Veruska Muccione, Klimawissenschaftlerin an der Universität Zürich und Leitautorin des sechsten UNO-Klimabericht, spricht über die Folgen des Klimawandels in der Schweiz, mangelndes Problembewusstsein und darüber, was sie trotz allem hoffnungsvoll macht.
Interview: Peter Bader
Frau Muccione, Sie waren an der Erarbeitung des jüngsten Berichts des UNO-Klimarats beteiligt. Welche Erkenntnis darin macht Sie besonders betroffen?
Veruska Muccione: Dass der Klimawandel eine wissenschaftliche Tatsache ist und er die gesamte Menschheit und die globalen Ökosysteme existenziell bedroht. Der Bericht listet aber auch eine ganze Palette von Anpassungslösungen auf.
Welches sind die gravierendsten Auswirkungen für die Schweiz?
Der 3500-seitige Bericht macht Aussagen über Zentraleuropa. In diesem Gebiet sind in den nächsten Jahren zum einen mehr und längere Hitzeperioden mit höheren Temperaturen zu erwarten und zum andern mehr Unwetterereignisse mit heftigen Regenfällen. In der Schweiz sind Hitzeperioden ein besonderes Problem, weil hierzulande viele Menschen in Städten und Agglomerationen leben und die grauen Betonoberflächen die Wärme absorbieren. Das Problem bei den Hitzeperioden ist nicht nur, dass sie häufiger, länger und mit Temperaturen über 30 Grad auftreten. Ein ebenso grosses Problem sind die sich häufenden tropischen Nächte, in denen die Temperatur nicht unter 20 Grad fällt. Das beeinträchtigt den Schlaf und damit eine wichtige Erholungsphase für unseren Körper. Solche Erfahrungen haben wir in der Schweiz bereits während den Hitzeperioden von 2003 und 2015 gemacht, und jetzt 2022 erneut. Die Sommer 2003 und 2022 waren die wärmsten seit über 150 Jahren.
Hitzeperioden sind auch für die landwirtschaftliche Produktion eine Bedrohung.
Ja, absolut, insbesondere wenn sie mit Trockenphasen einhergehen. In Zentraleuropa haben wir bereits im Sommer 2018 mit zum Teil massiven Ernteausfällen erlebt, wie gravierend die Auswirkungen sein können. In Südeuropa sind Wasserknappheit und -rationierungen bereits heute Tatsache. Sie dürften es aber auch bei uns werden: Bei einer globalen Erwärmung von zwei Grad könnten etwa 16 Prozent der Bevölkerung in West- und Zentraleuropa von Wasserknappheit betroffen sein.
Gefährlich kann auch zu viel Wasser auf einmal sein, wie man bei den Unwettern in Deutschland im Juli 2021 gesehen hat. Fast 200 Menschen kamen dabei ums Leben. Welche Prognosen gibt es bezüglich Überflutungen?
Der Klimawandel erhöht die Wahrscheinlichkeit und die Intensität extremer Niederschläge, die zu Überschwemmungen führen, wie wir sie etwa in Mitteleuropa im Juli 2021 erlebt haben. Diese Entwicklung wird sich in einem sich rasch erwärmenden Klima fortsetzen.
Wie gut sind wir in der Schweiz an solche Auswirkungen des Klimawandels angepasst?
Wir sind auf gutem Weg, aber es sind weitere Massnahmen nötig. Und dafür braucht es nach wie vor viel Überzeugungsarbeit, weil die Gefahren des Klimawandels im Bewusstsein einer breiten Bevölkerung noch nicht ausreichend angekommen sind. Wir wiegen uns nach wie vor in falscher Sicherheit.
Was meinen Sie damit konkret?
Nehmen Sie zum Beispiel die Hitzewellen: In Südeuropa verfügt man bereits über eine breite Palette von entsprechenden Anpassungsmassnahmen, in der Schweiz sind wir längst noch nicht so weit. Viele Häuser schützen zu wenig gut vor der Hitze, das Schlafzimmer ist längst nicht immer der kühlste Raum im Haus, so wie es eigentlich sein sollte. Schweizerinnen und Schweizer wollen, dass ihre Häuser «sonnenseitig» ausgerichtet sind, das ist ein Qualitätsmerkmal von Immobilien. Sie wollen die Sonne geniessen, so lange sie scheint. In Südeuropa meiden die Menschen die Sonne, wann immer es geht. Im Sommer 2018 haben wir aber auch hier eine Idee davon bekommen, wie es aussehen könnte, wenn wir an die Grenzen der Anpassungsfähigkeit stossen.
Wie das?
In diesem Hitzesommer musste zum Beispiel in Basel ein Waldstück geschlossen werden, weil die Bäume sehr trocken und instabil waren und deshalb Äste herunterstürzen konnten. Im Moment liegt die globale Temperatur bereits 1,1 Grad über dem vorindustriellen Niveau, in den nächsten Jahrzehnten wird sie weiter ansteigen. Deshalb könnten wir sehr bald auch in anderen Bereichen an die Grenzen der Anpassungs- und Schutzmassnahmen stossen. Zum Beispiel beim Hochwasserschutz. In der Vergangenheit hat er sich vielerorts bewährt. Das heisst aber nicht, dass er es auch noch in 10 oder 20 Jahren tut. Also müssen wir ihn laufend verbessern, etwa durch weitere Renaturierungen von Flüssen, die vor Überschwemmungen schützen und gleichzeitig die Artenvielfalt fördern. Aber wie gesagt: Dafür fehlt vielen Menschen in der Schweiz das nötige Problembewusstsein. Das gilt auch für Häuser, die in Berggebieten in Gefahrenzonen stehen. Im Bericht nennen wir geplante Umsiedlungen als eine mögliche Anpassungsmassnahme, die allerdings viel Überzeugungsarbeit braucht.
Was verständlich ist, handelt es sich doch um eine sehr einschneidende Massnahme.
Ja, absolut. In Zonen mit höchster Gefährdung stehen in der Schweiz allerdings sehr wenig Häuser. Eine Umsiedlung wäre in solchen Fällen aber eine höchst wirksame Anpassungsmassnahme.
Noch dringender ist die Bekämpfung des Klimawandels: Um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen, muss das globale Wirtschaftssystem umgekrempelt werden. Zudem müssten allein die europäischen Staaten ihre Klimaanstrengungen in den nächsten Jahren verdoppeln bis vervierfachen. Ist das realistisch?
Ich bin Wissenschaftlerin, und mein Ziel ist es, Fakten und Beweise auf den Tisch zu legen. Das haben wir getan. Welche Massnahmen daraus abgeleitet werden, ist eine politische Frage. Sicher ist: Es braucht einen schnellen und umfassenden Transformationsprozess, der auch den Alltag der Menschen in der Schweiz verändern wird. In unserem Bericht weisen wir aber auch deutlich darauf hin, dass sich unser Wohlbefinden verbessert, wenn wir die Natur und das Klima schützen.
Was macht Sie hoffnungsvoll?
Dass der Mensch ein vernünftiges Wesen ist. Ich glaube daran, dass wir alles daransetzen werden, dass auch unsere Kinder in 20, 30 oder 50 Jahren noch in einer lebenswerten Umgebung leben können.
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Letzte Änderung 28.09.2022