Aspisviper: Der rettende Schlangenfund

Bis vor Kurzem unbemerkt, hält sich entlang der Autobahn A9 bei Montreux (VD) eine der letzten vitalen Populationen der Aspisviper im Schweizer Mittelland. Dank ihrer Entdeckung im Sommer 2016 blieben die Schlangen vor negativen Folgen der baulichen Eingriffe verschont und verfügen inzwischen über einen besseren Lebensraum.

Text: Hansjakob Baumgartner

Der Fang der Vipern erfolgt mit einem beherzten Nackengriff. Ein spezieller Handschuh schützt vor dem Giftzahn.
© Clément Grandjean | Terre&Nature

Eigentlich hatte Sylvain Dubey damals ganz anderes im Sinn. Unweit von Montreux (VD) suchte er entlang der Nationalstrasse A9 einen Dachsbau. Sein Auftraggeber, das Bundesamt für Strassen (ASTRA), wollte wissen, woher die Tiere stammten, die in den Wochen zuvor auf der Autobahn überfahren worden waren und auch für den Verkehr ein Sicherheitsrisiko darstellten. Konnte man sie allenfalls von der Fahrbahn abhalten?

Der Biologe fand den Bau – und machte in der Nähe einen weiteren Fund. Am Rand eines abgeernteten Weizenackers, der an intensiv genutztes Grünland grenzte, sonnte sich eine Aspisviper. Die Entdeckung überraschte ihn, denn der Fundort ist alles andere als ein geeignetes Habitat für diese Reptilienart. Die Schlange musste sich aus einem nahe gelegenen Lebensraum dahin verirrt haben, der günstige Bedingungen für Vipern bietet und einen entsprechend individuenreichen Bestand beherbergt.

Verborgenes Dasein

Sylvain Dubey tippte auf die sonnige und trockene Autobahnböschung. Zu Recht, wie sich bei einem näheren Augenschein in den Tagen danach herausstellte. Entlang der A9 zwischen Villeneuve und Vevey (beide VD) hält sich eine der letzten grösseren Aspisvipernpopulationen im Schweizer Mittelland. Obschon das Gebiet dicht besiedelt ist, war sie bisher unbemerkt geblieben. Von der Fahrbahn halten sich die Tiere fern.

Zwei Jahre nach der Entdeckung im Sommer 2016 ist der Biologe bei einem Kontrollbesuch einmal mehr auf Schlangensuche entlang der Autobahn, doch diesmal erfolglos. Eine Blindschleiche und ein paar Mauereidechsen sind die einzigen vorzeigbaren Reptilien vor Ort. Es regnet, die Vipern haben sich in die Hohlräume des Geröllstreifens verzogen, der hier in der Zwischenzeit angelegt worden ist. Die Gesteine bilden das sichtbare Element der Artenschutzaktion, die Sylvain Dubeys Viperbeobachtung damals auslöste.

Der Reptilienfachmann ist Waadtländer Regionalvertreter der Koordinationsstelle für Amphibien- und Reptilienschutz in der Schweiz (KARCH), die im ganzen Land Aktivitäten zur Erforschung und zum Schutz von Tieren dieser Artengruppen unterstützt und koordiniert. In dieser Funktion erkannte er dringenden Handlungsbedarf, denn entlang der A9 waren umfangreiche Bauarbeiten geplant. Korrosive Prozesse nagten an den fast 50-jährigen Stützmauern der Böschung. Die notwendig gewordene Instandsetzung betraf rund ein Dutzend Mauern, verteilt über mehrere Kilometer Autobahnstrecke. 250 Kubikmeter Beton mussten dazu abgetragen und 4000 Kubikmeter neu verbaut werden. An einer Stelle hatten die Arbeiten bereits begonnen.

Unterbruch der Bauarbeiten

An allen Baustellen hätten die Bagger ein Massaker unter den ansässigen Vipern angerichtet. Dies nicht zuletzt, weil die Schlangen die Zwischenräume der Baggerraupen als sichere Verstecke für den nächtlichen Schlaf betrachten − was sich dann am Morgen, wenn der nichts ahnende Baggerführer die Maschine startet, als fataler Irrtum erweist.

Die KARCH gelangte an das ASTRA und informierte die Abteilung Arten, Ökosysteme, Landschaften im BAFU. Dem zur Begleitung der Unterhaltsarbeiten beigezogenen Ökobüro war die Existenz der Vipernpopulation nämlich entgangen. Deren Bedeutung für den Artenschutz erforderte schliesslich einen vorläufigen Unterbruch der Bautätigkeit. Das ASTRA erteilte daraufhin dem Ökobüro Hintermann und Weber, bei dem Sylvain Dubey tätig ist, den Auftrag, für eine naturverträgliche Umsetzung des Bauprojekts zu sorgen.
Dazu mussten zuerst einmal die von den geplanten Bauarbeiten direkt betroffenen Vipern in Sicherheit gebracht werden. Die Unterbringung der Tiere im Asyl war logistisch nicht ganz einfach: Die Vipern durften höchstens zu zweit pro Terrarium gehalten werden. Ansonsten hätte man riskiert, dass ein Individuum mit einer unbemerkten Krankheit alle anderen ansteckt.

Entlang der Autobahn A9 am Genfersee wurde eine der letzten vitalen Populationen der Aspisviper im Schweizer Mittelland per Zufall gerettet.
© Clément Grandjean | Terre&Nature

Auf Schlangenfang

Im Frühling 2017 traten Sylvain Dubey und zwei Bürokollegen als Schlangenfänger in Aktion. Es ist dafür die günstigste Saison, weil die Winterstarre zu Ende ist und die Fortpflanzungszeit beginnt. Die Schlangen sind dann unterwegs auf Partnersuche, bei den kühlen Temperaturen aber auch etwas träge und in der noch nicht üppigen Vegeta­tion leicht zu entdecken. Gewellte Platten aus Karton und Bitumen, unter denen sich Vipern gerne verkriechen, dienten als Fallen. Der Fang erfolgt mit einem beherzten Nackengriff. Ein spezieller Handschuh schützt vor dem Giftzahn. Als sie rund 50 Vipern sowie einige Schling- und Äskulapnattern gefangen und in Terrarien untergebracht hatten, gaben die Biologen grünes Licht für die Wiederaufnahme der Bauarbeiten.

Die Entdeckung der Vipernpopulation hatte auch für die Bauequipe Konsequenzen. Dass eine wild lebende Giftschlange einen Menschen beisst, kommt in der Schweiz zwar nur äusserst selten vor. So gab es letztmals im Jahr 1961 einen Todesfall. Doch die Arbeiter an der A9 waren einem erhöhten Risiko ausgesetzt. Sie wurden deshalb instruiert, wie man sich bei Bissen verhalten muss. Zudem setzte man das Universitätsspital in Lausanne ins Bild, damit für alle Fälle genügend Antiserum zur Verfügung stand. Glücklicherweise wurde es dann jedoch nicht benötigt.

Neu eingeplant wurden zudem Massnahmen zur Biotopaufwertung. Verteilt über den ganzen Autobahnabschnitt, in dem die Sanierungsarbeiten stattfanden, legte man mehrere Geröllstreifen an. Sie sind tief genug, dass die Schlangen darin auch frostsichere Unterschlüpfe finden, in denen sie den Winter verdämmern können. Ungefähr 200 Tonnen Gestein mussten dazu antransportiert werden.

Heimkehr in die freie Wildbahn

Der vorläufig letzte Akt ging im Frühling 2018 über die Bühne. Die Vipern kamen nach dem Aufwachen aus der Winterstarre zurück in die freie Wildbahn – jede am Ort, an dem sie im Vorjahr gefangen worden war. Inzwischen hatte sich ihre Zahl verdoppelt, denn im Herbst 2017 waren «in Gefangenschaft» etwa 50 Jungtiere hinzugekommen.

Die Aktion zur Erhaltung der Vipernpopulation hat das Bauprojekt um rund 250 000 Franken verteuert. Der grösste Posten war die Anlage der Steinnischen, die 150 000 Franken kostete. «Bei einer gesamten Bausumme von 17 Millionen Franken ist dieser Mehraufwand verhältnismässig», sagt Jean-Marc Waeber von der Abteilung Strasseninfrastruktur West im ASTRA.

«Dank der intensiven Zusammenarbeit von KARCH, BAFU und ASTRA konnte ein gravierender Verlust für die Biodiversität unseres Landes vermieden werden», freut sich Adrien Zeender von der Sektion Landschaftsmanagement im BAFU. Massnahmen zum Schutz der Arten bei Bauprojekten sind Teil der Bestimmungen im Bundesgesetz über den Natur- und Heimatschutz (NHG). «Bei Böschungen entlang von Verkehrswegen handelt es sich um wichtige und bislang unterschätzte Elemente der Ökologischen Infrastruktur», stellt der BAFU-Fachmann fest. «Im Rahmen des Aktionsplans zur Strategie Biodiversität Schweiz (AP SBS) will das BAFU diese potenziell hohen Werte – gemeinsam mit dem ASTRA, dem Bundesamt für Verkehr (BAV) und den Bahnunternehmen – deshalb weiter fördern.»

Die Lehren gezogen

Jean-Marc Waeber vom ASTRA pflichtet Adrien Zeender bei. «Erforderliche Schutzmassnahmen müssen bereits in der Anfangsphase der Projektierung entwickelt und in den Ausschreibungsunterlagen aufgeführt werden.» Im vorliegenden Fall sei dies leider nicht möglich gewesen, weil die Existenz der Vipernpopulation noch gar nicht bekannt war.

Doch jetzt weiss man es besser – und setzt das Wissen auch schon um. An der A9 stehen weitere Sanierungsarbeiten für die Böschungsmauern an, und diesmal ist der Artenschutz von Beginn weg Bestandteil des Projekts. Das Anlegen von Steinnischen für die Vipern ist eingeplant.

Im Frühling 2018 gingen Sylvain Dubey und seine Kollegen erneut auf Schlangenfang. Diesmal nicht nur entlang der Autobahn: Bei Grandvaux (VD) im Osten von Lausanne erneuern die SBB auf einer Strecke von 5 Kilometern die Geleise. Auch da leben Vipern, die vor Beginn der Bauarbeiten in Sicherheit gebracht werden mussten.

So warteten im Spätsommer 2018 um die 160 Vipern – adulte und neugeborene – und ein paar Schlingnattern in Terrarien darauf, nach dem Aufwachen aus der Winterstarre im Frühling 2019 wieder in ihren angestammten – und aufgewerteten – Lebensraum entlassen zu werden.

Sie mag es warm und steinig

Die Aspisviper (Vipera aspis) besiedelt hierzulande hauptsächlich den Jura, die Westalpen, das Tessin und die Bündner Südtäler sowie das Genferseegebiet. Ihre wichtigsten Lebensräume bilden lichte, von Felsen durchsetzte Wälder, Geröllhalden, Hangeinschnitte durch Lawinen (Runsen), extensiv genutzte Wiesen und Weiden sowie sonnige und buschige Waldränder. Günstig sind auch Rebberge mit Trockenmauern und eingestreuten Brachen, Hecken, Holz- und Steinhaufen. Etwas haben fast alle Vipernbiotope gemeinsam: Sie sind warm und steinig. Im Gegensatz zu vielen anderen Schlangenarten legt die Aspisviper keine Eier, sondern gehört zu den lebend gebärenden Reptilien.

In den Alpen und in der Südschweiz sind ihre Biotopansprüche grossflächig erfüllt. Gebietsweise ist die Art deshalb hier noch recht häufig, namentlich im Tessin. Anders im Jura und im Genferseegebiet. Dort wurden viele trockene Wiesen und Weiden entweder intensiviert, oder man liess sie verbuschen. Und wichtige Requisiten wie Lesesteinhaufen und andere Kleinstrukturen verschwinden zunehmend aus der Landschaft. Auf der Roten Liste der Schweiz ist die Aspisviper deshalb als «stark gefährdet» eingestuft.

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Letzte Änderung 06.03.2019

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