu identifizieren

Um die Organismen im Grundwasser zu bestimmen, können Forschende deren Morphologie analysieren oder aus einer Probe die DNA extrahieren und identifizieren. Kürzlich ist es dem Forschungsteam der Eawag gelungen, zahlreiche unterschiedliche Organismen zu bestimmen, indem es einzig das Genmaterial analysierte, das sich in den Grundwasserproben fand. Durch diese «Umwelt-DNA» enthüllten sie die grosse Vielfalt der Grundwasserlebewesen. Allerdings liess sich die Mehrheit der Spuren nicht spezifischen Organismen zuordnen, da deren Gensequenzen nicht in Datenbanken vorhanden waren. Dennoch lassen sich durch diese Methode auch schwer zugängliche Tiere bestimmen, ohne dass ein grosses Fachwissen über deren Abstammung und Morphologie vorhanden sein muss. Diese Methode sowie die gesammelten Daten könnten künftig helfen, die Qualität unterirdischer Lebensräume zu kontrollieren – und diese zu schützen.

Die unterirdische Suche geht weiter

Nach der Pilotstudie und den Entdeckungen über die Vielfalt der Flohkrebse im Grundwasser wollte das Team der Eawag diesen Lebensraum weiter erforschen – aber dieses Mal systematisch in der ganzen Schweiz. Eine Doktorandin in der Gruppe, Mara Knüsel, führte diese umfangreiche Untersuchung hauptsächlich durch. Dazu sammelte sie in Zusammenarbeit mit den lokalen Trinkwasserversorgern Proben in 462 Quellfassungsschächten in der ganzen Schweiz.

Die ersten Ergebnisse: 77 Prozent der untersuchten Standorte enthalten Organismen, die häufigsten davon sind Flohkrebse und andere Krebstiere. Auch Insekten – darunter Larven und adulte Exemplare –, die normalerweise an der Oberfläche vorkommen, wurden nachgewiesen. Dies deutet auf eine mögliche Wechselwirkung zwischen dem Grundwasser, den Oberflächengewässern und den Bodenökosystemen hin. Von einigen Arten wissen die Forschenden, dass sie in die Übergangszone zwischen den Oberflächengewässern und dem Grundwasser wandern. Andere wurden vermutlich zufällig mitgeschleppt und dienen als Nahrung für die übrigen unterirdischen Arten. Diese Wechselwirkungen bedeuten laut den Forschenden auch, dass menschliche Aktivitäten, die die Oberflächensysteme beeinflussen, auch Auswirkungen auf die Grundwasserökosysteme haben könnten.

Insgesamt deuten die Ergebnisse der Untersuchung auch darauf hin, dass langfristig ein Monitoring der Bio­diversität des Grundwassers wünschenswert wäre – analog zum bereits existierenden Monitoring der Oberflächengewässer. So liessen sich einerseits allfällige Veränderungen in der Zusammensetzung der dortigen Tierwelt feststellen, andererseits aber auch weiterhin neue Arten finden. Denn noch gibt es im Grundwasser viel zu entdecken.

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Letzte Änderung 12.06.2024

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