Quellinventare: Vergessene und bedrohte Lebensräume

24.2.2021 - Quellen sind wertvolle natürliche Lebensräume für eine spezifische, üppige und artenreiche Flora und Fauna. Das BAFU erfasst diese gefährdeten Biotope in einer nationalen Datenbank. Mit einem neuen Merkblatt, das die Bevölkerung sensibilisieren soll, zeigt das BAFU zudem den Wert der Quellen und ihre Bedrohung auf.

Text: Zélie Schaller

Sumpfquelle im Schutzgebiet Gspiss (AG). Das Quellwasser sickert über flächig vernässte Feuchtstellen (dunkle Flächen) aus dem Untergrund.
© Marianne Rutishauser

Libellen, Feuersalamander und Höhlenflohkrebse sind kleine Wunder der Natur, die in Quellen oder in ihrer Nähe leben. Sie mögen die gleich bleibende Kühle dieser Übergangszonen zwischen Grund- und Oberflächenwasser. Neben ihrer Bedeutung als wichtige Trinkwasserressourcen für uns Menschen bilden die Quellen also auch einen wertvollen Lebensraum für eine Vielzahl von Arten. Seit Jahrtausenden bieten sie Krustentieren sowie Stein- und Köcherfliegen Unterschlupf. Diese hochspezialisierten Organismen reagieren hochempfindlich auf Veränderungen ihrer Umwelt.

Doch die Quellen als Lebensräume sind in der Schweiz heute ernsthaft bedroht. Insbesondere in tieferen Lagen blieben nur noch wenige in ihrem natürlichen Zustand erhalten – 18 Prozent im Jura, im Mittelland sogar nur noch 1 Prozent. Als Hauptgründe dafür gelten die Begradigung von Wasserläufen, Trinkwasserentnahmen, landwirtschaftliche Entwässerungsmassnahmen, die Ausbreitung von Siedlungsräumen sowie die globale Klimaerwärmung. Im Auftrag des BAFU kümmert sich deshalb die Beratungsstelle für Quell-Lebensräume um den Schutz und die Förderung natürlicher Quellen in der Schweiz.

Um Quell-Lebensräume erhalten zu können, braucht es genaue Kenntnisse ihrer Lage, Struktur und Fauna. Als Grundlage für entsprechende Schutz- und Sanierungsmassnahmen wurde von info fauna – Schweizerisches Zentrum für die Kartografie der Fauna (SZKF) und von der Universität Neuenburg im Auftrag des BAFU mit dem Informationssystem MIDAT-Sources eine gesamtschweizerische Datenbank der Makroinvertebraten erstellt. Dabei handelt es sich um die von blossem Auge erkennbaren bodenlebenden Wirbellosen, zu denen beispielsweise Insektenlarven, Krebstiere, Schnecken oder Muscheln gehören.

Auf Quellensuche

Die Daten stammen hauptsächlich aus den Kantonen und den regionalen Naturpärken, welche die Inventarisierung – auf freiwilliger Basis – anhand zweier vom BAFU ausgearbeiteter Methoden vornehmen. Die erste betrifft struktu­relle Quellenmerkmale wie Standort, Schüttung, Substrate und Schäden, während die zweite die beobachtete Fauna erfasst. Beide sind in der seit Oktober 2019 vorliegenden Publikation «Quell-Lebensräume – Anleitung zur systematischen Erfassung und Ermittlung ihrer Bedeutung im Naturschutz» beschrieben. «Ziel ist es, vergleichbare Daten zu erheben», sagt Markus ­Thommen von der Sektion Landschaftsmanagement beim BAFU.

Die Datenerhebung vor Ort erfolgt sowohl durch Fach- als auch durch Privatpersonen. So haben beispielsweise die Regionalpärke Chasseral (BE, NE) und Doubs (JU, BE, NE) im Sinn der als Citizen Science bekannten Bürger­wissenschaft auch Laienschulungen zum Aufspüren von Quellen angeboten. Diese wurden zwischen 2017 und 2018 jeweils halbtags abgehalten und bestanden aus einem theoretischen und einem praktischen Teil. Das Projekt war ein grosser Erfolg: Rund 50 Quellensuchende erfassten insgesamt 462 Quellen. Dafür wurden sie im Übrigen mit 15 Franken pro registrierten Standort entschädigt. Welches Profil weisen Quellensuchende auf? «Das sind ­Menschen aller Altersgruppen aus der Region: Einheimische, denen die Quellen am Herzen liegen, aber auch Fachleute oder Studierende», sagt Rafael Molina, Leiter der Projekte Geologische Infrastruktur und Geoinformation im Naturpark Doubs.

Teilweise erhebliche Schäden

Im Jura, der sein Inventar als erster Kanton abschloss, stiess man auf insgesamt 1750 Quellen. Die Zustandsbefunde sind alarmierend. So sind die Hälfte der Quellen zerstört oder weist starke Schäden auf, 16 Prozent sind trockengefallen oder liessen sich nicht mehr lokalisieren. Nur rund ein Fünftel besitzt noch eine naturnahe oder bedingt natürliche Struktur, was Massnahmen zur Renaturierung und zum besseren Schutz erfordert. Im Kanton Bern erweist sich die Inventarisierung aufgrund des grossen Gebiets als riesige Aufgabe. Das Amt für Wasser und Abfall (AWA) begann bereits 2014 mit seiner Erfassung. «Bisher sind 3689 Quellen registriert; bei 213 davon handelt es sich jedoch um noch nicht identifizierte Fundstellen», sagt der Biologe Vinzenz Maurer vom Fachbereich Gewässerökologie beim AWA. Im nächsten Schritt geht es nun um eine Revitalisierung der Quellen. Dazu erarbeitet der Kanton Bern gegenwärtig ein Arbeitspapier. In Zusammenarbeit mit Pro Natura sind zudem Massnahmen zur Sensibilisierung der Bevölkerung sowie von Personen geplant, die in der Land- und Forstwirtschaft arbeiten.

Auch der Kanton Aargau kooperiert mit Pro Natura. Rund 1100 Quellen sind bereits kartiert, wobei bis Ende 2020 ein Siebtel des Territoriums abgedeckt sein sollte, sagt Marianne Rutishauser, Projektleiterin bei der Pro Natura Sektion Aargau. «Die Quellenerfassung erfolgt durch engagierte Freiwillige. Die Initiative führt zum Ziel und bietet ausserdem die Möglichkeit, den Menschen die Bedeutung dieser Lebensräume nahezubringen», meint sie.

Der Kanton Freiburg hat zwischen 2018 und 2019 insbesondere anhand interner Daten und geologischer Karten 934 Quellen im Gelände ausgemacht, von denen er 355 strukturell bewertete. «Die übrigen wurden nicht untersucht, weil sie zerstört, trockengefallen oder bereits verschwunden sind», sagt Michelle Schneuwly, wissenschaftliche Mitarbeiterin beim kantonalen Amt für Wald und Natur. «Wir werden nun die nationale, kantonale oder lokale Bedeutung der Quellen ermitteln, um sie bei Bedarf unter Schutz zu stellen. Gegebenenfalls sind Revitalisierungsmassnahmen vorgesehen.»

Quelle Blanches Fontaines in den Gorges du Pichoux (JU).
© Bureau Aquabug

Ergänzung der Fauna-Inventare

Die Kantone Basel-Landschaft, Graubünden, Thurgau, Waadt und Zürich arbeiten ebenfalls an Inventaren, und auch das Bundesamt für Rüstung (armasuisse) erfasst die Quellen auf seinen Waffen- und Schiessplätzen. Die an info fauna übermittelten Daten finden dann Eingang in die Makroinvertebraten-Datenbank MIDAT-Sources. Sie enthält bereits 3529 Quellen; doch liegen nur in 275 Fällen ergänzende faunistische Untersuchungen vor, wie der wissenschaftliche Mitarbeiter Maxime Chèvre erklärt. «Wir müssen den faunistischen Teil bis 2024 verstärkt in Angriff nehmen», sagt Pascal Stucki vom Neuenburger Fachbüro AQUABUG. Diese Agentur arbeitet – ebenso wie die Büros UNA und NATURA in Bern sowie Life Science in Basel – für die Beratungsstelle für Quell-Lebensräume. Eine 2020 an 66 Standorten durchgeführte schweizweite Feldstudie konzentrierte sich anhand der morphologischen Beurteilung auf Quellen von gesamtschweizerischer Bedeutung mit dem höchsten ökologischen Wert. «Die faunistischen Aufzeichnungen ergänzen die vorhandenen Daten zu diesen Objekten und bestätigen deren Stellenwert», sagt Emmanuel Contesse vom Büro NATURA. Zu diesen Objekten gehören etwa das Quellsystem Blanches Fontaines in den Gorges du Pichoux (JU), das zum Teil mit Wasser vom Hochplateau der Freiberge gespeist wird, sowie eine grossflächige Sickerquelle im Parc Ela im Herzen des Kantons Graubünden.

Die Beratungsstelle für Quell-Lebensräume unterstützt und koordiniert die Aktivitäten der Kantone, Naturpärke und Organisationen. Sie ist Ansprechpartnerin für Fachkreise und leistet zudem Aufklärungsarbeit für die breite Öffentlichkeit. Dazu betreut sie die Website sources-naturelles.ch. Laut Emmanuel Contesse sind ab 2021 Schulungen und Veranstaltungen zum Erfahrungsaustausch für Fachpersonen geplant, die vom Thema Quellen tangiert sind – dazu gehören etwa Brunnenmeister sowie Land- und Forstwirtinnen.

Zudem werden Themenpapiere zur Förderung der empfohlenen Praxis erarbeitet. Das diesen Frühling erscheinende BAFU-Merkblatt «Quell-Lebensräume. Erfassen – Erhalten – Fördern» zeigt einfache, konkrete Massnahmen zur Sensibilisierung der Bevölkerung auf und weist auf die Bedeutung dieses Naturerbes und schützenswerten Lebensraums hin – so zum Beispiel für Libellen, Feuersalamander und Höhlenflohkrebse.

Quellen der Schweiz

Im September 2021 erscheint im Haupt-Verlag ein über 250-seitiges Werk mit Titel «Quellen der Schweiz». Die Autoren Rémy Wenger, Jean-Claude Lalou und Roman Hapka zeigen nicht nur kleine und spektakuläre Quellen, sondern gehen auch humanitäre Themen an und Umweltfragen nach. «Ein Buch zur Entdeckung dessen, was sich hinter dem Schlüsselelement unserer Landschaften verbirgt», sagt Roman Hapka. Das Buch wurde vom BAFU unterstützt und erscheint in Deutsch und Französisch.

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Letzte Änderung 24.02.2021

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