Der Klimawandel gefährdet heute schon die Gesundheit verschiedener Bevölkerungsgruppen in der Schweiz, vor allem durch die steigende Hitze. Das sagt Ana Maria Vicedo-Cabrera, Epidemiologin an der Universität Bern. Im Interview erklärt sie, wie wir uns besser schützen können.
Interview : Susanne Wenger
Ana Maria Vicedo-Cabrera, welche gesundheitlichen Auswirkungen des Klimawandels sind belegt?
Wir finden seit vielen Jahren schlüssige Belege dafür, dass extreme Wetterereignisse, die auf den Klimawandel zurückzuführen sind, die Gesundheit stark beeinträchtigen – vor allem Hitze. Das betrifft auch die Schweiz: Laut unserer Studie zum ungewöhnlich heissen Sommer 2022 in der Schweiz waren 60 Prozent der über 600 hitzebedingten Todesfälle auf die Klimaerwärmung zurückzuführen.
Zunächst: Woher wissen Sie, dass Hitze die Todesursache war?
Tatsächlich enthalten ärztliche Angaben zu Todesursachen kaum Hinweise, ob jemand an Hitze gestorben ist. Doch wir wissen durch physiologische Studien und epidemiologische Analysen, dass ein Teil der Todesfälle bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen und bei Erkrankungen der Atemwege durch hohe Temperaturen mitverursacht werden. Die Hitze ist ein stiller Killer. Deshalb arbeiten wir mit statistischen Modellen und ermitteln die temperaturbezogene Übersterblichkeit in einem bestimmten Zeitraum, basierend auf Datenreihen.
Und wie ist es möglich, den Anteil des Klimawandels abzuschätzen?
Mit Klimasimulationen. Wir berechnen, wie die Gesundheitsbelastung durch Hitze und andere Umweltfaktoren ohne den Klimawandel ausgesehen hätte, und vergleichen das Ergebnis mit den aktuellen Befunden. Die Differenz können wir auf die Klimaerwärmung zurückführen.
Ältere Menschen werden inzwischen vor der Hitze gewarnt. Was weiss die Forschung sonst noch über gefährdete Bevölkerungsgruppen?
In der Schweiz sind ältere Frauen stärker durch Hitze gefährdet als ältere Männer. Das könnte physiologische Gründe haben und zusätzlich dadurch verursacht sein, dass Frauen häufiger draussen unterwegs sind. Doch auch Jüngere sind betroffen, darunter schwangere Frauen und – bisher übersehen – Menschen mit psychischen Erkrankungen. Letztere reagieren besonders empfindlich auf höhere Umgebungstemperaturen.
Warum wirkt der Hitzestress bei psychisch kranken Personen stärker?
Wir fanden in einer Studie für die Schweiz einen klaren Zusammenhang zwischen hohen Temperaturen und einem erhöhten Risiko von Hospitalisierungen aufgrund psychischer Erkrankungen. Menschen mit solchen Erkrankungen scheinen bei grosser Hitze die Kontrolle über ihren Gesundheitszustand zu verlieren: Ihr Risiko, einen Krankheitsschub zu erleiden, steigt. Ein Grund dafür könnte sein, dass sie krankheitsbedingt anfälliger sind für Stressfaktoren. Auch sind einige Betroffene womöglich wegen eingenommener Medikamente hitzeanfälliger. Weiter finden sich Hinweise, dass das Suizidrisiko zunimmt. Zu all dem braucht es mehr Forschung.
Hierzulande herrscht allerdings nicht die Gluthitze, wie sie etwa Südeuropa kennt. Warum sind dennoch schon gesundheitliche Folgen spürbar?
Es stimmt, die Schweiz wird als Land mit gemässigtem Klima betrachtet. Zugleich gibt es seit mehreren Jahren im Sommer Phasen mit hohen Temperaturen, die Menschen kränker machen und sogar das Leben kosten. Dies deutet auf eine hohe Vulnerabilität in der Schweiz gegenüber Hitze hin. Deshalb braucht es öffentliche Strategien im Umgang mit der Hitze. Beim Klimawandel in der Schweiz geht es nicht allein um Gletscher und Schnee, es geht auch um unsere Gesundheit, manchmal um Menschenleben.
Das heisst, wir müssen uns anpassen und vor der Hitze schützen?
Ja. Bei den derzeitigen Erwärmungsraten werden Hitzesommer wie 2022 in der Schweiz in den kommenden Jahrzehnten nicht nur häufiger, sondern zur Normalsituation. Der Hitzesommer 2022 wird zu einem durchschnittlichen Sommer. Und selbst wenn die Treibhausgas-Emissionen sofort drastisch reduziert würden, wären wir in den nächsten Jahren vorerst weiterhin höheren Temperaturen ausgesetzt. Das wissen wir von Klimastudien.
Was also ist zu tun?
Um ins Handeln zu kommen, sollte in der Politik, in der Bevölkerung und bei Fachpersonen ins Bewusstsein rücken: Die Gesundheitsbedrohung durch den Klimawandel ist real, und zwar nicht erst in Zukunft, sondern hier und jetzt. Wie das NCCS – das National Centre for Climate Services – des Bundes Klimawissen aufbereitet und Handlungsoptionen aufzeigt, finde ich hilfreich. Besonders im Gesundheitswesen ist es wichtig, die Fachpersonen zu sensibilisieren. Auch weil Ärztinnen, Pflegefachpersonen und Therapeuten eine Schlüsselrolle spielen, wenn es darum geht, Menschen auf die gesundheitlichen Risiken aufmerksam zu machen. Sie geniessen hohe Glaubwürdigkeit und Vertrauen. Aber auch Städteplanerinnen und Entwickler sind gefragt.
Wie können sie uns längerfristig gegen Hitzewellen wappnen?
Um zwei Punkte herauszugreifen: Gebäuden in der Schweiz fehlt eine nachhaltige Kühlung. Die Häuser sind für den Winter gebaut. Das zeigt sich etwa an Glasflächen, die für Tageslicht sorgen, in heissen Sommern aber zum Problem werden. In Städten, wo die Bevölkerung besonders unter Hitzewellen leidet, könnten zudem künftig «Climate Shelters» Schutz bieten. Das sind beschattete Orte in Parks oder Quartierzentren, die vulnerable Personen wie Ältere, Kinder oder sozial Benachteiligte in heissen Stunden aufsuchen können. Wir wissen, dass Hitze-Aktionspläne helfen: In Schweizer Städten, die solche Pläne jetzt schon umsetzen, ist die hitzebedingte Sterblichkeit nachweislich geringer.
Gibt es weitere gesundheitliche Folgen des Klimawandels in der Schweiz?
Wir versuchen aktuell zu verstehen, wie sich die Krankheitslast bei vektorübertragenen Erkrankungen entwickelt. Das sind Infektionserkrankungen wie die Lyme-Borreliose, die durch Zecken übertragen wird und die sich in anderen Ländern aufgrund klimatischer Veränderungen verbreitet. Die Dringlichkeitsstufe mag bei dieser Art Erkrankungen in der Schweiz noch nicht so hoch sein. Doch als Forscherin will ich mithelfen, objektive Grundlagen bereitzustellen, sodass die Gesundheitsbehörden reagieren können und mehr Menschen realisieren: Massnahmen gegen den Klimawandel dienen direkt ihrer Gesundheit.
Ana Maria Vicedo-Cabrera
ist Assistenzprofessorin am Institut für Sozial- und Präventionsmedizin der Universität Bern. Die 38-jährige aus Spanien stammende Epidemiologin leitet die interdisziplinäre Forschungsgruppe «Klimawandel und Gesundheit». 2021 war sie Erstautorin einer internationalen Studie, die für über 700 Städte in 43 Ländern erstmals den Anteil des Klimawandels an hitzebedingten Todesfällen zwischen 1991 und 2018 umriss. Ein Forschungsteam um Vicedo-Cabrera untersuchte die gleiche Frage für den Sommer 2022 in der Schweiz.
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Letzte Änderung 12.06.2024