Der Einsatz von Negativemissionstechnologien (NET) zur Bekämpfung des Klimawandels scheint mittlerweile unvermeidlich, wirft aber zahlreiche ethische Fragen auf. Petrissa Eckle, Leiterin des Sustainability in Business Lab (sus.lab) an der ETH Zürich, und der Klimaethiker Dominic Lenzi nehmen im Doppelinterview eine Interessenabwägung vor.
Interview: Patricia Michaud
Zahlreiche Regierungen sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind überzeugt: Zur Erreichung der Klimaziele ist der Einsatz von Negativemissionstechnologien (NET) erforderlich. Teilen Sie diese Auffassung?
Petrissa Eckle (PE): Die Antwort lautet schlicht und einfach: Ja.
Dominic Lenzi (DL): Es gibt mehrere Modelle, die mehr oder weniger ehrgeizige Ziele für die Eindämmung der Erderwärmung vorsehen. Und daher auch einen mehr oder weniger intensiven Einsatz von NET. Doch insgesamt scheint es sehr unwahrscheinlich, dass wir auf sie verzichten können.
Der Einsatz von NET wirft viele ethische Fragen auf. Welche halten Sie für besonders wichtig?
DL: Eine der wichtigsten Fragen ist zweifellos jene des moralischen Risikos («Moral Hazard»). Wenn Methoden vorhanden sind, mit denen man direkt auf das Klimasystem einwirken kann, besteht die Gefahr, dass Entscheidungsträgerinnen und -träger, Unternehmen und sogar Einzelpersonen diese Technologien als Vorwand nutzen, um sich von der Pflicht zur Emissionsreduktion zu befreien.
PE: Das ist tatsächlich ein Risiko. Inzwischen scheint jedoch klar, dass sowohl das Tempo bei der Emissionsreduktion drastisch erhöht werden muss, als auch die Anstrengungen zur Entfernung von CO2 aus der Atmosphäre vorangetrieben werden müssen.
Die Lebensmittelsicherheit und die Biodiversität sind im Zusammenhang mit NET ebenfalls Themen, über die Ethikerinnen und Ethiker schon viel Tinte vergossen haben.
DL: Die wissenschaftliche Literatur dazu ist tatsächlich sehr umfangreich. So benötigen beispielsweise Ansätze zur Speicherung von CO2 mittels Verbrennung von Biomasse – das Verfahren ist unter dem Begriff Bio-Energy with Carbon Capture and Storage, kurz BECCS, bekannt – oder mittels Aufforstung Bodenfläche und Wasser. Diese Ressourcen stehen dann der Landwirtschaft nicht mehr zur Verfügung. Ausserdem muss verhindert werden, dass gewisse Länder andere Länder dafür bezahlen, dass sie ihnen Land bereitstellen, denn dies würde das globale Nord-Süd-Gefälle noch weiter verschärfen. Das sind Fragen, die unbedingt auf internationaler Ebene angesprochen werden müssen. Dies führt zur allgemeineren Thematik der «Trade-offs», also der Kompromisse, welche die Bekämpfung der Erderwärmung mit sich bringt.
PE: Ja, diese Thematik der «Trade-offs» kommt unweigerlich auf und betrifft unterschiedliche Bereiche, seien es – wie Dominic Lenzi sagte – die Lebensmittelsicherheit oder die Biodiversität oder aber das Wirtschaftswachstum. Deshalb ist es meiner Meinung nach wichtig, dass die diversen NET rasch zur Marktreife gebracht werden, um herauszufinden, mit welchen davon wir am wenigsten Kompromisse eingehen müssen. Oder noch besser wäre, die verschiedenen Technologien so weiterzuentwickeln, dass sich «Trade-offs» reduzieren oder sogar gänzlich vermeiden liessen.
Ein weiteres häufig genanntes Problem ist die Risikoverlagerung. Zum jetzigen Zeitpunkt weisen NET noch viele Unbekannte auf. Haben wir das Recht, dieses Risiko den zukünftigen Generationen aufzuerlegen?
PE: Diese Frage ist berechtigt. Aber sie stellt sich auch in die umgekehrte Richtung: Lange Zeit galt Carbon Capture and Storage (CCS) als zu riskant, um überhaupt in Betracht zu kommen, vor allem wegen möglicher CO2-Leckagen. Dieses Zaudern hat dazu geführt, dass wir bei der konkreten Anwendung dieser Technologie sehr weit zurück-liegen. Hier fragt sich also, ob es – vor allem mit Blick auf künftige Generationen – richtig ist, mit demEinsatz von Instrumenten, welche die schlimmsten Folgen des Klimawandels verhindern könnten, zu warten, bis alle Unwägbarkeiten geklärt sind.
DL: Als ich meine Doktorarbeit in Australien schrieb, waren die Behörden nicht wirklich bereit dazu, sich verstärkt um die Emissionsminderung zu bemühen. Vor allem wegen der Macht der Kohlenlobby. Die australische Regierung entschied daher, mit der Unterstützung der Produzenten fossiler Energieträger, als Verzögerungstaktik in CCS-Technologien zu investieren. Es stellte sich jedoch heraus, dass es bei der Erreichung der sehr ehrgeizigen Ziele dieses Projekts einige Schwierigkeiten gab. Es schien gleichzeitig schon zu spät, um mit Emissionsminderungen zu reagieren, und noch zu früh, um CCS in grossem Umfang einsetzen zu können. Es war schwierig, die richtige Mischung zu finden.
PE: Dies zeigt meiner Meinung nach anschaulich die Grenzen der Ethik auf: Will man sich ethisch zu korrekt verhalten, schafft man neue Probleme. Nehmen wir noch einmal das Beispiel der CO2-Speicherung: In der Schweiz ist man sehr darauf bedacht, dass mit Blick auf die CO2-Speicherung alle ihren eigenen Abfall entsorgen. Dies ist auch bei der Kernenergie der Fall. Dabei handelt es sich zwar um eine gute Absicht, aber besteht so nicht das Risiko, dass der gesamte Prozess blockiert wird? Speicherorte sind schliesslich eine «natürliche Ressource», die nicht in allen Ländern vorhanden ist.
DL: Als Ethiker darf ich gar nicht zulassen, dass Sie sagen, dass wir uns manchmal «zu ethisch» verhalten. (Lachen) Ich erlaube mir daher, Ihre Aussage anders zu formulieren: Es ist leider nicht möglich, für alle ethischen Probleme eine Lösung zu finden. Wichtig ist, ein gutes Gleichgewicht zu finden.
Könnten Gesetze den Wandel hin zu einer ökologischeren Wirtschaft beschleunigen?
DL: Idealerweise sollten Gesetze eingeführt werden, welche die Unternehmen dazu verpflichten, ihre CO2-Emissionen zu beseitigen, denn freiwillig tun dies allzu wenige. Zum jetzigen Zeitpunkt ist Microsoft eines der wenigen Grossunternehmen, das einen drastischen Plan zur Reduzierung seines Umweltfussabdrucks angekündigt hat. Stellen Sie sich vor, man würde dasselbe von einem Erdölmulti verlangen.
PE: Das wäre wirklich ein spannendes Gedankenexperiment: Was würde passieren, wenn man von Unternehmen verlangen würde, ihre historischen Emissionen zu kompensieren? Das würde wahrscheinlich zu Konkursen führen.
Sie haben beide gesagt, dass die Entwicklung von NET auf keinen Fall die Bemühungen zur Verminderung von Emissionen ersetzen würde. Das wirft aber auch wieder ethische Fragen auf.
PE: Ehrlich gesagt, stellt sich nur eine einzige ethische Frage, nämlich: «Ist es richtig, weiter zuzusehen, wie der Planet brennt, oder unternehmen wir endlich etwas dagegen?»
DL: Genau. All das Reden ist ja schön und gut, aber nun müssen auch Taten folgen. Dazu müssen die Bürgerinnen und Bürger auf ihre Regierung Druck ausüben. Und die Regierungen müssen gegenseitig Druck aufeinander ausüben …
PE: …was kompliziert ist, da es sich um eine sehr komplizierte Thematik handelt. Wenn sich sogar Expertinnen und Experten darüber den Kopf zerbrechen, kann man nicht erwarten, dass die Öffentlichkeit – und im weiteren Sinne die Bürgerinnen und Bürger – intuitiv über alle Informationen verfügen, die sie benötigen, um sich eine Meinung zu bilden.
DL: Deshalb ist es so wichtig, qualitativ hochwertige Informationen zu verbreiten, die zum Em-powerment beitragen. Nur so können wir die Leute dazu bringen, ihre passive Einstellung aufzugeben und aktiv zum Wandel beizutragen.
Letzte Änderung 01.06.2022