Rote Liste der Pflanzen: Ein unglaubliches Citizen-Science-Projekt

Mehr als 700 von gut 2600 beobachteten einheimischen Pflanzenarten haben in den letzten 15 bis 30 Jahren teilweise drastische Gebiets- und Bestandesverluste erlitten. Sie gelten heute als gefährdet oder ausgestorben. Die neusten Ergebnisse der Roten Liste sind einem Team von 420 Freiwilligen zu verdanken, die in ihrer Freizeit durch Felder, Wälder und Feuchtgebiete der Schweiz streifen.

Text und Bilder: Vera Bueller 

Der Biologe Stefan Eggenberg ist Direktor von Info Flora und betreut im Auftrag des BAFU die Rote Liste der gefährdeten Pflanzen. Für die neuste Ausgabe stand ihm ein Team von 420 ehrenamtlichen Mitarbeitenden zur Seite.

«An vielen Orten sieht die Natur wunderbar aus – so wie hier», meint der Biologe Stefan Eggenberg. Es ist ein sonniger Nachmittag im September, und wir stehen mit dem Direktor von Info Flora mitten im Naturschutzgebiet des Urner Reussdeltas. Doch das auf den ersten Blick hübsche Gesicht der Landschaft vermag bei näherem Hinsehen nicht über die immer stärkere Bedrohung der Artenvielfalt hinwegzutäuschen.

Die Rote Liste der gefährdeten Pflanzen ist Stefan Eggenbergs Spezialgebiet. Er kümmert sich bei Info Flora um ihre Erstellung. Die von ihm geleitete gemeinnützige Stiftung zur wissenschaftlichen Dokumentation und Förderung der Wildpflanzen in der Schweiz wird vom BAFU als nationales Daten- und Informationszentrum anerkannt und finanziell unterstützt. Für die Erarbeitung und Überprüfung der Roten Liste kann Info Flora auf ein Team von 420 ehrenamtlichen Mitarbeitenden zurückgreifen. Sie suchen alte, unbestätigte Fundorte auf, berichten über Bedrohungen und machen mögliche zusätzliche Fundorte ausfindig. Es handelt sich dabei um begeisterte Naturfreunde, die mit Info Flora einen Vertrag als Hobbyfeldbiologen abgeschlossen haben. In regelmässigen Abständen durchforsten sie während Jahren ein ihnen zugeteiltes Gebiet und überprüfen die bekannten Standorte gefährdeter Arten. Aus Tausenden von Beobachtungen zum Vorkommen oder Verschwinden von Wildpflanzen, Farnen und Algen erstellt Info Flora dann nach den wissenschaftlichen Kriterien der Internationalen Union zur Bewahrung der Natur und natürlicher Ressourcen (IUCN) die offizielle Rote Liste der gefährdeten Pflanzen der Schweiz.

Kurse für die Freiwilligen

Das Mitwirken an dieser Form der Bürgerwissenschaft, auch Citizen Science genannt, steht allen Interessierten offen. Man müsse allerdings die Natur schon etwas kennen und sie einschätzen und über längere Zeit beobachten können, sagt Stefan Eggenberg. Es gebe Pflanzenindividuen, die sich plötzlich explosionsartig vermehrten und dann wieder verschwänden. «Nach dem Waldbrand von 2003 ob Leuk im Wallis hat sich zum Beispiel der Erdbeerspinat (Blitum virgatum) massenhaft ausgebreitet und ist danach wieder komplett verschwunden.»

Ganz unbedarft dürften die Laien also nicht sein, betont der Biologe. Es gebe einerseits Ausbildungsangebote von Info Flora, und andererseits vermittle man feldbotanische Kurse in vielen Regionen der Schweiz. Zudem vergibt die Stiftung zusammen mit der Schweizerischen Botanischen Gesellschaft Zertifikate. Je nach Können, das eingehend geprüft werde, gebe es ein Abzeichen – ähnlich wie beim Schwimmen: Das Gänseblümchen (Bellis) als Emblem bestätige, dass ein Grundwissen vorhanden sei. «Eine Verwechslung der Taubnessel mit dem Hohlzahn sollte damit nicht mehr passieren», lacht Stefan Eggenberg. Die zweite Wissensstufe symbolisiere die Schwertlilie (Iris), die dritte der Silberwurz (Dryas).

Feuchtgebiete unter Druck

Es dauert, mit Stefan Eggenberg durchs Naturschutzgebiet zu streifen. Immer wieder entdeckt er Pflanzen, die sonst niemand beachtet – so etwa den Sumpf-Haarstrang, das Grosse Flohkraut oder die Rohrkolben. Letztere Art sei zwar geschützt, aber nicht gefährdet, genauso wenig wie etwa der Blaue Enzian oder die Alpenrose. Er tritt aus dem Schilf einer Wiese am Urnersee, wo es vor 30 Jahren noch kein Uferland gab. Nun liegen hier vor Seedorf und Flüelen 2,4 Millionen Tonnen Aushubmaterial aus dem Gotthard-Basistunnel im See. Dadurch ist an der Reussmündung ein schweizweit einmaliges Delta mit einem Ried entstanden, wo seltene Pflanzen wachsen, Vögel brüten und Fische flache Laichgründe vorfinden. Auch an Strände für Badende hat man gedacht.

Trotzdem ist es kein Idyll unberührter Natur, denn in den Feuchtgebieten sei die Pflanzenvielfalt besonders gefährdet, erklärt der Artenspezialist. Er zieht eine Karte des Reussdeltas aus seiner Tasche, auf der vier blaue Sternchen Standorte von ehemals seltenen, nun aber verschwundenen Pflanzen kennzeichnen. Dazu zählen die Nadel-Sumpfbinde, der Sommer-Drehwurz sowie die Zwiebelorchis. «Sie waren zu schwach, um sich versamen und langfristig durchsetzen zu können.» Im Reussdelta werde zwar sehr viel für den Schutz des Lebensraums unternommen, doch für viele Arten komme diese Hilfe zu spät.

Es fehlt an natürlicher Dynamik

«Die Ufersituation war hier zu lange stabil, weil ein Wechsel von Überschwemmungen und Trockenzeiten – und demzufolge die natürliche Dynamik – fehlte.» Als Hauptgründe für das Verschwinden vieler Arten bezeichnet Stefan Eggenberg vor allem die mit einem übermässigen Nährstoffeinsatz einhergehende Intensivierung der Landwirtschaft, das Aufgeben der Nutzung abgelegener Wiesen, die Trockenlegung von Feuchtgebieten, eine fortschreitende Zersiedelung und den Verlust an Lebensraumdynamik, wie sie etwa periodische Überschwemmungen begünstigen. Der Mensch habe die Natur zu sehr gebändigt. «Und wenn wir ihre Gefährdung bemerken, reagieren wir zu träge. Wir machen nichts oder handeln zu spät. Den Trend umzukehren oder verlorene Arten zurückzugewinnen, wird immer aufwendiger – sofern es überhaupt noch möglich ist.»

Plötzlich bückt er sich vor einer Pfütze nach einem unscheinbaren Büschel von Gelblichem Zyperngras, das schon 2002 als gefährdet galt. Sofort greift er nach dem Smartphone, öffnet eine App, fotografiert die Pflanze und verortet die Fundstelle auf dem per Satellit übermittelten Kartenausschnitt. Mit diesem neuen Internet-Tool können sich die Pflanzenfreunde von Info Flora in ein eigenes «Feldbuch» einloggen und dort ihre Funde eintragen. Eine grafisch aufbereitete Statistik sowie eine Karte mit Zoomfunktion zeigen fortlaufend den Stand der eigenen Fundmeldungen. Sie werden anschliessend vom Info-Flora-Team auf ihre Qualität und Plausibilität überprüft, bevor sie in die nationale Datenbank einfliessen.

Grosser Einsatz der Freiwilligen

Die App habe die Feldbeobachtung erleichtert und dazu geführt, dass sich immer mehr jüngere Leute für die Arbeit mit Info Flora interessierten, sagt Stefan Eggenberg. «Überhaupt ist die Datenlage für die Erhebung der Roten Liste noch nie so gut gewesen wie diesmal. Wir konnten diverse andere Monitoringprogramme des Bundes mit einbinden.» Zwischen 2010 und 2015 kam die Citizen-Science-Methode gezielt zum Einsatz. Auf 6100 Kontrollgängen, die etwa 50 000 Stunden in Anspruch nahmen, kontrollierte man 800 Arten. «Es ist eine gewaltige Leistung, die wir von Amtes wegen gar nicht erbringen könnten», lobt Sarah Pearson Perret vom BAFU die Arbeit der Freiwilligen. Die Chefin der Sektion Arten und Lebensräume erachtet das ehrenamtliche Engagement für den Naturschutz als zentral, weil Bund und Kantone Informationen in hoher Qualität für die ganze Schweiz benötigen, um die richtigen Entscheide zu treffen. «Diese Leistungen anerkennen wir und danken den Freiwilligen für ihren grossen Einsatz.»

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Letzte Änderung 28.08.2017

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