02.09.2019 – Chlor steckt in vielen Produkten, die wir täglich brauchen: so zum Beispiel in Kunststoffen, Pflanzenschutzmitteln oder Reinigungsprodukten. Das zur Herstellung dieser Produkte benötigte Chlorgas ist allerdings giftig. Zwei grosse Chemiefabriken im Wallis beziehen Chlorgas aus dem Ausland, insbesondere aus Frankreich. Dass dabei die Chemikalie mit der Bahn durch dicht besiedeltes Gebiet fährt, bereitet den dort lebenden Menschen Sorgen. Diese werden von den Beteiligten und den Behörden ernst genommen.
«Sicherheitsziele für Gefahrguttransporte auf der Schiene erreicht», verkündete die Medienmitteilung des Bundesamtes für Verkehr im Dezember 2011. Eine Analyse hatte gezeigt, dass es auf den Strecken, die von Zügen mit Chlorkesselwagen befahren werden, keinen einzigen Bahnabschnitt mit untragbaren Personenrisiken mehr gab.
Zu verdanken war diese Verbesserung verschiedenen Massnahmen, die von der chemischen Industrie, der SBB und dem Eidgenössischen Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation UVEK 2002 in einer ersten gemeinsamen Erklärung festgehalten und anschliessend umgesetzt worden waren. Noch im Jahr 2004 waren mehrere Streckenabschnitte von insgesamt 34 Kilometern Länge mit einem «nicht tragbaren Personenrisiko» behaftet.
Nur wenige Jahre später beschlossen die beteiligten Parteien in einer zweiten Gemeinsamen Erklärung, die Risiken der Chlortransporte nach deutlich strengeren Kriterien zu beurteilen als diejenigen anderer Gefahrgüter. Gerade die absehbare Bevölkerungszunahme im Genferseebogen liess es ratsam erscheinen, beim Transport des stark toxischen Gases sehr strenge Vorgaben einzuhalten. Sie vereinbarten freiwillig und in Eigenverantwortung weitere Vorkehrungen zu treffen, um das – zwar bereits geringe - Risiko eines Unfalls weiter zu minimieren.
- Sonderzüge für Chlortransporte und reduzierte Geschwindigkeiten
- Keine Konzentration der Risiken auf einer einzigen Strecke
- Betriebliche Optimierungen
- Aktuell sicherste Kesselwagen
- Kritische Hindernisse überprüft und entfernt
- Neue Wege zur Risikoverminderung werden laufend geprüft
- Verursacher tragen die Kosten
- Interview mit BAFU-Vizerirektor Paul Steffen
Ergebnis einer ausdauernden Zusammenarbeit
Im Sinne des Vorsorgeprinzips haben die chemische Industrie, die SBB, die verladende Wirtschaft und die Behörden in der «Gemeinsamen Erklärung II» zusätzliche Massnahmen definiert, die das Risiko beim Chlortransport weiter reduzieren sollen. Die meisten davon wurden bereits realisiert, wenige sind noch schrittweise umzusetzen. Dank des technischen Fortschritts sollen auch künftig noch weitere Verbesserungen erzielt werden.
Sonderzüge für Chlortransporte und reduzierte Geschwindigkeiten
Mit dem Fahrplanwechsel 2017/18 hat die SBB für den Chlortransport aus Frankreich einen Sonderzug eingeführt, der einmal wöchentlich die Walliser Industriebetriebe mit Chlorgas versorgt. Auf den Fahrplanwechsel 2018/19 hat sie zudem festgelegt, dass Chlor netzweit nur noch in Sonderzügen mit einer Höchstgeschwindigkeit von 40 km/h transportiert werden darf.
Allein dank der tieferen Fahrgeschwindigkeit konnte das Risiko einer Chlorgasfreisetzung um rund das Zehnfache gesenkt werden. Die Chlorkesselwagen sollten dabei alle an der Spitze der Sonderzüge eingereiht werden. Damit kann eine allfällige Gefährdung der Kesselwagen durch eine Entgleisung eines technisch schlechteren Waggons, der zwischen den Chlorkesselwagen mitläuft, ausgeschlossen werden.
Keine Konzentration der Risiken auf einer einzigen Strecke
Eine weitere Massnahme bestand darin, nach alternativen Bezugsquellen für Chlor und damit nach anderen Transportwegen zu suchen. Damit sollen grössere, dicht besiedelte Agglomerationen entlastet werden. Dank einem neu vereinbarten Bezug aus Italien konnte die Menge an Chlor, die aus Frankreich importiert wird, bedeutend verringert werden. Statt rund 380 werden aktuell jährlich noch rund 300 Chlorkesselwagen über den dicht besiedelten Genferseebogen befördert.
Betriebliche Optimierungen
Ein Erfolg ist auch, dass der Rangierbahnhof in La Praille, ein Sackbahnhof, nicht mehr angefahren wird und damit eine Doppelbefahrung eines im Zentrum von Genf liegenden Streckenabschnitts aufgehoben werden konnte. Wegen der unterschiedlichen Stromsysteme von Frankreich und der Schweiz muss die Lokomotive gewechselt werden, was bis 2015 wie bei allen Güterzügen in La Praille erfolgte. Heute findet der Wechsel von Lok und Lokpersonal im Bahnhof Cornavin statt, womit der Umweg über La Praille entfällt.
Die Genfer Quartiere Boissonas, La Gravière, La Jonction, Quai du Rhone und St. Jean sind so nicht mehr einem Unfallrisiko durch die Chlortransporte ausgesetzt. Mit der Einführung der Sonderzüge entfällt ebenso die frühere Doppelbefahrung zwischen Visp und Brig, da nun Visp als Endbahnhof direkt angefahren wird.
Aktuell sicherste Kesselwagen
Für den grenzüberschreitenden Gefahrguttransport gelten die Regelungen zur internationalen Beförderung gefährlicher Güter im Schienenverkehr (RID). Vorstösse aus der Schweiz haben dazu geführt, dass viele Verbesserungen an Kesselwagen, die im Rahmen der ersten Gemeinsamen Erklärung festgelegt wurden, in den Standard des RID aufgenommen wurden.
Für den Chlorimport in die Schweiz sollen aber nur noch Kesselwagen eingesetzt werden, die verglichen mit diesem Standard noch höheren Sicherheitsanforderungen genügen. Diese verfügen beispielsweise über verbesserte Puffer, die bei einem Zusammenprall die Energie besser abfangen und daher nicht bis zum Kessel des nächsten Wagens vordringen. Und für den Fall, dass das äussere Ventil des Wagens abgerissen würde, beugt ein zweites, innen liegendes Ventil einem Chlorgasaustritt vor.
Noch schwankt der Anteil der mit aktuell sichersten Waggons durchgeführten Chlorimporte und liegt unter den Erwartungen. Bis Ende 2019 sollen 75 Prozent der Chlorimporte mit den aktuell sichersten Waggons durchgeführt werden. Es wird aber noch etwas dauern, bis alle Transporte mit solchen Kesselwagen durchgeführt werden können. Dies vor allem, weil die Flotte der besonders sicheren Modelle zahlenmässig begrenzt ist und viele dieser Wagen mit langjährigen Mietverträgen an Dritte gebunden sind. Zudem sind die Produktionskapazitäten für die Nachrüstung von Kesselwagen europaweit beschränkt
Kritische Hindernisse überprüft und entfernt
Scharfkantige Objekte im Gleisumfeld können wie ein Büchsenöffner auf einen verunfallten Kesselwagen einwirken. Solche Hindernisse sind beispielsweise die Gleisversicherungen; senkrecht einbetonierte Schienenstücke am Gleisrand, die beim Schienenunterhalt früher zur Gewährleistung der korrekten Gleislage eingesetzt wurden. Dank neuen Techniken werden sie heute nicht mehr benötigt. Die SBB hat auf den kritischen Streckenabschnitten der Genferseelinie auf insgesamt 12 km diese Gleisversicherungen entfernt. Die Gefahr, dass bei einer Entgleisung Chlorgas freigesetzt wird, hat sich damit reduziert.
Längs der Strecken für Chlortransporte wurden weitere, für den Bahnbetrieb nicht notwendige Objekte der SBB oder von Dritten inventarisiert. Dazu gehören beispielsweise Zäune, ehemalige Bauten für die Bahntechnik, rückgebaute Fahrleitungsmasten oder Panzersperren. Insgesamt wurden 437 solcher Hindernisse ermittelt, die bis auf 5 der SBB gehören. Allein die Entfernung der SBB eigenen Objekte hätte schätzungsweise 6,5 Millionen Franken gekostet. Dank der reduzierten Geschwindigkeit kann eine Entgleisung der Sonderzüge aber weitgehend ausgeschlossen werden.
Zudem sind viele der ermittelten Hindernisse mehrere Meter vom Gleis entfernt und stellen bei der tieferen Fahrgeschwindigkeit kaum mehr eine Gefahr dar. Deshalb kam die Projektorganisation zur Umsetzung der Gemeinsamen Erklärung II zum Schluss, dass es unverhältnismässig wäre, zur Beseitigung dieser Objekte ein eigenes Projekt zu lancieren. Sie sollen indes fortlaufend im Rahmen der ordentlichen Fahrbahnsanierungen überprüft und entfernt werden.
Neue Wege zur Risikoverminderung werden laufend geprüft
Die Partner der Gemeinsamen Erklärung II setzen sich auch künftig dafür ein, Chlorgastransporte noch sicherer zu machen. So hatte der Schweizerische Verband der verladenden Wirtschaft VAP eine Firma beauftragt, verschiedene Entwürfe einer neuen Generation von Kesselwagen zu prüfen. Diese könnten beispielsweise mit doppelten Wänden ausgestattet sein, was die Gefahr weiter senken würde, dass bei einem Unfall die Tankwand verletzt wird. Auch kleinere oder unterteilte Tanks könnten das Risiko senken, weil so die Menge an Gas, die aus einer Tankeinheit entweichen kann, deutlich geringer wäre.
Eine Option ist auch, Chlor in Tankcontainern auf Containertragwagen zu transportieren. Der Vorteil wäre das kleinere Fassungsvermögen der einzelnen Tankeinheiten. Für die gleiche Menge müssten aber mehr Wagen transportiert werden. Wie sich das Risiko hinsichtlich Entgleisungen und Beschädigung der Tanks bei Unfällen schlussendlich verändern würde, ist deshalb noch zu prüfen.
Verursacher tragen die Kosten
In der Gemeinsamen Erklärung II wurde letztlich auch vereinbart, dass die Kosten der verstärkten Sicherheitsmassnahmen für den Chlortransport von den Verursachern, sprich der Industrie, getragen werden. Die höheren Kosten infolge der betrieblich aufwendigeren Transporte werden den Chlorbezügern direkt verrechnet. An den Kosten, die der SBB für Sicherheitsmassnahmen an der Infrastruktur entstanden sind, beteiligt sich die chemische Industrie mit 1,2 Millionen Franken.
Eine Projektorganisation unter der Federführung des BAFU konnte das Gefahrenpotenzial der Chlorgastransporte noch weiter deutlich reduzieren. BAFU-Vizedirektor Paul Steffen, der unter anderem die Abteilung Gefahrenprävention leitet, äussert sich zum Vorgehen, das zum Erfolg führte.
Was ist aus Ihrer Sicht das Bemerkenswerteste am gemeinsamen Vorgehen der Branchen und Ämter, die am Chlorgastransport beteiligt sind?
Bemerkenswert ist, dass trotz der ganz unterschiedlichen Anliegen der beteiligten Partner am runden Tisch einvernehmliche Lösungen entwickelt wurden, die sehr fortschrittlich sind. Die Einen würden lieber auf diese Transporte verzichten, und die Anderen müssten ohne diese Transporte schwerwiegende unternehmerischen Umstellungen ins Auge fassen. So ist ein typisch schweizerischer Kompromiss entstanden, der alle Anliegen vereint und die Sicherheit deutlich erhöht.
Wie wurden Ansprechpartner aus dem Ausland bei der Gefahrenreduktion des Chlorgastransports eingebunden?
Die Projektorganisation – namentlich Mitarbeitende des Bundesamtes für Verkehr, welche die Schweiz vertreten – hat die vereinbarten Massnahmen in den Gremien für die internationale Regelung der Gefahrguttransporte präsentiert. Dort sind sie allerdings auf wenig Verständnis gestossen. Ausser den Holländern haben die Vertreter der anderen Länder keinen Bedarf für weitere Sicherheitsmassnahmen für die Chlortransporte gesehen, die über den geltenden internationalen Standard hinausgehen.
Könnte das Vorgehen bei der Gefahrenreduktion von Chlorgastransport auch für andere Güter als Modell dienen?
Es ist nicht nötig, bei anderen Gefahrgütern in ähnlicher Weise vorzugehen. Entweder werden sie in wesentlich geringerem Umfang transportiert, oder ihr Schadenpotenzial ist deutlich kleiner als dasjenige der Chlortransporte. Die übrigen Gefahrenguttransporte führen nirgends auf dem ganzen Schienennetz zu untragbaren Personenrisiken.
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Letzte Änderung 02.09.2019