Neue WHO-Richtlinien für Luftschadstoffe - «Die Menschen gehen für gute Luft auf die Strasse»

01.06.22 - Nino Künzli, Mediziner und Umweltepidemiologe, hat die neuen Richtlinien für Luftschadstoffe der Weltgesundheitsorganisation (WHO) mitentwickelt. Ein Gespräch über beunruhigende wissenschaftliche Erkenntnisse, die Rolle der Musterschülerin Schweiz und zur Frage, warum er trotzdem hoffnungsvoll bleibt.

Interview: Peter Bader

Nino Künzli erforscht als promovierter Mediziner und Umweltepidemiologe seit 30 Jahren die Auswirkungen der Luftverschmutzung auf die menschliche Gesundheit. Seit 2009 tut er dies am Schweizerischen Tropen- und Public-Health-Institut in Basel, dessen Vizedirektor er bis 2020 war. Als einziger Schweizer Wissenschaftler war Nino Künzli Mitglied der interkontinental besetzten Entwicklungsgruppe der WHO-Luftqualitätsrichtlinien. Die Eidgenössische Kommission für Lufthygiene (EKL), deren Präsident er ist, wird dem Bundesrat bis Mitte 2023 Empfehlungen für die Umsetzung der neuen WHO-Richtlinien abgeben. Diese könnten in eine weitere Revision der Luftreinhalte-Verordnung (LRV) münden.
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Wissen Sie eigentlich immer, wie gut die Luft ist, die Sie gerade einatmen?

Nino Künzli: Ja, meist schon. Nicht, dass ich jedes Mikrogramm an Luftschadstoffen bemerke, aber nach 30 Jahren in diesem Beruf bin ich dafür sensibilisiert und kenne auch die Hotspots in vielen Ecken der Welt. Und man riecht es ja auch: Von 2002 bis 2005 lebte ich in Kalifornien, das in Sachen Luftreinhalte-Gesetzgebungen seit Jahren weltweit führend ist. Als ich in jener Zeit auf Besuch in Europa war, stach mir der «heimische» Dieselgestank in den Städten jeweils sofort in die Nase.

Gemäss Angaben des Bundes sterben in der Schweiz jährlich rund 2000 Menschen an den Folgen von Luftverschmutzung. Wie zuverlässig sind diese Zahlen?

Es sind Hochrechnungen mit den heute zuverlässigsten Methoden. Natürlich sind das nicht personalisierte Zahlen, es geht nicht um den Tod von Frau Wyler oder Herrn Müller. Das sind Berechnungen, die auf inzwischen sehr zahlreichen globalen Studien beruhen. Sie quantifizieren die Auswirkungen der Luftverschmutzung auf Folgekrankheiten und übertragen sie auf die Belastungssituation in der Schweiz. Nach den gleichen Methoden werden etwa auch die Zahlen für die jährlichen «Rauchertoten» berechnet. Auf Initiative von Altbundesrat Adolf Ogi konnten wir hier in Basel 1996 die Methode zur Berechnung der Zahlen zur Luftverschmutzung entwickeln. Die Berechnungen sind global zu einem eindrücklichen Kommunikationsmittel geworden, um die Folgen der Luftverschmutzung zu veranschaulichen.

Nun wurden erstmals nach 2005 die Luftqualitätsrichtlinien der Weltgesundheitsorganisation (WHO) angepasst und neu festgelegt. Warum?

Eigentlich sollte man die Zahlen alle 5 bis 10 Jahre aktualisieren. Aufgrund von fehlenden Ressourcen bei der WHO hat sich das Projekt etwas verzögert. Zudem mussten wir die Methodik minuziös überarbeiten, da die WHO strenge Vorgaben macht für die Entwicklung von Richtwerten. In den letzten 10 bis 15 Jahren wurden sehr breit angelegte Langzeitstudien mit zum Teil mehreren Hunderttausend Teilnehmerinnen und Teilnehmern publiziert. Daran waren auch Regionen mit sehr geringer Schadstoffbelastung wie zum Beispiel die Schweiz, Skandinavien oder Kanada beteiligt. Dabei hat sich gezeigt, dass Luftschadstoffe der Gesundheit auch bei sehr geringen Konzentrationen schaden, die weit unter den bisherigen Richtwerten liegen.

Eine beunruhigende Erkenntnis.

Dass es wohl keine «unschädlichen Schwellenwerte» gibt, hatte man 2005 zwar geahnt, aber beweisen konnten wir es nicht. Bei den Hochrechnungen zeigt sich, dass Feinstaub nach wie vor am stärksten zum Problem beiträgt. So sind die dem Ozon angelasteten Folgen bei uns ungefähr zehnmal geringer. Der Feinstaub ist ein sehr effizientes Transportmittel für Tausende von anderen toxischen Substanzen. Es ist absolut richtig, dass er im Zentrum der internationalen Luftreinhaltepolitik der vergangenen 15 Jahre stand. Global gesehen wird es auch weiterhin sehr effizient sein, insbesondere die Feinstaubbelastung zu reduzieren.

Wie sieht es bei den anderen Luftschadstoffen aus?

Auch Stickoxide, Schwefeldioxide und Ozon schaden der Gesundheit. Schwefeldioxid ist in der Schweiz praktisch kein Problem mehr, global gesehen besteht aber weiterhin Handlungsbedarf.

Die Schweiz hält heute alle WHO-Grenzwerte von 2005 ein, bis auf den von Ozon. Warum?

Ozon ist ein Spezialfall, weil seine Entstehung in der Atmosphäre äusserst komplex und deshalb schwer zu beeinflussen ist. Hinzu kommt, dass die Ozonkonzentration von anderen Luftschadstoffen abhängt. Stickoxidmoleküle zum Beispiel «fressen» Ozon. Senken wir also den Stickoxidgehalt, kann derjenige von Ozon ansteigen. Zwar wurden die Spitzen des Sommersmogs gebrochen, aber die mittlere Belastung hat auch in ganz Europa kaum abgenommen.

Welche Note geben sie der Schweizer Luftreinhaltepolitik der vergangenen 15 Jahre?

Der globale Musterschüler ist diesbezüglich wie gesagt Kalifornien. Wenn der US-Bundesstaat also eine 6 bekommt, gebe ich der Schweiz eine 5,5. Die Schweizer Luftreinhaltepolitik ist sehr gut aufgestellt, die Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen funktioniert. Ich bin sicher, dass wir auch die neuen WHO-Richtlinien einhalten werden, insbesondere was Feinstaub und Stickoxide betrifft. Aber wir müssen dranbleiben, denn in manchen Kantonen wurden in den vergangenen Jahren entsprechende Ressourcen abgebaut. Und im politischen System der Schweiz braucht es üblicherweise einen Effort sowie Überzeugungsarbeit bei den Branchenorganisationen und Wirtschaftsverbänden. Das Engagement für gute Luft lohnt sich in jedem Fall: Die eingangs erwähnte Zahl von 2000 Menschen, die hierzulande vorzeitig an den Folgen der Luftverschmutzung sterben, lässt sich weiter senken. Vor 25 Jahren wurden jährlich etwa 3500 Todesfälle der Luftverschmutzung angelastet.

Ein grosses Problem ist die Unverbindlichkeit der WHO-Richtlinien: Weltweit haben nur gerade sieben Länder die Richtlinien von 2005 in ihre Gesetzgebung aufgenommen, von der konkreten Umsetzung ganz zu schweigen. Das ist eine sehr ernüchternde Bilanz.

Ja, die WHO muss sich dem Umstand stellen, dass ihre wissenschaftlich basierten Referenz-werte in den meisten Ländern ignoriert werden. Es braucht eine globale Umsetzungsstrategie. Da viele Elemente der Luftreinhaltepolitik auch dem Klimaschutz dienen, besteht immerhin Hoffnung auf eine Wende. Es darf auch nicht übersehen werden, dass die Bevölkerung in schwer belasteten Mega-Städten heute besser informiert ist und sich über die Luftverschmutzung auch beklagt – man riecht und sieht ja den Smog. So gehen die Menschen auch mit der Forderung nach guter Luft auf die Strasse.

Welches sind weltweit die grössten Sünder?

Viele denken zuerst an China. Aber China hat wohl den Peak überschritten und reduziert die Luftbelastungen mit ambitiösen Plänen. Schwer belastete Metropolen in Indien, der Mongolei oder in Afrika machen mir grössere Sorgen. Und auch die Europäische Union hat in der Luftreinhaltepolitik der letzten 25 Jahre eine sehr zwiespältige Rolle gespielt. Insbesondere die Automobilindustrie-Nationen haben sich viel zu lange vehement gegen die Übernahme der Feinstaubgrenzwerte und die zügige Einführung von Partikelfiltern gewehrt. In den umliegenden Ländern geht die Luftverschmutzung deshalb deutlich langsamer zurück als in der Schweiz.

Also ist die drängendste Frage, wie sich solche Länder dazu bringen lassen, die Luftverschmutzung dezidiert anzugehen?

Ja – eigentlich brauchen wir mehr Forschung zu dieser politikwissenschaftlichen Frage als zu den Luftschadstoffen selbst. Ein sinnvoller Weg kann die Entwicklungszusammenarbeit sein. Die Schweiz hat über die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) bereits mehrere internationale Projekte umgesetzt. In Asien oder Südamerika konnten zum Beispiel durch Nachrüsten von Bussen oder Lastwagen mit Partikelfiltern Erfolge erzielt werden. Die Schweiz könnte «Luftreinhaltung» als umfassende Expertise global exportieren.

Trotzdem sind die internationalen Aussichten bezüglich Luftqualität ziemlich düster. Einverstanden?

Ja und nein. Sicher ist: Der Graben zwischen den Habenden und den Nicht-Habenden wird sich weiter vertiefen. Das liegt auch an den reichen Industrieländern. In manchen Ländern in Asien, Afrika und Südamerika ist die Luftqualität auch deshalb sehr schlecht, weil reiche Nationen veraltete Technologien in Staaten exportieren, welche dem Umweltschutz – und somit der Gesundheit der Bevölkerung – nicht Rechnung tragen. Umweltbelastende Rohstoffgewinnung oder der Export von ausgedienten, im Norden nicht mehr zugelassenen Fahrzeugen sind nur zwei von vielen Missständen, die zur Luftverschmutzung in weniger reichen Ländern beitragen.

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Letzte Änderung 01.06.2022

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