Erfahrungen und Lehren aus dem Umgang mit Hochwasser

Seit 2005 hat sich strukturell einiges verändert, sodass die Schweiz heute in einer ähnlich gravierenden Situation besser vorbereitet und organisiert ist. Vertreter verschiedener Bundesfachstellen, Kantone und Gemeinden beschreiben Instrumente und Abläufe, die in den vergangenen zehn Jahren eingeführt oder optimiert wurden: Christoph Hegg (WSL), Peter Binder (MeteoSchweiz), Bernhard Wehren (Kanton Bern), Martin Tschannen (Kanton Aargau), Martin Buser (BAFU) und Martin Odermatt (Gemeinde Engelberg).

Christoph Hegg
Christoph Hegg

Christoph Hegg, stellvertretender Direktor der eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL:

«Seit 1972 erfassen wir systematisch alle Unwetterschäden, und die weiter zurückliegenden haben wir so gut wie möglich aufgearbeitet. Diese Statistik ist eine wichtige Grundlage für die Gefahrenkartierung. Ausserdem haben wir Methoden zur Gefahrenbeurteilung entwickelt und Modelle für den Geschiebetransport, den Wasserabfluss und für Murgänge erarbeitet. Damit lässt sich abschätzen, mit wie viel Material in einem Einzugsgebiet zu rechnen ist. Für kurzfristige Massnahmen sind unsere Schneeschmelzprognosen wichtig, die das BAFU in seine Abflussmodelle integriert. Wir führen auch selber Abflussvorhersagen durch, komplementär zu jenen des BAFU, etwa wenn eine höhere zeitliche oder räumliche Auflösung erforderlich ist.»

Peter Binder
Peter Binder

Peter Binder, Direktor des Bundesamtes für Meteorologie und Klimatologie MeteoSchweiz:

«Wenn es zu Hochwasser kommt, steht MeteoSchweiz am Anfang der Kette. Daher müssen wir Menge und Verlauf des Niederschlags so präzise wie möglich vorhersagen können. Das OWARNA-Projekt im Zug der Überschwemmungen von 2005 hat Mittel freigesetzt, um zwei neue Wetterradarstationen zu errichten und das Messnetz am Boden auszubauen. Auch unser Prognosemodell hat sich seither verfeinert: Während es im Jahr 2005 mit einer räumlichen Auflösung von 7 auf 7 Kilometern arbeitete, erreichen wir nächstes Jahr eine Auflösung der Maschenweite von einem Quadratkilometer. Das ermöglicht uns, topografische Strukturen besser abzubilden und räumlich differenzierte Prognosen zu berechnen. Trotzdem bleiben Vorhersagen mit einer Unsicherheit behaftet; daher werden jetzt auch vermehrt die Wahrscheinlichkeiten angegeben, mit der eine Prognose eintreffen wird.»

Bernhard Wehren
Bernhard Wehren

Bernhard Wehren, Leiter Seeregulierung des Kantons Bern:

«Der Thunersee erreichte 2005 einen noch höheren Pegel als beim schweren Hochwasser von 1999. Entsprechend gross waren die Probleme - auch bei den Anliegern weiter unten am Lauf der Aare. Der Kanton Bern hatte aufgrund der Erfahrungen von 1999 bereits mit den Projektierungsarbeiten für einen neuen Hochwasserentlastungsstollen begonnen, um die Abflusskapazität des Thunersees zu vergrössern. Das Hochwasser 2005 hat dann deutlich gemacht, dass diese Pläne möglichst rasch umgesetzt werden müssen. Der 2009 fertiggestellte Hochwasserentlastungsstollen und die neu geschaffene Möglichkeit für temporäre, vorausschauende Absenkungen des Sees haben sich seither bewährt. Eine zentrale Rolle spielen dabei auch die meteorologischen und hydrologischen Prognosen des Bundes.»

Martin Tschannen
Martin Tschannen

Martin Tschannen, stellvertretender Leiter der Sektion Wasserbau und Hochwasserbeauftragter Kanton Aargau:

«Als Unterliegerkanton sind wir darauf angewiesen, dass die Seen als Auffangbecken dienen können, wenn die Flüsse viel Wasser führen. Das heisst, dass die Seen rechtzeitig abgesenkt werden müssen, um das erforderliche Fassungsvermögen zu schaffen. Hier kann der Bund die Kantone mit zuverlässigen Prognosen unterstützen und vorausschauend koordinieren. Beim Hochwasser vom Mai 2015 hat das hervorragend geklappt, und ich kann den Berner Kollegen nur ein Kränzchen winden. Die grossen Überschwemmungen im Jahr 2005 haben dazu geführt, die Gefahrenkartierung zu beschleunigen und bis 2011 abzuschliessen. Die beiden grossen Schadensplätze im Aargau sind saniert. Was damals an der Wigger bei Brittnau und in Unterwindisch an der Reuss passiert ist, kann sich nicht wiederholen.»

Martin Buser, Verantwortlicher für Krisenbewältigung und Notfallkonzepte in der Sektion Risikomanagement des BAFU:

«Beim Hochwasser 2005 wurde klar, dass namentlich bei den kleineren Gemeinden das Fachwissen vor Ort nicht vorhanden war, um aus den Wetter- und Abflussprognosen die richtigen Schlüsse zu ziehen. Daher bietet der Bund nun Unterlagen für die Kantone an, damit diese lokale Naturgefahrenberaterinnen und -berater ausbilden können. Wäre es bereits 2005 gelungen, die Prognosen auf die Gemeinden herab zu brechen, hätten beispielsweise Fahrzeuge rechtzeitig in Sicherheit gebracht werden können; das allein hätte Schäden in der Höhe von gut 90 Millionen Franken verhindert. Auch die Anwohnerinnen und Anwohner müssen wir einbinden - denn sie sind das schnellste «Einsatzelement», über das wir verfügen, und sie können oft mit kleinen Massnahmen wie etwa Sandsäcken am richtigen Ort Schäden verhindern.»

Martin Odermatt
Martin Odermatt

Martin Odermatt, Gemeindepräsident Engelberg:

«Selbst die Ältesten in unserer Gemeinde konnten sich nicht erinnern, je so gewaltige Wassermassen wie im August 2005 gesehen zu haben; das hatte sich schlicht niemand vorstellen können. Mit entsprechenden Informationen hätten wir möglicherweise Baumaschinen an bestimmte Brücken gestellt: Von einigen wussten wir, dass ihr Durchflussquerschnitt knapp bemessen war, und wir hätten versuchen können, Geschiebe und Holz aus dem Bett zu räumen. Allerdings entstanden dann die grössten Schäden dort, wo wir nicht damit gerechnet hatten. Ein Schutzengel hat verhindert, dass wir Todesopfer zu beklagen hatten. Das hat uns geholfen, alles andere besser zu verkraften. Die Bevölkerung hat zusammengehalten und geholfen, wo sie nur konnte. Und alle Sofortmassnahmen gingen unbürokratisch und schnell über die Bühne. Innerhalb von 10 Tagen war eine Notstrasse errichtet, die Hangrutsche konnten schnell verbaut werden, und bis zum Jahresende waren die Rüfen-Projekte alle umgesetzt. Beim Bund und beim Kanton, auf allen Ebenen, hat man am gleichen Strick gezogen. Das war eine lehrreiche Zeit, und wohl die intensivste in meiner politischen Karriere.»

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Letzte Änderung 14.08.2015

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