Porträt: Mit einer Jägerin auf der Pirsch

Sarah Moritz wuchs in einer Jägerfamilie auf. Nun geht sie selbst auf die Jagd. Aus Liebe zur Natur und zu den Tieren. Fühlt sich im Wald daheim: Jägerin Sarah Moritz.

Text: Sarah C. Sidler

«Tiere zu erlegen ist der kleinste Teil der Jagd», stellt Sarah Moritz klar. Die junge Frau hat gerade ihre Prüfung abgeschlossen und kann zum ersten Mal alleine auf die Jagd gehen.
© Saskja Rosset/LUNAX

Langsam, Schritt für Schritt, stets darauf bedacht, möglichst leise zu sein, schreitet Sarah Moritz auf dem von hohen Wiesen gesäumten Kiesweg voran. Obwohl bereits Ende Mai ist, hat sich die Jägerin für die heutige Jagd warm angezogen: Massive Schuhe, dunkelbraune Allwetterhosen und gleich zwei dicke Jacken im für die Jagd typischen Olivgrün trägt die sportliche Frau. Das Pink ihrer Wollmütze sticht farblich hervor. Über ihren Schultern hängt das geladene Gewehr. Plötzlich bleibt die 38-Jährige stehen und legt den Zeigfinger an die Lippen. Leise jetzt. Nach der nächsten Hügelkuppe könnten die Rehböcke äsen. Spannung liegt in der Luft. Doch Fehlalarm. Die Tiere sind heute woanders unterwegs, nicht an dieser Stelle in Lauwil, in einem der beiden Reviere im Baselbiet, für die Moritz jagdberechtigt ist. Es regnet ein wenig, der Wind bläst und das Büchsenlicht – das für die Jagd günstige Licht in der Dämmerung – lässt allmählich nach. Viel Zeit bleibt an diesem Abend nicht mehr für die Pirsch.

Obwohl Sarah Moritz dieses Jahr nach erfolgreich bestandener Jagdprüfung zum ersten Mal allein auf die Jagd gehen darf, kennt sie sich sehr gut aus in diesem Gebiet. Sie weiss, woher der Wind weht, wie viele Rehe sich im Gebiet aufhalten und wo sich Wildwechsel, das sind die Pfade der Tiere, befinden. Denn die Baselbieterin war während ihrer Ausbildung in den vergangenen zwei Jahren sehr oft in den Hügeln oberhalb von Lauwil mit ihrem Vater unterwegs, einem der Pächter des Reviers. «Ich durfte und darf viel von seinem Wissen profitieren», sagt sie. Heute lässt er ihr oftmals den Vortritt, damit sie ihre eigenen Erfahrungen sammeln kann. Das motiviert die Tochter: «Ich finde es sehr spannend nun auf Einzeljagd herauszufinden, wo sich die Tiere aufhalten und selbstständig Strategien zu entwickeln.»

Rehe duften zwischen den Klauen

«Schon seit meiner Kindheit ist mein Leben geprägt von der Jagd», sagt Moritz. Bis sie 20 Jahre alt wurde, hat sie ihren Vater oft in seine zwei Reviere begleitet. Dann vergingen zehn Jahre, bevor es sie wieder hinaus in die Wälder zog. Zurück im Wald merkte sie: «Ich fühlte mich daheim.»

Die Dämmerung hat zugenommen, allmählich verschwinden die Konturen. Knorrige Föhren wiegen sich im kühlen Wind, die weissen Kerbel leuchten im hohen Gras. Langsam geht die Jägerin weiter und zeigt auf eine freigescharrte Fläche. «Diese Spuren deuten auf Anwesenheit von Rehwild hin. Denn Rehböcke sondern durch die Drüsen zwischen ihren Klauen ein Duftsekret ab und markieren so die Stelle.» Die Augen wieder konzentriert auf den gegenüberliegenden Hügelkamm gerichtet, greift sie nun langsam zum Feld­stecher und sucht die dortige Wiese ab. Mitten in der Bewegung hält sie inne und raunt: «Da ist die ältere Geiss, der ich nun schon länger folge. Nun hat sie ihr Kitz endlich geboren.» Als ob die Rehmutter den Blick der Jägerin instinktiv wahrgenommen hätte, deckt sie ihr Junges mit ihrem Körper ab. Dann bewegt sich etwas neben ihr. Das Rehkitz macht ungestüm einige unbeholfene Sprünge und bleibt danach ruhig stehen. «Ein Böcklein.» Das erkennt Moritz an der Position, die das junge Tier beim Urinieren einnimmt.

Im Moment leben

Diese Tiere sind aber nicht zum Abschuss bestimmt. Der Auftrag von Sarah Moritz lautet, in diesem Revier einen einjährigen Bock mit wenig ausgeprägtem Geweih zu erlegen, ein eher kümmerliches Tier. Die Jägerin erkennt die Rehe ihres Gebiets an ihren Nasenspiegeln, der Fläche um die Nasenlöcher. Nasenspiegel sind unterschiedlich geformt und gefärbt – wie Fingerabdrücke. Das gesuchte Tier kommt an diesem Abend nicht vor die Linse. Aber das ist kein Problem für Sarah Moritz. «Tiere zu erlegen ist der kleinste Teil der Jagd.» Ihre Leidenschaft hat andere Gründe: «Ich bin fasziniert von der Unkontrolliertheit während der Zeit im Wald. Ich mag es, bei jeder Witterung im Wald zu sein.» Während der Jagd lebe sie total im Moment. Jagen bedeute für sie, bewusst zu leben.

Da Sarah Moritz gleich für zwei Reviere jagdberechtigt ist, verbringt sie sehr viel Zeit in den Wäldern: jeweils zwei Morgen pro Woche, einen Abend und jedes zweite Wochenende. Dafür braucht die alleinerziehende Mutter zweier Kinder und teilzeit­arbeitende Malerin ein gutes Zeit­management. Unterstützt wird sie dabei von ihrer Mutter, ihrer Schwester sowie ihrem Partner, der ebenfalls jagt.

Salz, um Unfälle zu vermeiden

Auch heute war Moritz am Nachmittag vor der abendlichen Pirsch schon in ihrem zweiten, rund 400 Meter tiefer gelegenen Revier bei Liestal, um einen Teil der zum Jagen benötigten Infrastruktur zu kontrollieren. Dort beherrschen sattgrüne Buchen das Waldbild, die Bäume stehen dichter als oben in den Lauwiler Hügeln. Um den Bestand der Wildtiere aufzunehmen und die daraus resultierende Jagdstrategie zu erarbeiten, stellt Moritz Wildtierkameras auf und liest Spuren. «Beispielsweise deuten solche Fegestellen auf Rehwild hin», berichtet die Jägerin und zeigt auf ein Stämmchen, dessen Rinde zum Teil von Geweih weg­geschabt worden ist.

Sehr aufschlussreich sind die Fotos der Kamera bei der Salzlecke im Liestaler Wald, die bei Bewegungen selbstständig auslöst. Dort hat der zuständige Jagdaufseher auf einem abgesägten Baumstamm auf knapp zwei Metern Höhe ein Stück Mineralsalz für die Rehe platziert. Der Stamm sieht ziemlich lädiert aus und wackelt, weil Wildschweine daran genagt haben. «Es scheint, als müssten wir den Förster bald um einen neuen Stamm bitten», sagt die Jägerin. Nicht nur die Fotos der Wildtierkamera, auch die unterschiedlichen Tierspuren in der nassen Erde rund um die Lecke verraten, dass neben Rehen auch Wildschweine, Füchse und Dachse die Mineralien mögen. Sie lecken das salzige Wasser, das bei Regen den Stamm hinunterfliesst. «Seitdem Jäger den Tieren solche Salzlecken im Wald zur Verfügung stellen, gibt es im Winter weniger Wildunfälle», erklärt Moritz, «denn vorher leckte das Rehwild teils Salz von den Strassen, um an die lebensnotwendigen Mineralien zu gelangen.»

Clevere Wildschweine

Das Bereitstellen der Salzlecken ist nur ein Teil der Hegearbeiten, die Jägerinnen und Jäger in ihren Revieren auszuführen haben. «Wir helfen beispielsweise Naturschutzvereinen, machen Öffentlichkeitsarbeit, retten Rehkitze im hohen Gras vor Mähmaschinen und zäunen auch einmal mit einem Bauern eine Fläche ein, wenn diese regelmässig von Wildschweinen und ihren Frischlingen auf der Suche nach Nahrung aufgewühlt wird.»

Die kleine Holzhütte ermöglicht es der Jägerin, sich zu verstecken und die Wildschweine zu beobachten. Sie berücksichtigt auch die Windrichtung, damit die Tiere sie nicht riechen können.

Etwas Jägerlatein: die Schweizer Weidmannsprache

  • Aufbrechen = Ausweiden
  • Büchsenlicht = zur Jagd ausreichende Lichtverhältnisse
  • Frischling = junges Wildschwein
  • Geiss = weibliches Reh
  • Kanzel = Hochsitz
  • Kirrung = Futterausbringung, um Schwarzwild anzulocken
  • Pirsch = Einzeljagd, bei der der Jäger vorsichtig und leise gegen den Wind schleicht, um möglichst nahe ans Wild zu kommen.
  • Rotte = Gruppe von mehreren Wildschweinen
  • Schwarzwild = Wildschweine
  • Schalenwild = Wildschweine, Geweihträger wie Hirsche, Hornträger wie Gemsen
  • Wildwechsel = regelmässig von Schalenwild begangener Pfad

Um Schwarzwild aktiv bejagen zu können, hat Sarahs Moritz’ Vater im Liestaler Wald vor Jahren eine Kirrung, also eine Futterquelle, sowie eine Kanzel aufgebaut. Letztere sieht aus wie ein kleines, hölzernes Häuschen auf einer Leiter. Von innen lässt sich eine Klappe öffnen, um die Tiere unbemerkt zu beobachten. Die Wildschweine dürfen die Jagenden aber nicht riechen. «Wir müssen stets darauf achten, woher der Wind weht», erklärt Moritz. Die Erde um die Kirrung ist tief und feucht. Pflanzen gedeihen hier seit Jahren keine mehr. Frische Spuren im Waldboden zeugen vom Besuch einer ganzen Rotte. Fast so, als wäre diesen Wildschweinen klar, dass sie im Wald nur über die Wintermonate bejagt werden dürfen.

Jagen für das Ökosystem

Sarah Moritz hat im ersten Monat als aktive Jägerin noch kein Tier erlegt. «Ich mache mir viele Gedanken darüber, wie dieser Moment wohl sein wird», sagt sie. «Jagen ist für mich Naturschutz mit Waffe. Deshalb verspüre ich Ehrfurcht vor dieser Aufgabe und bin mir meiner Verantwortung bewusst.» In gesundem Mass angewandt, könne sie durch ihre Tätigkeit im Wald helfen, das Öko­system im Gleichgewicht zu halten. Der Baselbieterin ist wichtig, dass ein Abschuss Sinn macht, etwa um ein krankes Tier zu erlösen oder um Überbestand zu regulieren. «Ich habe meine Grundprinzipien. Ich werde nicht schiessen, bevor es passt.»

Vom erlegten Tier soll so viel wie möglich verwertet werden können. Sarah Moritz und ihr Partner scheuen sich deshalb auch nicht davor, das Fett von erlegten Dachsen zu sammeln, um daraus Salbe herzustellen. Hochwertiges Fell von erlegten Füchsen versuchen sie möglichst weiterzugeben.

Zu den Aufgaben der Jagenden gehört auch das Aufbrechen, so nennt man das Ausweiden der Tiere. «Bin ich mit meinem Partner auf der Jagd, bin ich diejenige, die diese Aufgabe übernimmt», erzählt sie. Beim Aufbrechen werden noch vor Ort im Wald die Innereien aus dem Tier entfernt. Dann tragen die Jagenden das Tier zum Auto und fahren es zur Kühlzelle der Jagdgesellschaft. Von erlegten Wildschweinen muss immer eine Muskelfleischprobe in ein darauf spezialisiertes Labor eingeschickt werden. So lässt sich sicherstellen, dass das Fleisch frei von Trichinen ist. Denn diese widerstandsfähigen Würmer könnten nach dem Verzehr von Wildschweinfleisch beim Menschen die Infektionskrankheit Trichinellose auslösen.

Das Häuten und Zerlegen der gejagten Tiere übernimmt dann der Dorfmetzger. Sobald die benötigten Begleitscheine vom Labor eingetroffen sind, werden die Tiere von der Jagdgesellschaft für den Verkauf freigegeben. Es liegt auf der Hand, dass ein Teil des Fleisches wieder zu den Jägern und Jägerinnen gelangt. So auch zu Sarah Moritz. «Wir konsumieren Wild mit Wertschätzung, da wir genau wissen, welches Tier wo und weshalb sterben musste», sagt die Jägerin. «Diese Werte wollen wir auch unseren Kindern weitergeben.»

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Letzte Änderung 25.09.2024

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