Ökologische Ersatzmassnahmen: Ein Grossprojekt auf dem Prüfstand

Die Bahn-2000-Neubaustrecke Mattstetten–Rothrist beeinträchtigt in der Brunnmatte einen kostbaren Lebensraum. Um den Verlust für die betroffene Natur zu kompensieren, musste die SBB ökologische Ersatzmassnahmen ergreifen. Wie die während 10 Jahren nach der Inbetriebnahme durchgeführte Erfolgskontrolle zeigt, sind die Ziele «teilweise erreicht».

Text: Hansjakob Baumgartner 

Am Eingang der Unterführung duckt man sich unwillkürlich. Die Passage, welche das Bahntrassee der SBB durch die Brunnmatte bei Roggwil (BE) quert, scheint knapp hoch genug zu sein für einen Menschen, um sie im aufrechten Gang zu begehen. Oben donnern im Minutentakt Züge über die Geleise, unten rieselt ein Bächlein durch und lässt nur einen morastigen Randbereich frei für die Passage. Und doch zeigen diverse Pfotenabdrücke sowie die Fährte eines Rehs, dass mehrere Arten den Wildtierdurchlass in den letzten Tagen begangen haben.

Eine jahrhundertealte Kulturlandschaft

Die Bahnlinie durch die Brunnmatte liegt an der Neubaustrecke zwischen Mattstetten (BE) und Rothrist (AG). Als Teil des Projekts Bahn 2000 zerschneidet sie einen wertvollen Lebensraum, der zugleich das Relikt einer alten Kulturlandschaft bildet. Mönche des Klosters St. Urban (LU) schufen hier bereits im 13. Jahrhundert ein verzweigtes System von Gräben und Schleusen, das eine kurzfristige Überflutung der Wiesen nach bestimmter Kehrordnung ermöglichte. Dabei wurden die Böden bewässert und zusätzlich mit den Nährstoffen des Bachwassers gedüngt. Solche Wässerwiesen waren im Tiefland der Schweiz einst weitverbreitet, doch nirgendwo sind sie so schön erhalten geblieben wie in der Brunnmatte.

Als die SBB in den 1990er-Jahren die Pläne der Neubaustrecke präsentierte, stiess sie denn auch auf starken Widerstand. Das BUWAL – wie das BAFU damals noch hiess – taxierte die Linienführung durch die Brunnmatte als nicht umweltverträglich, und der Kanton Bern forderte eine Tunnellösung. Doch die Kosten dafür waren zu hoch. Und so einigte man sich auf einen Kompromiss, der vor Ort umfangreiche ökologische Ersatzmassnahmen für den Eingriff in die Natur und Landschaft vorsah. Mit einer Landumlegung sicherte sich die SBB die dafür notwendige Fläche.

Neue Lebensräume und Wildtierdurchlässe

Dadurch konnten in der Brunnmatte – neben den extensiv bewirtschafteten Feuchtwiesen – neue Weiher, Tümpel und wechselfeuchte Mulden entstehen. Man hat Bachabschnitte renaturiert, Hecken gepflanzt und unter dem Bahntrassee zwei grössere Wildtierdurchlässe sowie eine Röhrenquerung für Kleintiere gebaut. Und schliesslich säte die SBB an den Bahnböschungen – auch ausserhalb der Brunnmatte – magere Trockenwiesen an. Dann trat noch der Biber in Aktion. In mehreren Bächen entlang der Neubaustrecke errichtete er Dämme, wodurch sich neue Flachgewässer und vernässte Wiesen gebildet haben.

52 Zielarten

Doch was hat all dies der Natur gebracht? Die SBB wurde verpflichtet, nach Inbetriebnahme der Neubaustrecke während 10 Jahren eine Erfolgskontrolle der ökologischen Massnahmen durchzuführen, die sie 2016 abschliessen konnte. Den Massstab für den Erfolg bilden 52 Zielarten, die einst im Gebiet vorkamen, wobei der letzte Nachweis bei einigen schon etliche Jahre zurückliegt. Sind diese Vögel, Säugetiere, Reptilien, Amphibien, Fische, Heuschrecken, Libellen und Tagfalter nach dem Bau noch da oder gar wieder zurückgekehrt? Auch auf 6 zusätzlichen Testflächen der neuen Bahnböschungen ausserhalb der Brunnmatte, auf denen Trockenwiesen grünen, haben Fachleute die Fauna derselben Artengruppen inventarisiert. Die Erfassung der Fische mittels Elektrofanggerät übernahm Joachim Guthruf vom Büro Aquatica, während sich die Biologen Paul Mosimann und Stephan Strebel um die Aufnahme der restlichen Fauna kümmerten. In den drei Erhebungsjahren 2007, 2011 und 2015 waren sie jeweils mehrmals im Gelände unterwegs.

Der Biber hat mitgeholfen

Bei 37 der 52 Zielarten sind die Fachleute in mindestens einem Erhebungsjahr fündig geworden, wobei es einige überaus erfreuliche Beobachtungen gab:

  • Die Helm-Azurjungfer, eine europaweit vom Aussterben bedrohte Libellenart, hat in der Brunnmatte den Bau des neuen Bahntrassees überlebt. Die Biologen konnten sie bei allen drei Erhebungen nachweisen, wenn auch in geringer Zahl.
  • Mauereidechse, Zauneidechse und Blindschleiche fühlen sich wohl in den eigens für sie angelegten Steinriegeln und Asthaufen entlang der Bahnböschungen. Auch die Ringelnatter ist in der Brunnmatte immer noch gut vertreten.
  • Von den Zielarten unter den Amphibien sind Wasserfrosch, Grasfrosch, Erdkröte und Bergmolch nach wie vor zugegen. Sie haben sowohl von den Ersatzmassnahmen wie auch von der Biberaktivität profitiert.
  • Auch bei den Fischen gibt es gute Nachrichten: In allen drei Erhebungsjahren konnte Joachim Guthruf Bachforellen und Groppen fangen. «Die Renaturierung des Brunnbachs hat sich sehr positiv auf die Fischfauna ausgewirkt», sagt der Fischereibiologe. «Das hohe Potenzial des Gewässers als Fischlebensraum liesse sich noch besser ausschöpfen, wenn ein bestehendes Wanderhindernis zur nordöstlich der Brunnmatte durchfliessenden Murg beseitigt würde.»
  • Für eine positive Überraschung bei der Fischbestandskontrolle sorgte zudem ein Tier, das nicht zu den Zielarten zählt: 2006 hat man im Brunnbach ein Bachneunauge gefangen. 2011 und 2015 konnte die Anwesenheit der stark gefährdeten Art in den Gewässern der Brunnmatte zwar nicht mehr bestätigt werden, doch erfolgte ein Nachweis im südlich gelegenen Weiherbach, der mit dem Brunnbach verbunden ist.
  • Mehrere Arten, die 2007 noch fehlten, liessen sich bei den Folgeerhebungen beobachten, so etwa der bedrohte Malven-Dickkopffalter und der Schachbrettfalter. Auch der Gesang des Teichrohrsängers ist seit 2011 wieder in der Brunnmatte zu hören. 2015 brütete in einer neu gepflanzten Hecke erstmals ein Paar des Neuntöters, und im gleichen Jahr trat das Teichhuhn neu als Brutvogel auf.
  • In den Trockenlebensräumen entlang der Bahnböschung sowie in der Brunnmatte haben sich diverse wärmeliebende Tagfalter- und Heuschreckenarten niedergelassen.

Wildtiere gehen unten durch

Fotofallen und Spuren zeigen, dass Reh, Fuchs, Dachs und Marder die Durchlässe unter den Bahngeleisen regelmässig passieren. Einmal wurden sogar Wildschweinfährten festgestellt. Auch Amphibien können dank der Querungen die Seite wechseln, und wo ein Bach hindurchfliesst, nutzen Fische sie als Wanderroute und Lebensraum. Die Bahn durch die Brunnmatte ist somit keine absolute Barriere für den Wildtierverkehr. Hilfreich dürften hier die in der Mitte der Durchgänge eingebauten Lichtschächte sein.

Es gibt indessen auch Verlierer wie den Sumpfgrashüpfer. Die bedrohte Heuschreckenart hat sich aus der Brunnmatte verabschiedet. «Sie kam genau da vor, wo inzwischen die Neubaustrecke durchführt», erklärt der mit der Erfolgskontrolle beauftragte Biologe Paul Mosimann den Verlust. Zudem ist bei einigen Arten, die bereits vor dem Baubeginn aus der Brunnmatte verschwunden waren, die erhoffte Rückkehr bisher ausgeblieben. Dies betrifft zum Beispiel die Feldlerche, den Gartenrotschwanz oder – bei den Tagfaltern – den Dunklen Moorbläuling. Andere wie die Wasserspitzmaus und der Feldhase waren anfänglich noch da, doch liessen sie sich 2015 nicht mehr beobachten. Auch für den Kiebitz reichten die Ersatzmassnahmen nicht, um ihm die Rückkehr in die Brunnmatte als Brutvogel zu ermöglichen. «Angesichts der Biotopansprüche dieses Vogels sowie der stark geschrumpften Verbreitung in der Schweiz war dieses Ziel auch nicht realistisch», räumt Paul Mosimann ein.

Die Zukunft hängt von der Pflege ab

Gesamthaft gesehen, seien die Ziele der Ersatzmassnahmen «zum Teil erreicht» worden, heisst es im Abschlussbericht zur Erfolgskontrolle. «Die weitere Entwicklung hängt […] massgeblich von der zukünftigen Nutzung und Pflege ab.» Das ursprünglich nur 4 Hektaren grosse Naturschutzgebiet Mumenthaler Weiher konnte durch den Landerwerb in der angrenzenden Brunnmatte auf 44 Hektaren erweitert werden. Damit ist es heute eines der grössten Schutzgebiete in der Region. Die Pflege übernehmen die betroffenen Landwirte gemäss langfristigen Verträgen. Sie besteht im Wesentlichen in der richtig terminierten Mahd der Wässermatten. Im Bericht finden sich auch mehrere Vorschläge für eine optimierte Gestaltung und Pflege. Hohe Priorität hat eine Massnahme zur Erhaltung der Helm-Azurjungfer. Diese Libellenart hat in der Brunnmatte und in deren weiteren Umgebung ihren landesweiten Verbreitungsschwerpunkt. Die Larven entwickeln sich in gut besonnten, krautbewachsenen Gräben. Nach dem Schlüpfen lassen sich die Libellen in der Ufervegetation nieder. Dort kann ihr Körper ausreifen, was einige Tage dauert. Ein 5 Meter breiter Saum entlang der Laichgewässer sollte deshalb nicht gemäht werden. Weitere als dringend eingeschätzte Massnahmen betreffen die Aufwertung verschiedener Flachgewässer.

Um den Unterhalt der Trockenlebensräume an den Bahnböschungen kümmert sich die SBB in eigener Regie. Anfänglich hat sie die Wiesen alljährlich geschlegelt, das heisst, die Gräser und Kräuter wurden maschinell zerstückelt und anschliessend als Mulch liegen gelassen. Die Methode ist zeitsparend, für die Kleintierfauna aber überaus destruktiv. Während bei einer Mahd mit dem Balkenmäher die meisten Tiere in Bodennähe oder oberhalb des Schnitthorizontes überleben, betragen die Verluste beim Einsatz von Schlegelmulchgeräten nach Angaben der landwirtschaftlichen Beratungszentrale Agridea 35 bis 70 Prozent. Die biodiversitätsfördernde Wirkung der mit hohem Aufwand angelegten Trockenlebensräume wird damit teilweise wieder zunichtegemacht.

Von den Biologen der Erfolgskontrolle darauf hingewiesen, änderte die SBB das Vorgehen. «Die ökologisch besonders wertvollen Böschungen werden heute gemäss Empfehlung abschnittsweise im Zweijahresrhythmus gemäht», erklärt Peter Vögeli, Projektleiter Umwelt bei SBB Infrastruktur. Das Schnittgut wird abgeführt.

Schlüsse für künftige Projekte

Aus den Befunden der Erfolgskontrolle zieht Paul Mosimann auch Schlüsse für ökologische Ersatzmassnahmen bei künftigen Grossprojekten. Einerseits plädiert er für eine besser durchdachte Bestimmung der Zielarten. «Eine sinnvolle Auswahl umfasst Arten, für die das Projekt zwar Nachteile bringt, denen aber auch tatsächlich geholfen werden kann.» Die ökologischen Ersatzmassnahmen seien dann gezielt auf deren Bedürfnisse auszurichten, und sie sollten sich räumlich nicht auf die unmittelbare Umgebung der neu gebauten Infrastrukturanlage beschränken. «Fördern muss man Arten da, wo ein Potenzial für sie besteht. Das kann auch anderswo in der Region sein.» So wie beim Bau der Umfahrungsstrasse T10 im Berner Seeland, wo Ersatzmassnahmen im gesamten Grossen Moos – und nicht einfach entlang der neuen Strasse – umgesetzt wurden.

«Die SBB-Neubaustrecke Mattstetten–Rothrist ist das erste Bahnprojekt, bei dem die ökologische Erfolgskontrolle auf der Grundlage eines Zielartenkonzeptes im grossen Rahmen und über einen längeren Zeitraum durchgeführt wurde», sagt Laurence von Fellenberg von der BAFU-Sektion Landschaftsmanagement. «Das Vorgehen war wegweisend für spätere Projekte.» So wurden zum Beispiel auch beim Bau des Lötschbergbasistunnels für die Interventionsstelle Süd in Raron (VS) sowie für die Ersatzmassnahme Wolfeia Zielartenkonzepte erstellt und die Erfolgskontrolle danach ausgerichtet. «Wie die Erfahrungen lehren, stösst man bei der Umsetzung der verlangten Ersatzmassnahmen freilich auch an Grenzen», stellt Laurence von Fellenberg fest. «Es gibt offensichtlich Lebensräume, die sich selbst mit grossem Aufwand und auch bei einer vorbildlichen Umsetzung nicht vollständig ersetzen lassen. Deshalb muss ihr umfassender Schutz grundsätzlich Vorrang haben.»

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Letzte Änderung 28.08.2017

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