Negativemissionstechnologien (NET): Notwendiges Standbein der Klimapolitik

Allen Bemühungen zum Trotz wird es nicht möglich sein, die Treibhausgasemissionen auf null zu senken. Es braucht natürliche und technische Speicher, um schwer vermeidbare Emissionen auszugleichen und Netto-Null zu erreichen. Oberste Priorität hat nach wie vor die rasche Reduktion der Treibhausgase. Die Schweiz ist gut aufgestellt, um diesen Herausforderungen zu begegnen.

Text: Kaspar Meuli

Von einem «Meilenstein im Kampf gegen den Klimawandel» war die Rede, als im September 2021 die Anlage Orca eingeweiht wurde. Sie steht in Hellisheiði in Island, wurde von der Schweizer Firma Climeworks erbaut und funktioniert wie ein grosser Staubsauger. Orca dient dazu, CO2 aus der Luft abzuscheiden und unterirdisch in Basalt-gestein einzulagern. Noch nie, so das Unternehmen, sei diese Technologie weltweit in derartigen Dimensionen eingesetzt worden (die Anlage entfernt pro Jahr 4000 Tonnen CO2). Schon in einigen Jahren werde es möglich sein, Einrichtungen zu bauen, die Millionen von Tonnen des Treibhausgases aus der Atmosphäre filtern könnten.

Auch der renommierte Schweizer Klimaforscher Thomas Stocker war an der Einweihungsfeier von Orca dabei, zugeschaltet per Video von der Universität Bern. Im Gespräch rühmt er die Innovationskraft von Climeworks, dämpft aber sogleich übertriebene Erwartungen: «Nach eigenen Angaben will Climeworks im besten Fall ein Prozent der globalen CO2-Emissionen herausfiltern – ich halte das für ein ambitioniertes Ziel.»

Die Technologie, bei der das ETH-Spin-off eine führende Rolle spielt, nennt sich «CO2-Luftabscheidung und Speicherung», englisch «Direct Air Capture and Storage». Die Methode ist nur eine unter den sogenannten Negativemissionstechnologien (NET). Hinter diesem Fachbegriff steht eine simple Rechnung: Die negativen Emissionen sollen die bereits ausgestossenen Emis­sionen wieder wettmachen. Gemeint sind also Verfahren, mit denen sich CO2 aus der Atmosphäre entfernen und dauerhaft speichern lässt. NET umfassen sowohl technische als auch biologische Ansätze – im letzten Fall im Wesentlichen Wald- und Bodenmanagement sowie Einlagerung von Pflanzenkohle.

Netto-Null bis 2050 - so könnte es gehen

Die langfristige Klimastrategie des Bundesrats von Anfang 2021 zeigt, dass es grundsätzlich technisch und finanziellmöglich ist, die Treibhausgasemissionen der Schweiz bis 2050 auf Netto-Null zu senken. Dannzumal schwer vermeidbare Emissionen müssen mit CO2-Abscheidung direkt an Industrieanlagen und Speicherung (CCS) vermieden oder mit Negativ-emissionstechnologien (NET), die CO2 dauerhaft aus der Atmosphäre entfernen, ausgeglichen werden.

Netto-Null bis 2050 - so könnte es gehen
© BAFU

Nötig zum Erreichen der Klimaziele

Obwohl in der Öffentlichkeit noch wenig bekannt, sind NET ein nötiger Bestandteil der Klimapolitik. Der Weltklimarat IPCC erklärte 2018 in einem Sonderbericht, Massnahmen zur dauerhaften Entnahme von CO2 aus der Atmosphäre seien «unabdingbar», um die globale Erwärmung auf 1,5 Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu beschränken. In allen vom IPCC untersuchten Szenarien, mit denen sich dieses Klimaziel erreichen lässt, sind negative Emissionen zwingend. 

Das bedeutet: einen Einsatz von NET in sehr grossen Dimensionen. Im Verlauf dieses Jahrhunderts wären insgesamt 100 bis 1000 Milliarden Tonnen negative Emissionen nötig. Das entspricht dem 2,5- bis 25-Fachen der gegenwärtig jährlichen und weltweiten CO2-Emissionen. Kein Wunder, sehen NET-Pioniere ihre Branche künftig als «eine der grössten Industrien der Welt» (Christoph Gebald, Co-Gründer und CEO von Climeworks).

NET sind auch Teil der Schweizer Klimapolitik. Aufgrund des IPCC-Sonderberichts hat der Bundesrat im August 2019 beschlossen, das langfristige Klimaziel der Schweiz weiter zu verschärfen: Bis 2050 soll unser Land seine Treibhausgasemissionen auf Netto-Null reduzieren. Emissionen, die es dann noch gibt, müssten mit negativen Emissionen ausgeglichen werden – sofern sie nicht direkt an den Anlagen abgeschieden und gespeichert werden können. Es handelt sich dabei um «schwer vermeidbare» Emissionen insbesondere aus der Landwirtschaft oder aus der Abfallverbrennung und der Zementproduktion. Gemäss der langfristigen Klimastrategie des Bundes vom Januar 2021 gilt es, ab 2050 jährlich rund 7 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente mit NET zu entfernen. Das ist nur ein relativ kleiner Teil der nötigen Einsparungen: 2019 verursachte die Schweiz Treibhausgase in der Höhe von 46,2 Millionen Tonnen CO2-Äquivalenten.

Auch in der politischen Auseinandersetzung um die Gletscher-Initiative, über die wir in der Schweiz frühestens 2023 abstimmen, spielen NET eine zentrale Rolle. Der Bundesrat ist in seinem direkten Gegenentwurf damit einverstanden, das Netto-Null-Ziel 2050 in die Verfassung aufzunehmen. Er spricht sich jedoch gegen ein grundsätzliches Verbot fossiler Energien aus. Und er lehnt die Forderung ab, Ausnahmen von diesem Verbot müssten zwingend mit negativen Emissionen im Inland neutralisiert werden. 

Kein Weg führt an Reduktion vorbei

Obwohl negative Emissionen ein nötiger Teil der Klimapolitik sind, ist eines sicher: NET sind kein Wundermittel gegen den Klimawandel. «Ober­-ste Priorität hat nach wie vor die Vermeidung der Treibhausgasemissionen», betont Reto Burkard, Chef der Abteilung Klima im BAFU. «Daranführt kein Weg vorbei.» Mit der konsequenten Anwendung der bereits bekannten und erprobten Vermeidungstechnologien wie Wärmepumpen, Elektroautos sowie zukünftig auch CO2-Abscheidung an Anlagen samt Speicherung liessen sich 90 Prozent der Emissionen vermeiden. NET seien als «komplementäres Element» zur Emissionsminderung zu verstehen. 

Die diskutierten NET-Verfahren sind jedoch in derPraxis noch wenig erprobt oder noch nicht in einem klimawirksamen Umfang einsatzbereit. Auch könnte auf globaler Ebene der Einsatz von NET im grossen Massstab – der nötig sein wird, um die Erwärmung auf möglichst 1,5 Grad zu begrenzen – Einfluss auf den Wasserhaushalt, die Lebensmittelproduktion und die Biodiversität haben, wie der sechste Sachstandsbericht des IPCC vom August 2021 festhält. Diese Effekte hängen nicht nur vom verwendeten Verfahren ab, sondern auch stark von den lokalen Gegebenheiten. Daher setzt sich die Schweiz dafür ein, dass die Chancen und Risiken rund um den nötigen Ausbau von NET vermehrt in internationalen Foren wie dem UNO-Umweltprogramm analysiert und diskutiert werden. Mit solchen Diskussionen soll nicht nur der Wissensaustausch gefördert werden; wichtig ist auch die Frage, inwieweit eine internationale Regulierung von NET nötig ist, um negative Folgen für die Umwelt und die Bevölkerung zu vermeiden und gleichzeitig zu verhindern, dass es als Alternative zur Vermeidung von Treibhausgasen angewandt wird. Bei der Ozeandüngung etwa (durch welche  die Ozeane theoretisch noch mehr CO2 aus der Atmosphäre binden könnten, als sie natürlicherweise schon tun) hat die Staatengemeinschaft wegen der möglichen Risiken für die Meeresökosysteme bereits reagiert und vor rund zehn Jahren im Rahmen verschiedener Umweltkonventionen de facto Moratorien erlassen.

Schweiz: gute Ausgangslage

Gefragt sind also Rahmenbedingungen für einen sozial- und umweltverträglichen Ausbau der NET, national und international. «Nach aktuellem Stand des Wissens können die negativen Emissionen, die voraussichtlich nötig sind, nicht nachhaltig mit einem einzigen Verfahren erbracht werden», sagt Reto Burkard vom BAFU. Es brauche dazu eine breite Palette an verschiedenen Verfahren. Die langfristige Klimastrategie zeigt für die Schweiz auf, wie diese Palette konkret und in einer nachhaltigen Form aussehen könnte.

Die Schweiz sei dank ihrer Forschungs- und Innovationskraft gut aufgestellt, um eine wichtige Rolle bei der Entwicklung dieser Technologien einnehmen zu können, heisst es in einem Bericht des Bundesrats vom September 2020 zur Bedeutung von negativen CO2-Emissionen für die künftige Schweizer Klimapolitik. Er empfiehlt, die Rahmenbedingungen für den Ausbau der NET zu schaffen. Mit den richtig gesetzten regulatorischen Anreizen könnten sich für innovative Akteure aus der Forschung und Wirtschaft breit gefächerte Ent-wicklungs- und Geschäftsfelder ergeben. 

Für staatliche Unterstützung wirbt auch Christoph Gebald von Climeworks. Bei der Eröffnung von Orca in Island erklärte er, nun brauche es unter anderem Fördergelder, um den NET zum Durchbruch zu verhelfen. So wie damals beim Ausbau der Photovoltaik.

Solar Radiation Management

Nicht zu verwechseln sind die NET mit dem sogenannten Strahlungsmanagement SRM (Solar Radiation Management). Damit sind Massnahmen gegen die Erwärmung der Erdoberfläche gemeint. Die Idee: Indem beispielsweise Partikel in die Atmosphäre eingebracht werden, wird mehr Sonneneinstrahlung reflektiert. NET und SRM wurden früher oft unter dem Begriff «Geoengineering» zusammengefasst, was zu Missverständnissen führte. Nur etwas haben die Konzepte gemein: Beide setzen für den Klimaschutz nicht bei den Quellen der Treibhausgasemissionen an. Sonst aber unterscheiden sich die Konzepte fundamental: NET wollen die erhöhte CO2-Konzentration absenken; SRM zielt auf die Strahlungsbilanz der Erde ab, die den globalen Temperaturanstieg verursacht. Aber: SRM ist wegen seiner ungewissen Auswirkungen auf die Umwelt höchst umstritten.

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Letzte Änderung 01.06.2022

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